Stadtverkehr
Fahrgäste werden auf Berlins Straßen behindert – immer noch und immer wieder
13. Okt 2014
Die jahrzehntelang uneingeschränkt als Fortschritt gefeierte Massenmotorisierung hat bis heute ihre Spuren in unseren Städten hinterlassen. Die Straßenräume wurden – in Ost wie in West – zugunsten des fließenden Verkehrs umgestaltet, und der Autoverkehr drängte die Fußgänger und Radfahrer im wahrsten Sinn des Wortes an den Rand. Die verbreitete Stilllegung von Straßenbahnstrecken war eine weitere Folge dieser Politik.
Erst seit gut 30 Jahren wird der Aufenthaltsqualität der Straßenräume wieder mehr und mehr Bedeutung beigemessen, werden Mischverkehrsflächen konzipiert,
Fußgängerunterführungen zugeschüttet, Gitter – teilweise – beseitigt und der Zebrastreifen wiederentdeckt.
Aber Verwaltungen sind sehr zäh, und Lehrsätze, die vor Jahrzehnten an den Verkehrshochschulen in die Köpfe der Planer gehämmert wurden, halten sich in manchen Straßenverkehrsbehörden bis heute. Ein Beispiel ist das großräumige, fußgängerfeindliche Abgittern von Haltestellenbereichen und Zugängen speziell von Straßenbahnhaltestellen, das gerade in Berlin ein großes Problem für Fußgänger, Rollstuhlfahrer und Radfahrer darstellt – leider auch bei aktuellen Neuanlagen von Straßenbahnhaltestellen, wie jetzt am Invalidenpark in Berlin-Mitte zu beobachten ist. Ein anderes extrem fahrgastfeindliches Beispiel ist die Straßenbahnhaltestelle Schalkauer Straße in Berlin-Lichtenberg (siehe SIGNAL 1/2013).
Erst unlängst wurde eine massive Gitterreihe im Mittelstreifen der Sonnenallee am Bahnhof Köllnische Heide errichtet, um Fahrgäste von und zur S-Bahn an dieser Stelle zu hunderte Meter weiten Umwegen zu zwingen, desgleichen im Straßenzug Adlergestell am Bahnhof Schöneweide – hier ist im Übrigen ein „besonders gelungenes“ Beispiel für „Verkehrsentlastung und Schaffung attraktiver Stadträume durch Autobahnbau“ (A113 vor zehn Jahren) zu besichtigen: Die Fußgänger werden weiter schikaniert und zu Umwegen gezwungen, auf den versprochenen Straßenrückbau parallel zur Autobahn wurde verzichtet.
Und warum wurden die Gitter aufgestellt? Weil es an diesen Stellen ein Verkehrsbedürfnis für Fußgänger gibt, die aber dem „frei fließenden“ Autoverkehr in die Quere kommen. Und anstatt komfortable Querungsmöglichkeiten dort zu schaffen, wo ein Bedarf besteht, werden in der ideologischen Sackgasse des Senats und der Bezirksämter lieber weitere Gitterreihen errichtet.
Dass es an besonders unübersichtlichen Stellen geboten sein kann, eine Kanalisierung der Verkehrsteilnehmer anzustreben, soll nicht bestritten werden, aber warum müssen sich dann eigentlich immer Fußgänger, Rollstuhlfahrer und Radfahrer auf Umwege begeben, werden durch Gitter geschurigelt und müssen an Ampeln Lebenszeit vergeuden? Warum dauert es eigentlich an der Kreuzung Allee der Kosmonauten/Rhinstraße zwei Minuten, um einen Weg von 25 Metern zurückzulegen? Warum werden solche Ecken nicht durch sinnvolle Umbauten der Fahrbahnen entschärft, indem zum Beispiel kein mehrspuriger ungebremster Autoverkehr in Haltestellenbereichen von Bussen und Straßenbahnen zugelassen wird, dafür aber der schnelle Abgang der Fahrgäste auf ganzer Haltestellenlänge ermöglicht wird? Andere Städte machen das vor, in Berlin werden Fußgänger dagegen oft wie „einzusperrende Wilde“ behandelt.
Und deshalb werden 62 m lange Haltestellen von Straßenbahnen regelmäßig mit beidseitig über 200 Metern Gittern versehen, die vor allem bewirken, dass das Verlassen des Haltestellenbereiches sehr viel länger dauert, als nötig. Klar, dass sich Fahrgäste den Weg suchen, der sie am schnellsten an ihr Ziel bringt, speziell, wenn es sich um Alltagswege wie die zwischen Wohnung und Haltestelle handelt.
Deshalb werden an provisorischen Zuwegungen zu Haltestellen und Bahnhöfen nicht zuerst die Bordsteinkanten abgesenkt und die Wege benutzbar gemacht, sondern Gitterschläuche von mehreren hundert Metern Länge installiert, wie das am S-Bahnhof Schöneweide auf der Johannisthaler Seite geschehen ist.
Es gibt Straßenbahnbetriebe in Deutschland, die aus historischen Gründen den fahrgastfeindlichen Weg gegangen sind und sich mit Tunneln, Rampen und Gittern von den Fahrgästen abschotten und teilweise kilometerlange Barrieren in den Städten errichtet haben, beispielsweise in Hannover, Köln-Bonn, Frankfurt am Main und Stuttgart. Allerdings sind auf einigen dieser Netze die gefahrenen Geschwindigkeiten wesentlich höher als in Berlin. So fährt die Straßenbahn in Hannover praktisch ohne Ampelstopps durch die Stadt. Aber nicht einmal dieses Ziel verfolgt der Berliner Senat. Busse und Bahnen werden weiterhin benachteiligt, einmal eingerichtete Vorrangschaltungen werden wieder außer Betrieb gesetzt oder Linksabbiegespuren für die Autos werden auf Straßenbahngleisen markiert.
Die autogerechte Stadt ist in den Köpfen vieler Berliner Planer noch nicht Geschichte, sondern gelebte Gegenwart. Und das in der Stadt, die eine so geringe Motorisierungsrate hat wie keine andere deutsche Stadt. (mg)
IGEB Stadtverkehr
aus SIGNAL 5/2014 (Oktober/November 2014), Seite 11