Reise & Bericht
Die Zeitreise führt in die Jahre 1928/29. Ein junger russischer Ingenieur, wirkt beim Bau der Berliner U-Bahn mit. Das deutsche Unternehmen gewährt ihm bereitwillig Einblick in alle Unterlagen. Es verspricht sich ein lukratives Geschäft und einen Sieg über die französische Konkurrenz, falls es die Konzession für den Bau der Moskauer Untergrundbahn bekommen sollte. Nachstehend einige Passagen des Romans:
1. Nov 1998
(... Mai 1928) Inzwischen habe ich meine Illusionen über die Berliner U-Bahn verloren. Nachdem der Automat den Fahrschein ausgeworfen hatte, den ich von beiden Seiten betrachtete und dann an Alice ("Nehmen Sie ihn, ich verliere ihn nur") weitergab, widmete ich mich der Erkundung des Bahnsteigs. Er strahlte in makelloser Reinheit, wie eine deutsche Küche. Milchige Lampen hingen an der Decke aufgereiht, marschierten wie Soldaten der Reichswehr aus der Tiefe der Halle zwischen achteckigen, gekachelten Säulen und Feldern. An den Wänden, an farbig abgesetzten Stellen, hingen Plakate mit purzelbaumschlagenden Clowns, Tänzerinnen, Köchen mit lächerlichen Mützen und einer beinlosen, runden Figur. Unter der Decke hing an einer silbernen Kette ein riesiger roter Bleistift, auf dem "Faber" stand ... Also, woher kam meine Ernüchterung? Ja, die U-Bahn war mir immer viel majestätischer und grandioser erschienen, als sie tatsächlich war. Was soll ich machen? Nur was man mit eigenen Augen gesehen hat, ist real.
Alice nahm die Fahrkarte nicht. "Mit diesem Fahrschein", erklärte sie, "können Sie überall hin fahren. Ich fahre nur eine Station. Ich muß ganz schnell in die Fabrik".
Die verschiedenenfarbigen Gummiwülste der anhaltenden Waggons schmatzten wie Uppen. Hinter uns schloß sich die Tür von selbst. Nur noch eine Sekunde war hinter den Fenstern der rote Bleistift der Marke "Faber" zu sehen. Danach huschten nurnoch die grauen Wände des Tunnels vorbei.
( ... Juni 1928) In Moskau gibt es beim Kasaner Bahnhof einen steinernen Viadukt, der über den Kalantschoskaja-Platz führt. Du fährst mit der Tram und siehst über dir auf dem Viadukt ein grünes Band von Wagen, aus deren geöffneten Fenstern neugierige Köpfe schauen. Dann hörst du, ob du willst oder nicht, das eiserne Brausen über den Köpfen und beginnst über städtische Hochbahnen nachzudenken. Ich dachte immer wieder an diesen Viadukt, wenn ich in den elektrischen Wagen auf den hochgelegten Streckenabschnitten der U-Bahn, die zwischen den Tunnels lagen, fuhr. Das ist ein Anachronismus. Man baut keine oberirdischen Strecken mehr in Berlin. Sie sind unpraktisch, stören den Straßenverkehr und machen Lärm. Nun zieht man es vor, ins Innere der Erde vorzustoßen. Wie ein Chirurg schneidet man den Bauch auf und holt die Innereien heraus.
Der Professor der Chirurgie ist hier der Ingenieur Berg. Der Student, der bewundernd die geschickte Arbeit der Hände des Professors beobachtet, ist niemand anderes als ich. Ich gehe hinter einer Plattform her, die auf Schienen fährt und auf der ein riesiges metallenes Dreieck in den Himmel ragt. Die Plattform bewegt sich einige Meter, hält an und mit einem traurig pfeifenden Geräusch senkt sich von oben ein schweres Stahlelement herab. "Uhhsii", sagt das Stahlelement. Ein senkrechter eiserner Pfeiler, der bei der Plattform in den Boden eingelassen wird, verschwindet in der Erde. Ein Arbeiter, der auf einem Brett steht, das im Himmel zwischen der Basis und der Spitze des Dreiecks hängt, schreit etwas. Berg steht und sagt: "Sicher, das ist der unangenehmste Teil unserer Arbeit Man muß erst die Pfähle einrammen und die Bohlenwände aufbauen. Nur unter ihrem Schutz können wir die Gräben ausheben. Andernfalls würden wir stören, und man würde uns behindern."
Ich schreibe rasch einige Zahlen in mein Notizbuch. Berg schaut mir über die Schultern und sagt scherzend: "Sie irren, lieber Kollege. Hier besteht die Oberfläche nicht aus Ton, sondern aus Sand. Die Rechnung muß anders sein." Ich werde rot und streiche durch, was ich geschrieben habe.
