Stadtverkehr
Der Zu- und Abgang ist bei den Haltestellen der Straßenbahn, je nach Gestaltungsform, für die Fahrgäste nicht immer risikolos. Doch trotz zahlreicher Vorkommnisse werden Haltestellenunfälle in der Berliner Polizeistatistik nicht separat erfasst. Die Betroffenen werden entweder als Fußgänger oder Fahrzeuginsassen gezählt. Dadurch ist das tatsächliche Ausmaß von Verkehrsunfällen im Zusammenhang mit Haltestellen nicht bekannt und eventuell notwendige Maßnahmen wie Umbauten, polizeiliche Schwerpunktkontrollen oder auch nur Aufklärungskampagnen unterbleiben. Gerade die Bedeutung einer Haltestelle (StVO-Zeichen 224, § 20, Bild rechts) ist vielen Verkehrsteilnehmern nicht (mehr) bekannt.
13. Okt 2014
Die Haltestelle ist durch das Zeichen 224 am Bordsteinrand gekennzeichnet. Fahrgäste warten auf dem Gehweg und müssen die Fahrbahn betreten, um das Fahrzeug zu erreichen oder zu verlassen. Die Straßenverkehrs-Ordnung (StVO) gibt in § 20 vor: „(2) Wenn Fahrgäste ein- oder aussteigen, darf rechts nur mit Schrittgeschwindigkeit und nur in einem solchen Abstand vorbeigefahren werden, dass eine Gefährdung von Fahrgästen ausgeschlossen ist. Sie dürfen auch nicht behindert werden. Wenn nötig, muss, wer ein Fahrzeug führt, warten.“ Viele Fahrzeugführer, wozu auch Rad fahrende zählen, sind damit inzwischen jedoch überfordert oder beschleunigen bewusst, um eine Straßenbahn noch schnell zu überholen.
In den meisten Fällen bleibt es bei einer gefährlichen Situation, doch die Unfälle mit Verletzten nehmen zu. Zuletzt stach hier die Haltestelle Bahnhofstraße/Seelenbinderstraße negativ hervor,
obwohl nach vorangegangenen Unfällen in Fahrtrichtung Bahnhof das Zeichen 224 zusätzlich vor der Haltestelle direkt auf die Fahrbahn markiert wurde.
Bauliche Maßnahmen in Form von überfahrbaren Haltestellenkaps, die die Situation aus Fahrgastsicht verbessern und zugleich zur Barrierefreiheit beitragen, unterblieben bisher, weil sich Autofahrer dadurch behindert fühlen könnten.
Dabei konnte mit überfahrbaren Kaps – auch über zwei Fahrspuren hinweg – in anderen Städten bereits eine deutliche Verbesserung der Sicherheit erreicht werden, da Fahrzeugführer durch die Erhöhung der Fahrbahn nicht mehr beschleunigen, um „schnell noch“ an der Bahn vorbei zu kommen. Eine Pförtnerampel kann eine zusätzliche Absicherung sein, ist aber nicht zwangsweise überall notwendig. Insbesondere dann, wenn auch die auf der Fahrbahn verkehrende Straßenbahn vor ihr halten muss, verfehlt sie ihren Zweck.
Radwege und Haltestellen bergen ein grundsätzliches Konfliktpotenzial. Dabei wirken die verschiedenen Bauweisen unterschiedlich. Straßenbündig geführt können Busse an den Haltestellen links überholt werden. Mit Ein- und Aussteigern gibt es dabei zwar keine Konflikte, doch besteht immer die Gefahr, dass eine Person vor dem Bus die Straße überqueren will. Bei der Straßenbahn lässt sich eine solche Führung wegen der Sturzgefahr durch die Schienen nicht realisieren. Hier hat sich die Führung über das Haltestellenkap als beste Lösung erwiesen. Der Radweg wird hierbei geradlinig zwischen Wartebereich und Bordsteinkante geführt, wodurch die Gleise keine Gefahr mehr darstellen. Zudem ist der gesamte Haltestellenbereich gut einsehbar. Konflikte entstehen bei dieser Lösung einerseits durch Fahrgäste, die auf dem Radweg oder an der Kante warten, sowie andererseits durch ungeduldige Radfahrer, die sich entgegen § 20 (2) StVO ihren Weg durch den Fahrgastwechsel bahnen.
Die Versuchung ist daher groß, die Radfahrer „hinter“ die Haltestelle zu verbannen, wie es leider auch bei Neubauten (Haltestellen Bernhard-Bästlein-Straße, Invalidenpark) noch geschieht. Diese vermeintlich sicherere Verkehrsführung sorgt für eine relativ freie Fahrt für Radfahrer. Die gefahrene Geschwindigkeit ist damit deutlich höher. Mitten auf dem Bürgersteig ist aber die Gefahr größer, dass ein Fußgänger den Radweg kreuzt. Besonders problematisch sind hierbei die Haltestellenhäuschen, hinter denen der Radweg entlang führt. Durch die in Fahrtrichtung am Ende angebrachte Werbefläche entsteht ein fataler toter Winkel, der dazu führt, dass Radfahrer die dahinter stehenden oder gehenden Personen nicht sehen können und dass ausgestiegene Fahrgäste nicht erkennen können, ob sich ein Fahrrad nähert. Direkt am Ende des Wartehäuschens ist daher die Unfallgefahr am Größten. Auch in diesem Fall sind Radfahrer eigentlich gemäß § 20 (2) StVO wartepflichtig. Im Gegensatz zur Kapführung ist dies jedoch nicht offensichtlich und damit meist unbekannt. Besonders problematisch ist die Führung „hinten herum“, wenn der Radweg dafür mehrere Schlenker vollführt. Ein besonders schlechtes Beispiel dafür ist die Haltestelle U-Bf Eberswalder Str./Pappelallee der Straßenbahnlinie 12, denn sie wird nicht angenommen.
