Berlins Verbindung mit dem Osten
Am 23. Oktober 2017 jährte sich zum 175. Mal die Eröffnung der Berlin-Frankfurter Bahn und damit auch des Ostbahnhofs – der einzigen Berliner Station aus den Anfängen des Eisenbahnzeitalters, die noch immer in Betrieb ist. Mit der 1846 fertiggestellten Fortsetzung der Frankfurter Bahn nach Schlesien wurde sie schnell zu Berlins wichtigster Lebensader aus dem Osten. Bis Frankfurt (Oder) hat die Strecke bis heute ihre Bedeutung behalten, im Gegensatz zur Schlesischen Bahn. Generell sind die Bahnverbindungen mit Polen stark verbesserungsbedürftig.
26. Dez 2017
Ob August Borsig, Adolph von Menzel, Alfred Kerr, Hans Baluschek, Boleslaw Barlog oder Wolfgang Neuss: Sie alle bestätigten das einst geflügelte Wort, demzufolge die echten Berliner aus Breslau kämen. Viele von ihnen werden aus der schlesischen Metropole per Bahn in die preußische, dann deutsche Hauptstadt gelangt sein. Für deren Entwicklung besaß der damalige deutsche Osten große Bedeutung.
Welch Orientierungs-, wenn nicht gar Anziehungspunkt Berlin war, zeigt auch der Umstand, dass die erste Anregung zum Bau einer Schienenverbindung mit Frankfurt (Oder) von dort ausging. Und zwar schon 1833, also fünf Jahre vor der Eröffnung der ersten preußischen Eisenbahn zwischen Berlin und Potsdam. Frankfurt (Oder) hatte damals noch einen Rang als Messestadt und man befürchtete dort, ohne Gleisanschluss gegenüber dem großen Konkurrenten Leipzig ins Hintertreffen zu geraten. Die Baugenehmigung für die Berlin-Frankfurter Eisenbahn erfolgte dann 1840, die Eröffnung am 23. Oktober 1842 – so schnell konnten in Deutschland einst Bahnprojekte realisiert werden.
Nach der 1841 bis Jüterbog eröffneten Anhalter Bahn und der Stettiner Bahn, die im August 1842 allerdings erst Eberswalde erreicht hatte, war dies Berlins dritte Ferneisenbahn. Eine weitgehend gerade, ebene
Strecke, die auch keine großen Wasserläufe zu überbrücken hatte. Von Anfang an gab es Zwischenstationen in Köpenick, Erkner, Fürstenwalde und Briesen.
Es lag nahe, die Frankfurter Bahn weiterzuführen nach Schlesien als der auch wirtschaftlich bedeutendsten Region im Osten Preußens. Dort entstand bereits die Niederschlesisch-Märkische Eisenbahn (NME), deren Betreiber schon 1843 die Frankfurter Bahn übernehmen wollte. 1845 wurde dies vollzogen und am 1. September 1846 der durchgehende Verkehr auf der rund 330 Kilometer langen Strecke zwischen Berlin und Breslau aufgenommen. Ein Jahr später gab es bereits eine Schienenverbindung zwischen dem gegenüber Köln gelegenen Deutz und dem oberschlesischen, damals zu Österreich gehörenden Krakau, fast vom einen Ende Preußens zum anderen.
1849 setzte der preußische Handelsminister August von der Heydt besonders niedrige Bahnfrachttarife für schlesische Kohle durch, um diese gegenüber der englischen konkurrenzfähig zu machen. Kohle aus Schlesien dominierte dann für den Rest des Jahrhunderts die Energieversorgung Berlins und den Güterverkehr auf der Schlesischen Bahn. Mit Hinweis auf deren wirtschaftliche und militärische Bedeutung boxte von der Heydt auch die 1850 bis 1852 erfolgte Übernahme der NME durch den Staat durch. An sie wurde zunächst auch die staatliche Ostbahn angebunden, deren Abschnitt zwischen Berlin und Küstrin erst 1867 in Betrieb ging. Ein Jahr zuvor hatte die Schlesische Bahn als wichtige Aufmarschstrecke im Deutschen Krieg gedient.
