Stadtverkehr

Zu geringe Kapazität?
Die Straßenbahn wird unterschätzt!

Das System Straßenbahn begegnet auch heute noch, im angeblich postfossilen Zeitalter, einer Vielzahl von Vorurteilen. Insbesondere die hohe Leistungsfähigkeit moderner Straßenbahn-Systeme wird von vielen Menschen nicht erkannt. Leider gilt dies auch immer wieder für die politisch Verantwortlichen. So begründet etwa der Hamburger Senat seine umfangreichen Pläne zum Ausbau des U-Bahn-Netzes unter anderem mit einer zu geringen Kapazität der Straßenbahn. Erfahrungen aus anderen Städten widerlegen aber diese Annahme.


IGEB Stadtverkehr

5. Feb 2015

Fahrgäste der U 3 in Berlin werden dies kennen: Übervolle Züge zwischen Heidelberger Platz und Thielplatz. Kein Wunder, setzt die BVG doch auf dieser Linie immer wieder Züge mit nur vier Wagen ein. Bestünde die Lösung nun darin, die U 3 zur Großprofil-U-Bahn oder zur S-Bahn-Strecke auszubauen? Sicher nicht! Zu recht würde man einwenden, dass eher die Kapazitäten des vorhandenen U-Bahn-Systems auszunutzen wären, sprich: regelmäßig Sechs- oder Acht-Wagen-Züge einzusetzen.

Wäre die U 3 jedoch eine Straßenbahn-Strecke, würden viele Menschen sofort nach einem Ersatz durch eine U-Bahn rufen, ohne an die Möglichkeiten zu denken, die

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ein Straßenbahn-System bietet. Diese Verhaltensweise lässt sich etwa regelmäßig beobachten, wenn es um die vollen Züge auf der Berliner Straßenbahnlinie M 4 geht.

Welche Potenziale indessen zeitgemäße Straßenbahn-Systeme bieten, kann man in anderen Ländern nachvollziehen. Einige der modernen Straßenbahnbetriebe Frankreichs vermögen täglich Nachfragen zu bewältigen, die für viele Menschen in Deutschland unvorstellbar klingen.

Der Straßenbahn in Montpellier beispielsweise gelingt es täglich, auf der Linie 1 bei einem Fünf-Minuten-Takt über 130 000 Fahrgäste zu befördern. Die Straßburger Elektrische kommt mit der Linie A diesem Wert nahe und erreichte bei Veranstaltungen an einem Tag sogar 180 000 Fahrgäste!

Hohe Beförderungsleistungen sind auch von Straßenbahn-Systemen jenseits des Ärmelkanals bekannt: Die Tram Dublin (Luas) konnte bereits bis zu 145 000 Fahrgäste befördern, wenn auch auf zwei separaten Linien.

Dabei ist zu betonen, dass die in Montpellier eingesetzten Citadis-Straßenbahnen maximal 43,70 Meter lang sind, in Straßburg kommen bis zu 45,06 Meter lange Züge zum Einsatz. Bekanntlich dürfen Straßenbahnen, jedenfalls in Deutschland, auch noch länger sein. Beförderungszahlen von pro Tag 130 000 Fahrgästen könnten hier also noch überboten werden.

Demgegenüber nimmt sich die Nachfrage der Hamburger Metrobus-Linie 5 mit rund 60 000 Fahrgästen pro Tag geradezu bescheiden aus. Selbst eine Verdoppelung dieser Zahl würde ein Straßenbahn-System noch längst nicht an seine Kapazitätsgrenzen bringen.

60 000 Fahrgäste täglich überfordern die Hamburger Metrobus-Linie 5, wären aber für die Straßenbahn kein Problem. Doch nach seinem Wahlsieg 2011 stoppte Olaf Scholz das weit fortgeschrittene Projekt. Abb.: SIGNAL 3/2010

Noch viel weniger ließen sich neue U-Bahn-Bauprojekte in Berlin mit der hohen Beförderungskapazität von U-Bahn-Zügen begründen. Ernsthafte Diskussionen über eine Verlängerung der U 1 Richtung Ostkreuz und Westkreuz wären erst dann gerechtfertigt, wenn auf der Stadtbahn sowohl die S-Bahn als auch die Regionalbahnen an ihre Leistungsgrenzen stoßen würden. Hiervon kann aber bis auf weiteres nicht ausgegangen werden, schon gar nicht am westlichen Streckenende der U 1. Allenfalls könnte in Erwägung gezogen werden, für eine zu verlängernde U 1 eine Trasse freizuhalten. Selbst auf dem Abschnitt von Uhlandstraße bis Adenauerplatz – wo Teile der BVG eine Verlängerung der U 1 für sinnvoll erachten – sind die Busse M 19 und M 29 nicht so überfüllt, dass man in den Untergrund gehen müsste. Anstelle einer punktuellen Verlängerung der U 1 wäre hier sehr viel eher die Straßenbahn zu favorisieren, insbesondere auch für die weitergehende Erschließung der Ortsteile Grunewald und Schmargendorf (Roseneck). Das Gleiche gilt für das Märkische Viertel, wo eine Erschließung per Bus/Straßenbahn nicht nur kostengünstiger wäre, sondern auch den Verkehrsströmen (Tegel, Kurt-Schumacher-Platz, Jungfernheide, Pankow) weitaus besser entspräche. Bei einer Einwohnerzahl von weniger als 40 000 ließe sich auch hier eine U-Bahn (U 8-Verlängerung) nicht mit dem Argument der Beförderungskapazität rechtfertigen.

Bekanntlich sind die finanziellen Ressourcen sowohl für den Bau als auch den Betrieb von Schienenbahnen deutschlandweit begrenzt. Mit hoher Wahrscheinlichkeit werden die Bundesmittel nach Auslaufen des Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzes ab 2019 auch für die Sanierung vorhandener (Tunnel-)Bahnen verwendet werden müssen – insbesondere im Ruhrgebiet. Vor dem Hintergrund der knappen Mittel und des Sanierungsstaus im Bereich des ÖPNV erscheint es nicht hilfreich, wenn jetzt Städte wie Hamburg, München und Berlin mit zweifelhaften Ideen für weitere U-Bahn-Bauten auffallen, ohne die Notwendigkeiten und die Alternativen hinreichend zu berücksichtigen. Vor allem wegen ihrer hohen Beförderungsleistung bei vergleichsweise niedrigen Investitions- und Betriebskosten dürfte der Straßenbahn im Zweifelsfall regelmäßig der Vorzug zu geben sein. (hjb)

IGEB Stadtverkehr

aus SIGNAL 1/2015 (Februar/März 2015), Seite 16