oder Als Verkehrspolitik in Berlin noch zügig umgesetzt wurde

90 Jahre BVG

Ernst Reuter kam, sah und gründete die BVG.


Jan Gympel

1. Jul 2019

Die Leipziger Straße, jahrzehntelang Berlins wichtigste Einkaufsmeile, an der Ecke Mauerstraße mit dem, was man um 1930 für starken Straßenverkehr hielt. Die deshalb schon seit zirka 1900 geplante U-Bahn durch diese Straße ist allerdings bis heute nicht gebaut worden, und ob die seit 1970 verschwundene Straßenbahn vor 2030 (nach dann 40 Jahren Planung) wiederkommt? Von allen auf dem Bild zu sehenden Gebäuden steht heute nur noch das WMF-Haus links. Sammlung Frank Lammers

Selbst unter Verkehrshistorikern hat sich diese Vorstellung inzwischen festgesetzt, wie man jüngst zum neunzigsten Geburtstag der Berliner Verkehrsbetriebe wieder feststellen konnte. Dieses schiefen Bildes wegen wird gern übersehen, welches für den Berliner ÖPNV überaus bedeutende Ereignis sich in Kürze bereits zum hundertsten Male jährt. Und schon gar nicht wird gefragt, was die damalige Entwicklung – in der die BVG-Gründung nur ein, wenn auch wichtiger Schritt war – uns für die heutige Zeit sagen kann.

Vor allem durch die sowjetische Blockade der Berliner Westsektoren 1948/49 wurde Ernst Reuter zum legendären Bürgermeister (West-)Berlins. Doch schon zwanzig Jahre zuvor hatte er Großes geleistet, nämlich als Stadtrat für Verkehr: Er kam, sah und gründete die BVG. Wozu er vorher noch schnell die Unternehmen des öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) in Berlin kommunalisiert hatte.

Selbst unter Verkehrshistorikern hat sich diese Vorstellung inzwischen festgesetzt, wie man Anfang 2019 zum neunzigsten Geburtstag der Berliner Verkehrsbetriebe, die ursprünglich Berliner Verkehrs-Aktiengesellschaft hießen, wieder feststellen konnte. Doch abgesehen davon, dass Vorgänge wie die Gründung der BVG nur selten das Werk einer einzigen Person sind – sie vollziehen sich in aller Regel auch nicht innerhalb eines kurzen Zeitraums. So war die Schaffung der BVG fraglos ein wichtiger Schritt, aber eben auch nur der Höhepunkt einer Entwicklung, die bis dahin rund dreißig Jahre gebraucht hatte.

Eine U-Bahn durch die Leipziger Straße

Was würde der Neubau des Hochbahnhofs Kottbusser Tor für die Fahrgäste heute bedeuten? Erfahrungsgemäß mindestens ein bis zwei Jahre Schienenersatzverkehr. Vor fast hundert Jahren hielt man dies für unzumutbar und errichtete Behelfsviadukte, auf denen die Hochbahn weiter fahren konnte (Blick über den Platz nach Westen). Abb. aus der BVG/NSAG-Publikation „Zur Eröffnung der IV. Teilstrecke der GN-Bahn Boddinstraße—Leinestraße und des Hochbahnhofs Kottbusser Tor am 4. August 1929“
Das griffige Kürzel „BVG“ tauchte schon auf, bevor die BVG gegründet wurde und am 1. Januar 1929 ihre Tätigkeit begann: Hier auf dem gemeinsamen Liniennetzplan der stadteigenen Verkehrsunternehmen, deren Vermögenswerte an die neue Gesellschaft übergingen. Die alten Firmen wurden anschließend liquidiert. Sammlung Frank Lammers

Bereits Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich in Berlin die Erkenntnis durchgesetzt, dass sich die öffentliche Hand stärker im ÖPNV engagieren müsste als bisher. Der Versuch, den privaten Verkehrsunternehmen Konkurrenz zu machen, führte aber zunächst nicht weit – und teils in die Irre: So wollte sich die Stadt, nachdem sie jahrzehntelang Plänen für Hoch- und Untergrundbahnstrecken reserviert bis ablehnend gegenübergestanden hatte, nun die beiden Hauptverkehrsachsen in der damaligen Berliner Innenstadt für eigene Tunnel reservieren.