Als Keim der preußischen Staatsbahn übernahm die NME die Betriebsführung auf der 1851 eröffneten ersten Berliner Verbindungsbahn wie auch zwanzig Jahre später auf der neuen Verbindungsbahn, heute bekannt als Ringbahn. Ebenso im Staatsinteresse lag der Bau der Berliner Stadtbahn. Zwei Jahre bevor diese 1882 eröffnet wurde, wurde aus der Königlichen Direktion der NME die Königliche Eisenbahndirektion zu Berlin.
Im Berlin des frühen Eisenbahnzeitalters war der Frankfurter Bahnhof der einzige, der innerhalb der Zollmauer errichtet werden durfte. Nachdem die Bahnanlagen dort schon in den 1860er Jahren ausgebaut worden waren, erfolgte bald darauf eine viel stärkere Erweiterung für die Stadtbahn: Auf deren Niveau wurden die Gleise in der Station, die ab 1881 Schlesischer Bahnhof hieß, hochgelegt, zudem eine zweite, größere Bahnsteighalle errichtet.
Noch in der Weimarer Republik hatte Berlins Osten, da von Arbeitervierteln geprägt, keinen allzu guten Ruf. Die Gegend um den Schlesischen Bahnhof aber war besonders übel beleumundet, geprägt von Elend, Prostitution, Kriminalität – und Aufruhr: 1919 gab es bewaffnete Kämpfe um den Bahnhof. In jener Zeit trieb in dessen Umgebung auch der Serienmörder Carl Großmann sein Unwesen, das Horst Bosetzky 2004 in seinem Buch „Die Bestie vom Schlesischen Bahnhof“ schilderte. In der heute verschwundenen Breslauer Straße, die zwischen Holzmarktund Koppenstraße am Südrand des Stadtbahnviadukts verlief, kam es Ende 1928 zur „Schlacht am Schlesischen Bahnhof“ zwischen Hamburger Zimmerleuten und in „Ringvereinen“ organisierten Berliner Kriminellen. Noch 1964 wurde die Station mit Julius Berstls „Berlin Schlesischer Bahnhof“ sogar zum Titel eines Romans über das elende Milieu, welches dort existiert hatte.
Dennoch dürften viele Berliner mit der Schlesischen Bahn auch sehr Positives verbunden haben: Als Strecke, die dem Müggelsee sehr nahe kommt und mitten durch das ausgedehnte Waldgebiet seiner Umgebung führt, war sie eine Hauptroute für den Ausflugsverkehr. Wobei daran erinnert werden muss, welch ungleich größere Bedeutung der Sonntagsausflug besaß, als die meisten Menschen noch nicht mehrere Wochen bezahlten Jahresurlaub hatten und sich erst recht keine Ferienreise leisten konnten. Einen Hinweis darauf gibt bis heute der ungewöhnlich breite Bahnsteig in Friedrichshagen.
In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zählte man auf der Schlesischen Bahn im Ausflugsverkehr durchschnittlich mehr als doppelt so viele Fahrgäste wie im Werktagsverkehr. Schon im Frühjahr und Sommer 1843 hatte es Extrazüge und ermäßigte Fahrpreise zwischen Berlin und Erkner gegeben. 1901/02 wurde für den Vorortverkehr, der sich nur langsam, dann aber gewaltig entwickelt hatte, ein eigenes Gleispaar in Betrieb genommen. Nahezu alle Bahnübergänge zwischen Berlin und Erkner waren beseitigt worden.
Es wirkt wie eine Ironie der Geschichte (oder auch späte Gerechtigkeit), dass von Berlins großen Bahnhöfen nur jener die Zeiten überdauern sollte, der am perfektesten alle negativen Assoziationen erfüllte, die mit einer großen Station und dem von ihr geprägten Viertel verbunden werden. Natürlich war für dieses Überleben entscheidend, dass der Schlesische Bahnhof mit der Eröffnung der Stadtbahn vom Kopf- zum Durchgangsbahnhof geworden war. Und dass er nach 1945 nicht in West-Berlin lag oder nur von dort aus angefahren werden konnte.
