Wahnsinn – nur zu Ihrer Sicherheit!
Berlin: Nach dem Verbot von Rolltreppen freuen sich die Aufzugshersteller über glänzende Umsätze.
26. Dez 2017
Verbot von Rolltreppen? Wieso das denn? Ach das wissen Sie nicht? Es fing in den 1980er Jahren an, zunächst nur bei der Eisenbahn. Es war eine wilde, gefährliche Zeit damals. Bei manchen Zügen mussten die Kunden vor der Abfahrt selbst die Türen schließen. Das ging natürlich nur, weil man da noch von draußen ran kam. Die schönen neuen Glaswände an den Bahnsteigkanten gab es damals ja noch nicht. Da konnten die Bahngesellschaften flexibel Züge ganz verschiedener Bauarten auf demselben Gleis einsetzen, je nach Bedarf. Die schön geordnete Welt von heute, wo die Zugtüren immer zu den Bahnsteigtüren passen müssen, war noch weit weg.
Und die Fenster erst, das können Sie sich gar nicht vorstellen, die konnte man aufmachen. Jederzeit, sogar während der Fahrt!
Das ist ja unglaublich, da müssen ja jeden Tag hunderte zu Tode gekommen sein. Wenn ich mir das vorstelle, hunderte armer Bürger halten, vom Staat völlig ungeschützt, den Kopf aus dem Fenster, und zack, kommt der nächste Brückenpfeiler – schrecklich.
Wie gut, dass es nicht mehr lange dauern wird, bis die Züge gar keine Fenster mehr benötigen. Denn dank immer neuer Schallschutzwände gibt es für die Fahrgäste entlang der Strecken ohnehin nichts mehr zu sehen.
Und wie viele sind wohl täglich umgekommen, weil sie schon beim Ausrollen des Zuges auf den Bahnsteig steigen konnten? Da hätten doch die Bahngesellschaften vor lauter Klagen und Schmerzensgeldern den Betrieb einstellen müssen!
Sie werden staunen, das war nicht der Fall. Im Gegenteil, wenn es einmal zu einem Prozess kam, dann bekamen die Selbstüberschätzer nichts. Die Gerichte argumentierten,
dass die Hausordnungen und Benutzungsbestimmungen der Eisenbahn so ein Verhalten verbieten. Also handelten die Betroffenen rechtswidrig, wenn sie dagegen verstießen, und gingen leer aus. Im Übrigen passierte auch ganz selten etwas, denn die meisten Menschen lernten damals noch von ihren Eltern, auf sich selbst aufzupassen.
So bildeten sich zum Beispiel bei der Berliner S-Bahn klare Aussteiger-Reihenfolgen: die ersten an der Tür waren die Sportlichen, die es eilig hatten und schon ausstiegen, während der Zug noch rollte. Wer dagegen Zeit hatte oder sich erst heraus traute, wenn der Zug schon stand, der stellte sich eben weiter hinten an. Wenn bei den ersten etwas schief ging, dann auf eigenes Risiko.
Das muss ja schrecklich gewesen sein, wenn der Gesetzgeber sich nicht mit Verboten um meine Gesundheit kümmert. Wer kann denn schon den ganzen Tag auf sich selbst aufpassen?
Da haben Sie Recht, und darum schritt der Gesetzgeber auch dagegen ein. Türen durften sich fortan nur noch beim Stillstand des Zuges öffnen lassen, Fenster zum Öffnen wurden abgeschafft oder auf kleine Notbelüftungen reduziert und dafür Klimaanlagen in die Züge eingebaut. Später kamen dann die Glaswände an den Bahnsteigkanten hinzu, so dass Selbstmörder künftig nur noch zwischen den Stationen vor den Zug springen konnten.
