Tarife
Hohe Hürden bei den Tarifen für finanzschwache Familien
Jedes dritte Kind in Berlin lebt in einem Haushalt, der auf weitere Hilfen vom Staat wie zum Beispiel ALG2 (Hartz IV), Wohngeld oder Kinderzuschlag angewiesen ist. Für Kinder dieser Familien werden besondere Fahrausweise angeboten: Zum einen der „Familienpass“, zum anderen das „ermäßigte Schülerticket“. Beide Tarife sind jedoch an hohe bürokratische Hürden gebunden. Im Folgenden wollen wir diese vorstellen.
6. Jan 2016
Stellen Sie sich vor, ein weiteres Familienmitglied kommt zur Welt oder Sie oder Ihr Partner verlieren den Job. Oder aber durch einen Umzug zahlen Sie mehr Miete. In all diesen Fällen kann es passieren, dass Sie nun Anrecht auf Wohngeld, Kinderzuschlag oder Hartz IV haben, da sich der Bedarf erhöht oder das Einkommen verringert hat. In all diesen Fällen erhalten Sie theoretisch die Möglichkeit, für Ihr Kind statt des normalen Schülertickets (im Abo für monatlich 22,08 Euro) das ermäßigte Schülerticket (im Abo für monatlich 12,08 Euro) zu erwerben. Theoretisch. Praktisch läuft das aber wie folgt ab, hier am Beispiel eines Beziehers von Kinderzuschlag. Kinderzuschlag erhalten zum Beispiel Familien, die zwar werktätig sind, deren Einkommen jedoch knapp unter dem Hartz-IV-Bedarf liegt.
Sei der Januar der Monat, in dem erstmals Anspruch besteht. Sie können dann frühestens im Dezember den Antrag bei der Familienkasse stellen. Wenn das schnell geht,
haben Sie Ende Januar bereits den Bescheid im Briefkasten. Im Bescheid für den Kinderzuschlag ist das erste Puzzleteil: Ein Bescheid zur Vorlage beim Wohngeldamt zur Beantragung des „Bildung-und-Teilhabe-Pakets”.
Angenommen, Sie lassen den nicht so lange zu Hause liegen und beantragen Anfang Februar beim Wohngeldamt das Bildungs- und Teilhabe-Paket. Dann haben Sie, falls das auch wieder schnell geht, ungefähr Anfang März den Brief vom Wohngeldamt und damit das nächste Puzzlestück im Briefkasten: Eine Bescheinigung, dass Sie berechtigt sind, vom Bürgeramt einen Berlinpass ausgestellt zu bekommen.
Mit diesem neuen Brief wird es dann gerade für Werktätige schwierig: Sie müssen nun bei einem Bürgeramt persönlich erscheinen, denn das können Sie nicht mehr schriftlich erledigen. Nachdem Sie am Tresen der Dame erklärt haben, dass dies auch ohne Termin möglich ist und Sie zur Bearbeiterin vorgelassen wurden und Sie selbstverständlich daran gedacht haben, ein Passfoto und Ihren Personalausweis mitzunehmen, haben Sie nun das nächste Puzzlestück in der Tasche: Eine kleine Pappkarte mit Hologramm – den sogenannten „Berlinpass“.
Nun müssen sie als nächstes das Abo des Schülertickets von „normal“ auf „ermäßigt“ umstellen. Leider ist nun aber bereits der 11. März. Sie können also frühestens zum Mai das Abo umstellen, da Aboanträge nur bis zum 10. des Vormonats geändert werden können. Bei nächster Gelegenheit begeben Sie sich nun zu einem Fahrkartenschalter, doch da geht nicht irgendeine Agentur, es muss schon ein „echter“ sein, der Aboantragsänderungen durchführen kann.
Nicht vergessen, hier mitzubringen:
Da Sie ja für die Monate Januar bis April je 10 Euro zu viel gezahlt haben, können Sie nun nochmals einen Antrag beim Wohngeldamt stellen, um sich die insgesamt 40 Euro erstatten zu lassen. Nicht aufgeben, das funktioniert! Darauf haben Sie Anrecht.
Herzlichen Glückwunsch. Gegen Ende April werden Sie nun neue Wertabschnitte im Briefkasten finden und es wird im Mai ein um 10 Euro geringerer Betrag pro Monat abgebucht.