Während deshalb die Kopfbahnhöfe wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg erst aus den Fahrplänen und dann aus dem Stadtbild verschwanden, wurde der Schlesische Bahnhof – 1950 aus politischen Gründen umbenannt in Ostbahnhof – 1946 bis 1950 wiederaufgebaut: Mit einer repräsentativen Zugangshalle, flankiert von monumentalen Kandelabern à la Stalinallee.
Ab Mai 1952 versuchte die Reichsbahn, alle Berlin berührenden D- und Eilzüge über bzw. in den Ostbahnhof zu leiten. Schnell zeigten sich die Grenzen seiner Kapazität, und flugs wurde in Lichtenberg ein erster Fernbahnsteig errichtet. Nach ihrem Mitte der 1970er Jahre begonnenen Ausbau hatte diese Station dann mehr Ferngleise als der Ostbahnhof, in dem von elf Schienensträngen vier der S-Bahn dienen und zwei keine Bahnsteigberührung besitzen. Zudem hatte die Abgrenzungspolitik der DDR den Ostbahnhof betrieblich teilweise wieder vom Durchgangs- zum Kopfbahnhof gemacht.
Doch immerhin konnte man hier wenigstens etwas vom Flair eines großen Bahnhofs spüren – durch den, wenn auch geringen, internationalen Verkehr und dank der Optik: Wenn die DEFA in Berlin die üblichen, von Ankunft oder Abfahrt handelnden Bahnhofsszenen drehen wollte, tat sie dies für gewöhnlich in den Hallen des Ostbahnhofs, nicht auf einem der nur von einem einfachen Dach überdeckten Fernbahnsteige an der Peripherie der Stadt.
Imposant war noch bis in die 1990er Jahre hinein der Anblick von der Warschauer Brücke gen Westen: Vor den Bahnsteighallen am Horizont erstreckten sich im Süden vor allem die Anlagen des Ost-Berliner Postbahnhofs, im Norden die zahlreichen Gleise des Wriezener Güterbahnhofs. Hier konnte man nicht nur erahnen, wie es früher unter den Hochbahnbrücken am Gleisdreieck ausgesehen hatte, sondern deutlich erkennen, welche Bedeutung die Eisenbahn besaß und welcher (Stadt-) Raumanspruch ihr dementsprechend zugestanden wurde.
Als bedeutende Strecke nach Osten spielte die Schlesische Bahn natürlich auch eine große Rolle im von den Nazis angezettelten Zweiten Weltkrieg. Und während die Schlesische Bahn heute an der Neiße bei Guben unterbrochen ist, blieb die ursprüngliche Frankfurter Bahn unvermindert wichtig: Schon beim Kampf um Berlin diente sie dem Nachschub der Roten Armee, die ein Gleis auf russische Breitspur umgenagelt hatte. Am 28. Juni 1945 wurde im Schlesischen Bahnhof die Ankunft des ersten Schnellzugs aus Moskau gefeiert. Wenig später fuhr Stalin zur Potsdamer Konferenz über das Breitspurgleis. Im Herbst 1945 wurde es zurückgespurt. Später fungierte die Frankfurter Bahn als Hauptweg für den Abtransport von Reparationsgut in Richtung Sowjetunion.
Aus diesem Grund wurde die Strecke nicht, wie sonst in der sowjetischen Zone üblich, auf ein Gleis reduziert, sondern statt dessen „nur“ die gesamte S-Bahn-Strecke von Ostkreuz nach Erkner demontiert. Bis 1948 blieben Karlshorst, Köpenick oder Friedrichshagen vom elektrischen Schnellbahnverkehr abgehängt. Vollständig zweigleisig war die S-Bahn-Trasse erst wieder 1960.