Seit dem Tag, an dem der Direktor der Baufirma, nachdem er mich aufmerksam in seinem Büro angehört hatte, einen Brief an Ingenieur Berg geschrieben hatte, kümmerte er sich sehr aufmerksam um mich. Ich konnte mich nicht über mangelnde Aufmerksamkeit beklagen. Berg zeigt mir alle Skizzen, Pläne, Berechnungen und die Finanzierung. Er ermöglichte es mir, mich mit der Geschichte der U-Bahn in Berlin und den ersten Ideen zu beschäftigen. Er erklärte mir alles, wenn mir bei der einen oder anderen Einzelheit etwas unverständlich war.
Nun gehe ich hinter dem stählernen Dreieck durch eine endlose Reihe von den Boden versenkten Pfeilern, gehe im SchcR der Bohlenwände und lehne mich, als ich mit den Füßen im weichen Boden versinke, an die Wand der weiten Höhle. Aus ihr dringt der Duft eines frischgepflügten Feldes. Seltsame Gedankenverbindungen kommen mir in den Sinn. Vor meinen Augen erscheinen Furchen in schwarzer Erde und ein Pferdchen, das unwillig einen Pflug zieht. Berg kommt heran ...
... Nun gehen wir den dunklen Gang des künftigen Tunnels hinunter. Entlang der niedrigen weißen Mauern steht eine endlose Reihe von hölzernen Stützen. In ihnen liegen Bretter. Auf den Brettern stehen Arbeiter in Segeltuchjacken. Sie arbeiten an der Isolierung der Wände. Durch die offene Decke strahlt die Sonne. Vermutlich ist es hier im Winter nicht so schön", sage ich. "Macht nichts", lacht Berg, "die Arbeiter müssen mit jedem Wetter zurechtkommen, wenn sie ihren Lohn haben wollen."
Ich sehe ihn erschreckt an. "Unter diesem Gesichtspunkt ist die Pariser Bauweise zweifellos vorteilhafter, da man unter der Erde und nicht unter freiem Himmel arbeitet Besonders unter den Moskauer Verhältnissen", füge ich hinzu.
Berg schaut unzufrieden. Ich werfe einen Blick in ein enges, helles Loch am Ende des Tunnels. Hier liegen stählerne Schienen und gleiten hunderte elektrische Wagen vorbei. Auf dem Gehsteig erscheinen Gitter, wie man sie zum Abdecken der Kanalisation benutzt. Daraus dringt ein Brausen wie aus der Hölle an die Oberfläche ...
Berg will mich wahrscheinlich aufziehen. Jede Bagatelle erscheint mir ungeheuer wichtig. Mit weit aufgerissenen Augen und voller Aufmerksamkeit nehme ich die Erklärung des kleinsten Details auf. Aber Berg weiß, was er tut. Je überzeugender er dem sowjetischen Ingenieur die Vorteile der Berliner Bauweise demonstrieren kann, desto sicherer wird es, daß sein Unternehmen die Konzession für den Bau der Moskauer Metro bekommt. Täuschen Sie sich deicht, Herr Berg?
Einmal sind wir bei den Gesprächen auf ein anderes Thema gekommen. Ich wurde dann aufmerksamer. Berg ist nicht nur ein erfahrener Gesprächspartner. Er ist gebildet, versteht die politischen Probleme. Seine politischen Positionen? Sagte er nicht einmal, er glaube nicht an den sowjetischen Sozialismus? "Die UdSSR wird aufgrund der internationalen Widersprüche untergehen. Der Bauer wird dem Arbeiter an den Kragen gehen ... Aber warum ... bekämpfen Sie die Religion? Damit machen Sie sich nur die Landbevölkerung zum Feind!"
Sicher, Berg ist Mitglied der Sozialdemokratischen Partei! Er möchte nicht, daß die Kapitalisten die Bolschewiki daran hindern, ihr Experiment durchzuführen. Den Sozialismus bauen sie sicher nicht auf, aber Berg zieht daraus nicht den Schluß, daß man intervenieren solle.
(.. Februar 1929) Ich weiß nicht, wielange ich nicht mehr zur Feder gegriffen habe. Ehrend der letzten Monate hatte ich eine Menge Arbeit beim Bau der U-Bahn. Berg meint, daß meine Aufgabe nun erfüllt sei. Aber das paßt mir nicht. Gestern hat er zu mir gesagt: "Sie haben sich jetzt mit eigenen Augen davon überzeugen können, daß wir billiger bauen als die Franzosen." "Ungefähr eineinhalb Millionen Rubel. Aber ..."
Mein "Aber" ärgerte ihn: "Was heißt hier 'aber?'"