Doch Achtung, der Bescheid aus Schritt 1. gilt nur für 6 Monate, das heißt in unserem Beispiel vom Januar bis Juni. Das heißt, auch der Berlinpass wurde Ihnen nur bis einschließlich Juni ausgestellt. Der Berlinpass ist jedoch Vorraussetzung für die Gültigkeit des ermäßigten Schülertickets.
Wenn Sie also vermeiden wollen, dass ihr Kind ab Juli schwarzfährt, müssen Sie nun also spätestens am 10. Juni wieder zu einer Fahrkartenausgabe und Schritt 4 durchführen. Dieses Mal stellen Sie das Abo um vom ermäßigten Schülerticket auf das normale Schülerticket.
Und vergessen Sie nicht, alle im April zugesandten neuen Wertabschnitte wieder mitzubringen, um sie wieder abzugeben.
Anschließend führen Sie nun die Schritte 1 bis 3 durch. Haben Sie damit Erfolg, können Sie anschließend wieder im Schritt 4 den Aboantrag ändern und mit Schritt 5 zu viel gezahltes Geld zurückfordern!
Die Schritte 1 bis 3 sowie 5 müssen sie zweimal jährlich ausführen. Den Aboantrag ändern, also Schritt 4, müssen sie dagegen viermal im Jahr durchführen. Außerdem erhalten Sie nur dann das Recht, das ermäßigte Schülerticket zu kaufen, wenn die Entfernung zwischen Wohnort und Schule bei Grundschülern mehr als 1 km und bei Oberschülern mehr als 2 km beträgt.
Ihr Kind besucht zweimal wöchentlich Verein oder Musikschule, aber die Schule liegt dicht am Wohnort? Trotzdem Pech gehabt.
Ein Austausch mit Betroffenen ergab, dass viele Eltern den immensen Aufwand zumindest teilweise reduzieren und statt des viermaligen Änderns des Abovertrages nebst Rückforderung zu viel gezahlter Gelder den ermäßigten Abovertrag einfach laufen lassen. Dies bedeutet allerdings, dass die Kinder in der Zeit, in der sie mit abgelaufenem Berlinpass herumfahren, ohne gültigen Fahrschein fahren! Eine unangenehme Situation für Kind und Kontrolleur.
Mit dem Familienpass können Eltern, die eine gültige Fahrkarte haben, im Bereich Berlin AB ein Kind zusätzlich mitnehmen. Vorraussetzung ist, dass das Kind einen BerlinPass hat.
Um diesen zu erhalten, verweisen wir auf die Schritte 1 bis 3 weiter oben in diesem Artikel. Der Familienpass gilt wochentags erst ab 9 Uhr. Er muss einmal jährlich für 6 Euro gekauft werden sowie zusätzlich ein monatlicher Wertabschnitt für 6,50 Euro. Der Familienpass gilt nur bei BVG und S-Bahn. Eine Kombination mit dem Anschlussfahrausweis C ist nicht möglich.
Fraglich ist, welche Zielgruppe hiermit überhaupt erreicht wird. Es gibt, sofern die Eltern nicht ohnehin eine Umweltkarte haben, nur am Wochenende eine sinnvolle Anwendung. Ein echtes Nischenprodukt.
Für einkommensschwache Familien bietet das ermäßigte Schülerticket ein attraktives Angebot für die Nutzung von Bus und Bahn in Berlin. Die bürokratischen Hürden, um es zu erwerben, sind jedoch viel zu hoch und mit zu viel Schriftverkehr und Behördengängen verbunden.
Eine zumindest etwas einfachere Lösung wäre es, analog zur Praxis mit den Zuschüssen zum Vereinbesuch, dass den Eltern die Ersparnis von 10 Euro je Monat direkt ausgezahlt wird – bzw. dem Verein bzw. dem Verkehrsunternehmen.
Doch das allein reicht nicht. Offensichtlich um Missbrauch auszuschließen, sind die jetzigen Regelungen so kompliziert, dass gerade viele der besonders bedürftigen Menschen damit Schwierigkeiten haben. Hier besteht dringender Reformbedarf.
Berliner Fahrgastverband IGEB
aus SIGNAL 6/2015 (Dezember 2015/Januar 2016), Seite 21-22