Die Ferngleise zwischen Berlin und Frankfurt/Oder wurden erst in den 1980er Jahren elektrifiziert. Damals hatte man mit dem Ostbahnhof viel vor, und so erhielt er, weil der Osten offiziell nicht Osten sein wollte, 1987 den Namen Hauptbahnhof. Schon 1985 war die Eingangshalle gesprengt worden, auch nahezu alles, was aus dem 19. Jahrhundert überdauert hatte, verschwand. Der Neubau bekam sogar ein Bahnhofskino. Fertig wurde er bis zum Ende der DDR nicht. In den Neunzigern erfolgte eine erneute, durchgreifende Umgestaltung des Empfangsgebäudes, samt Errichtung des schon zuvor geplanten Hotels.
Heute sieht es im seit 1998 wieder so genannten Ostbahnhof so aus, wie es eben heute in deutschen Bahnhöfen aussieht: Das Empfangsgebäude gleicht einem kleinen Einkaufszentrum, Einrichtungen, die mit dem Bahnverkehr zu tun haben, fallen – so sie überhaupt noch vorhanden sind – kaum auf, den Weg zu den Gleisen muss man suchen. Die Fassade des Neubaus ist an architektonischer Belanglosigkeit kaum zu überbieten.
Die Umgebung besteht aus einer sehr aufgelockerten Ansammlung nach Krieg und Abrisspolitik übriggebliebener Altbauten und neuer Betonklötze. Am Ostbahnhof vorbei wälzt sich der Verkehr über eine der wichtigsten Ausfallstraßen Berlins. Man hat eher den Eindruck, sich in einem typischen Siedlungsbrei am Stadtrand zu befinden.
Dazu bei trägt auch die bauliche Entwicklung der letzten zwanzig Jahre: Die bunte Fassade des 1979 eröffneten Warenhaus-Würfels wirkt geradezu ambitioniert gegen die ästhetisch vollkommen anspruchslosen Zweckbauten, die auf großen Teilen des früheren Bahngeländes entstanden sind. Von der Warschauer Brücke aus sieht man heute, wie der Bahn nur noch eine schmale Schneise zwischen Großbauten verblieben ist.
Den Fernverkehr auf dem Ostbahnhof hat die DB AG in den letzten Jahren immer weiter reduziert. Seit dem Fahrplanwechsel am 10. Dezember 2017 passiert ihn nun auch der RE 2 ohne Halt – fast wie zu Mauerzeiten die Transitzüge zwischen West-Berlin und der Bundesrepublik, die in Rummelsburg abund bereitgestellt wurden.
Und die Bahnverbindungen mit Schlesien? Im Sommerfahrplan 1914 gab es vierzig Verbindungen. 1928 bewältigten Züge die Strecke Berlin—Breslau in vier Stunden, ab 1936 Schnelltriebwagen sogar in bis zu 154 Minuten. Die einzige Direktverbindung, die die Fahrplanauskunft der DB AG heute für Werktage anbietet (und die mit vier Stunden, fünfzehn Minuten zugleich die mit Abstand schnellste ist), führt von „Berlin Hbf (Europaplatz)“ nach „Wrocław Głowny, Dworzec autobusowy“: ein Intercity-Bus.
Ab Dezember 2018 könnten Züge Berlin und Breslau in etwas über dreieinhalb Stunden verbinden – wenn auch nicht mehr über die Schlesische Bahn, sondern über Cottbus. Die Strecke zwischen Berlin und Frankfurt (Oder) ist auch heute noch stark frequentiert: Der RE 1, Brandenburgs wichtigste Regionalexpress-Linie, soll hier in naher Zukunft im Berufsverkehr sogar dreimal pro Stunde verkehren.
Ebensoviel Mut zu zukunftsgerechter Planung ist für den Verkehr weiter nach Osten zu wünschen. Auch, damit bald wieder mehr Breslauer mit der Bahn nach Berlin kommen können.
Jan Gympel
aus SIGNAL 6/2017 (Dezember 2017 / Januar 2018), Seite 26-28