Die Straßenbahn kann ihre Vorteile besonders da ausspielen, wo sie auf eigenem Gleiskörper unterwegs ist. Dabei fährt sie jedoch auch besonders schnell und die Fahrgäste müssen meist Fahrbahnen, aber auch Gleise queren. Besonders problematisch sind jene Haltestellen, bei denen noch kein zweiter Zugang nachgerüstet wurde. Traurige Berühmtheit erlangte inzwischen die Haltestelle am S-Bahnhof Greifswalder Straße, an der es in den letzten Jahren mehrfach tödliche Unfälle gab, weil viele Umsteiger lieber durch das Gleisbett und über das Geländer klettern, als den dunklen versüfften Fußgängertunnel oder die Ampel am anderen Ende der Haltestelle zu nutzen. Durch die Brückenpfeiler ist jedoch der Blick auf die stadtauswärts fahrenden Züge eingeschränkt. Das Problem ist durch die provisorische Verlegung der Haltestelle zwar vorübergehend gelöst, hat dafür aber Zwangspunkte im Fahrzeugeinsatz gesetzt.
Weniger gefährlich, aber ebenso umsteigerfeindlich ist die Situation am S-Bahnhof Friedrichsfelde Ost. Dort wurde zwar ein neuer Bahnhofszugang am westlichen Bahnsteigende geschaffen, der direkt auf die Brücke führt. Der direkte Zugang zur Straßenbahnhaltestelle ist jedoch weiterhin durch ein Geländer abgesperrt. Wie an der Greifswalder Straße, lässt die „große Lösung“ noch auf sich warten.
Leider muss die noch im Bau befindliche Haltestelle Invalidenpark erneut als schlechtes Beispiel herhalten (s. Seite 11). Freies Linksabbiegen für freie Ministerialbeamte in den Schwarzen Weg zu ihren Dienststellen ist offensichtlich wichtiger, als eine direkte Fußgängerfurt von der Haltestelleninsel zum südlichen Trottoir in Richtung Charité. Geländer auf beiden Straßenseiten sollen die einmalige Querung der Straße unterbinden und die Fahrgäste stattdessen zur Querung von vier Furten oder Nutzung des westlichen Zugangs zwingen. Wichtigstes Dogma der Senatsplanung war bekanntlich die durchgehende Vierspurigkeit der Invalidenstraße.
Aber auch vorhandene Zugänge sind kein Garant für Sicherheit. Besonders trügerisch sind ampelgesicherte Zugänge an breiten Straßen, wo die Ampelsicherung über zwei Fahrbahnen und die mittig liegenden Gleise erfolgt. Denn „Grünes Licht“ über beide Fahrbahnen bedeutet nicht, dass die Gleise passierbar sind. Das „Rot“ in der Mitte wird im Mast- und Lichterwald jedoch schnell übersehen, wenn vorn und hinten „Grün“ ist. Beispiel hierfür ist die Haltestelle Spandauer Straße/Marienkirche, an der es täglich zu Beinaheunfällen kommt. Im Minutentakt ertönt die Warnglocke der Straßenbahnen, die für viele Fußgänger völlig unerwartet abbiegt.
Doch während an Fußgängerampeln derzeit blinkende grüne oder rote Lichter und die Anzeige der Wartedauer erprobt werden, lassen Tests zur Absicherung einer Gleisquerung bisher auf sich warten. In anderen Städten werden sogenannte Springlichter eingesetzt, die aus zwei wechselblinkenden Lichtern bestehen und, auf Augenhöhe angebracht, für Aufmerksamkeit sorgen sollen. Auch in den Boden eingelassene LED-Leisten können die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Neben der Spandauer Straße in Mitte bietet sich auch die unfallbelastete Strecke auf der Osloer und Seestraße im Wedding für eine solche Ausrüstung an.
Unfälle an Haltestellen erhalten derzeit nicht die notwendige Aufmerksamkeit, um eine nachhaltige Erhöhung der Fahrgastsicherheit zu erreichen. Neben einer medial begleiteten Aufklärungskampagne zum richtigen Verhalten an Haltestellen sind Schwerpunktkontrollen durch die Polizei notwendig. Kurzfristig kann die Sicherheit durch Fahrbahnmarkierungen und zusätzliche Verkehrszeichen verbessert werden – insbesondere bei Straßenbahnhaltestellen auf mehrspurigen Straßen. Mittel- und langfristig muss es das Ziel sein, den Haltestellenbereich durch bauliche Maßnahmen klar abzugrenzen, überall einen stufenfreien Einstieg ins Fahrzeug zu ermöglichen, Falschparker fernzuhalten und kurze Zugangswege durch den sparsamen Umgang mit Gittern und Gleisquerungen an beiden Haltestellenenden zu ermöglichen. (ge)
IGEB Stadtverkehr
aus SIGNAL 5/2014 (Oktober/November 2014), Seite 12-13