Doch erst 1912 begann der U-Bahn-Bau durch die Müller-, Chaussee- und Friedrichstraße, und verzögert durch den Ersten Weltkrieg und seine Folgen konnte die Strecke erst 1923 eröffnet werden. Noch schlimmer als bei dieser Nord-Süd- sah es mit der Ost-West-Achse durch die Leipziger Straße aus, die damals die bedeutendste Einkaufsmeile Berlins war: Die private Hochbahngesellschaft musste ihren Tunnel zwischen Potsdamer und Alexanderplatz kurvenreich durch Nebenstraßen bauen. Bis heute schlängelt sich die U 2 hier entlang. Die seit fast 120 Jahren geplante geradlinige U-Bahn-Verbindung durch die Leipziger und Gertraudenstraße ist dagegen über vage Planungen nie hinausgekommen.

Daran,dass sich die Hochbahngesellschaft ihren Weg vom Potsdamer zum Alexanderplatz über Umwege bahnen musste, war allerdings auch die Große Berliner Straßenbahn-AG schuld: Auf die Tram entfiel damals (wie noch bis Mitte des 20.Jahrhunderts) der Großteil des Fahrgastaufkommens im Berliner ÖPNV, und die „Große Berliner“ war der mit Abstand wichtigste Betreiber von Straßenbahnlinien.

Straßenbahn ist (meist) noch Privatsache

Als am 1. April 1912 der Verband Groß-Berlin seine Arbeit aufnahm, betrieben die „Große Berliner“ und ihre Tochtergesellschaften ein Streckennetz von 350,6 Kilometern Länge. Insgesamt zählte man im Gebiet des

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„Zweckverbands“, dem die Stadtkreise Berlin, Charlottenburg, Schöneberg, Rixdorf/Neukölln, Deutsch-Wilmersdorf, Lichtenberg und Spandau, die Landkreise Teltow und Niederbarnim sowie als eigenständige Mitglieder deren Gemeinden Steglitz, Groß-Lichterfelde, Friedenau, Köpenick, Boxhagen-Rummelsburg, Pankow, Weißensee und Reinickendorf angehörten, eine Straßenbahnstreckenlänge von 503,6 Kilometern. Davon waren 383,1 Kilometer in privater Hand.

Dank des Vertrags, den die „Große Berliner“ über die Nutzung des öffentlichen Straßenlandes geschlossen hatte, brauchte sie Konkurrenz eigentlich nur in Straßen zu dulden, auf denen ihre Linien nicht fuhren. Dass so, durch ein Tramnetz von heute unvorstellbarer Dichte, nicht mehr viele Strecken übrig blieben, musste auch die Stadt Berlin erfahren: Der Versuch, der „Großen Berliner“ mit einem kommunalen Straßenbahnbetrieb Konkurrenz zu machen, kam über einige wenige Linien nicht hinaus und blieb somit im Ansatz stecken.

An eine von vielen Planern und Politikern erträumte Übernahme der Firma durch die öffentliche Hand war nicht zu denken: Abgesehen von der Frage der Finanzierbarkeit – die Aktionäre zeigten kein Interesse an einem Verkauf.

Zu Hilfe kamen der Politik äußere Umstände: Zwar hatte die „Große Berliner“ erst im Mai 1918 einen neuen Vertrag abgeschlossen, der ihr die Nutzung der Straßen bis 1949 sicherte. Doch ihr Vertragspartner – nunmehr der Verband Groß-Berlin, der 1911 nach langen Diskussionen unter anderem dafür gegründet worden war, den Schienenverkehr (mit Ausnahme der Staatseisenbahn) zu ordnen und zu entwickeln – hatte sich dabei umfangreiche Mitspracherechte bei der Verkehrs- und Tarifgestaltung gesichert.