Durch die verzögerte Türöffnung erhöhten sich natürlich die Standzeiten in den Bahnhöfen, so dass die Bahnen schneller werden mussten, um nicht langsamer zu werden. Die höhere Antriebsleistung und die Klimatisierung verbrauchten selbstverständlich mehr Strom – in Zeiten der ökologischen Politik fiel das aber niemandem auf. Der notwendige Streckenausbau für höhere Geschwindigkeiten kostete eine Menge Geld, nur um die Sekunden zu sparen, die man mit der alten Türtechnik gratis gehabt hätte. Auch das störte in Zeiten gut gefüllter öffentlicher Kassen offenbar niemanden.
Ja und dann kamen die Warntöne dazu. Stellen Sie sich vor, damals warben die öffentlichen Verkehrsmittel noch damit, dass man die Fahrt darin viel produktiver nutzen konnte als im eigenen Auto, weil man nicht selbst steuern musste. Man konnte zum Beispiel im Zug lesen oder etwas schreiben und sich darauf auch konzentrieren. Oder man konnte nach anstrengender Arbeit auf seinem Sitzplatz nach Hause ein Nickerchen machen.
Heute fahren ja erstens die Autos auch selbstständig und zweitens wird an jeder Haltestelle der ganzen Stadt vorgespielt, wo eine der 24 Türen am Zug zu finden ist. An einem Endbahnhof, wo der Zug eine Viertelstunde am Bahnsteig steht, kann das schon laut werden. Deshalb haben damals auch einige Fachleute vorgeschlagen, dass die Sehbehinderten eine eigene Informationsquelle bekommen, die über eine genormte Schnittstelle vom Zug gespeist wird. Das war für die wenigen Betroffenen damals aber zu teuer, also wurde jede Tür mit zusätzlicher Technik ausgestattet, was sich schließlich als noch teurer herausstellte, aber da war es schon zu spät.
Außerdem wurde damals von Experten darauf hingewiesen, dass der Warnton nur vor der Abfahrt des Zuges zu geben sei, um die Aufmerksamkeit auf den wirklich gefährlichen Vorgang (sie erinnern sich, noch keine Bahnsteig-Glaswände) zu lenken. Die Türen aller Züge waren ja schon damals, wie auch beim Fahrstuhl, reversibel. Aber irgendein Kindskopf in den Aufsichtsbehörden, der wohl zuhause gerne mit Hupen spielt, wollte einen Ton bei jedem Türenschließen, auch wenn der Zug noch nicht fährt.
Und es geht sogar noch verrückter: Selbsternannte Unsicherheitsexperten forderten sogar Warntöne beim Türöffnen! Zwar war das Anlehnen an die geschlossenen Türen schon immer verboten und als gefährlich gekennzeichnet, aber sicher ist sicher.
Unlogisch ist allerdings, dass die neuen Elektroautos und Elektrofahrräder keinen Krach erzeugen müssen, um die Menschen am Straßenrand zu warnen: Achtung, stehen bleiben.
Ja und nun kommt der Clou: Nach Abschaffung der Türöffnung beim ausrollenden Zug stellten die Sicherheitsbehörden fest, dass ja auch beim Betreten und Verlassen von Rolltreppen eine relative Bewegung auszugleichen ist. Wenn das bei der Bahn verboten ist, warum nicht auch da? Und so kam es zum Verbot von Rolltreppen. Noch Fragen?
Nein? Dann wollen wir jetzt auch mal einen Nonsensvorschlag machen. Warum dürfen die Schneeräumdienste auf den Bahnsteigen eigentlich bei laufendem Bahnbetrieb arbeiten? Was da alles passieren kann! Eine Einweisung dieser Kräfte in die Gefahren des Bahnbetriebs wäre natürlich möglich, aber zu einfach. Viel sicherer wäre es doch, wenn der Winter in Zukunft zwei Alternativen bietet: Kein Zughalt, weil der Bahnsteig noch nicht vom Schnee geräumt ist – Gefahr für das Publikum! Oder kein Bahnverkehr, weil der Bahnsteig gerade vom Schnee geräumt wird – Gefahr für die Mitarbeiter! Sie denken: „Unsinn!“ Wir sagen: „Abwarten!“
Berliner Fahrgastverband IGEB
aus SIGNAL 6/2017 (Dezember 2017 / Januar 2018), Seite 30