Ich blicke auf den aufgerissenen Gehweg, auf den aufgeworfenen feuchten Aushub, auf die schweren Loren, die an den hölzernen Bohlenwänden entlangfuhren. Berg hatte einen Regenmantel an. Der Mantel war naß, aber der Anzug darunter blieb trocken. Das konnte man von den Arbeitern nicht sagen. Wir gingen auf dem Fundament des künftigen Tunnels, und der Regen strömte ungehindert aus dem grauen Himmel durch die Zwischenräume der Querstreben herunter. Ich stellte mir vor, wie es in Moskau während der Winterkälte sein würde. Tatsache, das wäre nicht zweckmäßig. Aber bei der Pariser Bauweise würde man nur an zwei oder drei Stellen in der Mjasnizka Schächte ausheben. Von dort aus könnte man von beheizten Gängen aus mit dem Angriff auf den Untergrund beginnen. Außerdem hat die Pariser Metro weite, hohe Gewölbe, während hier alles niedrig und gedrückt ist.
Berg nennt mich einen Philanthropen: "Das sozialistische Vaterland! Sorge um die Arbeit! Dafür wollen Sie einige Millionen verschwenden?" Ich mag nicht darüber mit ihm streiten.
( ... Februar 1929) Beim Bau der U-Bahn gibt es wieder Schwierigkeiten. Der kürzlich ausgebrochene Streik ist beendet, doch das Unternehmen hat nachgeben müssen. Aber Berg hat sich offensichtlich nur für einen neuen Angriff zurückgezogen. In der letzten Zeit war er seltsam unfreundlich und aggressiv gegenüber den Arbeitern. Wenn das so weitergeht, wird ein Sturm über uns hereinbrechen.
( ...März 1929) Heute stellten wir um 12 Uhr die Arbeiten am Bau der neuen U- Bahn ein. Zwei Tage zuvor hatte Berg drei Arbeiter hinausgeworfen, die gegen die neue Arbeitsordnung protestiert hatten. Das tut seine Wirkung. Gestern morgen herrschte unter den Bauarbeitern Aufregung. Am Abend schloß die Polizei das Büro der linken Gewerkschaft der Bauarbeiter und versiegelte es.
Und heute ist die Gegend voll von Polizisten mit Schutzhelmen in voller Bewaffnung. Berg erklärte, daß er keinen Schritt zurückweichen werde ...
Warankin ist fasziniert von der glitzernden Welt der Metropole am Ende der 20er Jahre. Gleichzeitig gehört sein Herz der Kommunistischen Weltbewegung. Sein Ideal sind die aufrechten, sauberen, durch Sport gestählten Arbeiter, die eine neue Welt aufbauen werden. Sie stehen in krassem Gegensatz zu den korrupten und intriganten Vorgesetzten in seiner Moskauer Dienststelle, die erst jahrelang den verkehrstechnisch notwendigen Bau der Metro verschleppt haben und dann bei der Vergabe der Konzession an eine ausländische Firma “absahnen” wollen. Als einflußreiche Parteifunktionäre gelingt es ihnen, ihre Kritiker unter dem Vorwand ideologischer Abweichung auszuschalten. Warankin hat den unseligen Einfluß Stalins auf die deutschen und die sowjetischen Kommunisten klar erkannt und zu einem spannenden Roman verarbeitet.
Der sowjetische Ingenieur muß im April 1929 Berlin verlassen und fährt mit dem Dampfer “Preußen” von Stettin nach Leningrad.
Die harte Frostperiode des Winters 1928/29, ein Streik der Bauarbeiter und Finanzschwierigkeiten zwingen zur vorübergehenden Einstellung der U-Bahn-Bauarbeiten. Aber das Unternehmen ist sich sicher, die Konzession für Moskau in der Tasche zu haben und braucht den aufmüpfigen sowjetischen Ingenieur nicht mehr.
Die Linie D geht am 10. April 1930 zwischen Neanderstraße (heute Heinrich-Heine-Straße) und Gesundbrunnen und die Linie E am 21. Dezember 1930 zwischen Alexanderplatz und Friedrichsfelde in Betrieb.
Inwieweit Warankin auf eigene Erlebnisse zurückgreifen konnte, was er mit eigenen Augen gesehehen hat und wo er sich auf Berichte anderer stützt, ist schwer zu sagen, da nach seiner Hinrichtung alle Aufzeinungen vernichtet wurden. Einige charakistische Ungenauigkeiten lassen vermuten, daß er mehr aus der Erinnerung als aus Archiven geschöpft hat.
Roland Schnell, Berlin-Friedrichshain
aus SIGNAL 8-09/1998 (November 1998), Seite 30-32