Tramkauf durch Erpressung

Die wirtschaftlichen und politischen Folgen der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg hatten die „Große Berliner“ in eine schwierige Lage gebracht. Die Betriebsmittel waren auf Verschleiß gefahren worden und entsprechend erneuerungsbedürftig. Die Novemberrevolution von 1918 hatte den Beschäftigten auch Lohnerhöhungen und die Einführung des Acht-Stunden-Tages beschert. Der Straßenbahnbetrieb drohte unrentabel zu werden. Damals wurde aber noch allgemein erwartet, dass ÖPNV sogar finanziellen Gewinn abwarf.

Zudem begann die Inflationsrate zu wachsen, was auch die Kapitalrückstellungen entwertete. Tariferhöhungen hatte der „Zweckverband“ Anfang 1919 aber nur bis zum 31. März befristet gewährt, und dann noch einmal verlängert biszum 30. Juni 1919.

[Bild]201902_90-jahre_05.jpg|Im Herbst 1928 wurde der Begriff „U-Bahn“ von deren Betreiberin noch nicht verwendet. Wie bei dem Versuch, stattdessen die Bezeichnung „die Untergrund“ populär zu machen, orientierte sich die Hochbahngesellschaft womöglich auch mit der Namensgebung für die Linien am Londoner Vorbild. Die im Bau befindlichen Strecken wurden bis Ende 1930 fast alle fertiggestellt. Der Abschnitt Gesundbrunnen—Christianiastraße (heute Osloer Straße) ging allerdings erst 1977 in Betrieb, die südliche Endstation der Gesundbrunnen-Neukölln-Linie, Hermannstraße, erst 1996.|Grafik: aus dem BVG-Faltplan vom Oktober 1928|Grafik: aus dem BVG-Faltplan vom Oktober 1928[/Bild]

Eine weitere Verlängerung wurde Anfang Juni abgelehnt, aber den Aktionären wurde ein Übernahmeangebot unterbreitet. Offenkundig erschien diesen ihre Lage als aussichtslos, denn innerhalb weniger Wochen einigten sie sich mit dem Verband GroßBerlin: Am 30. Juni 1919 stimmte dessen Verbandsversammlung den Übernahmemodalitäten zu – und verlängerte zugleich die Gültigkeit des erhöhten Tarifs.

Wo statt einer Stützenreihe zwei stehen, sollten vom heutigen U 6-Bahnsteig der Station Stadtmitte die Treppen zur U-Bahn durch die Leipziger Straße entstehen. Gebaut wurde die seit zirka 1900 geplante Strecke bis heute nicht. Foto: Jan Gympel

Für die bisherigen Aktionäre war der Verkauf auch insofern attraktiv, als ihnen die „Große Berliner“ nicht mehr wie gewohnt eine ordentliche Rendite garantieren konnte. Der „Zweckverband“ aber zahlte mit Schuldverschreibungen und garantierte, diese nicht nur zu verzinsen, sondern schrittweise bis Ende 1949 zu tilgen.

Als Ernst Reuter Kommunist war

Am 15. Juli 1919 wurde der Kaufvertrag zwischen der Großen Berliner Straßenbahn-AG, zu jener Zeit das größte private Straßenbahnunternehmen Deutschlands, und dem Verband Groß-Berlin geschlossen. Am 8. September 1919 gingen Substanz und Betrieb des Unternehmens an die öffentliche Hand über. Ein Vorgang, der sich also in Kürze zum hundertsten Male jährt und der für Berlins ÖPNV fast so bedeutend war wie die Gründung der BVG, für die er eine wesentliche Voraussetzung darstellte.

Ernst Reuter war zu diesem Zeitpunkt übrigens gerade erst aus Sowjetrussland zurückgekehrt, wo er im Auftrag der Bolschewikiwesentlich an derNeuorganisation der Wolgadeutschen mitgewirkt hatte. Nun nahm er am Gründungskongress der Kommunistischen ParteiDeutschlandsteil, in der er es biszum Generalsekretär brachte – und dann ausgeschlossen wurde. Erst 1922 kehrte er zur SPD zurück, der er schon vor dem Krieg angehört hatte.

Mit der „Großen Berliner“ hatte der Verband Groß-Berlin zugleich auch einen großen Anteil an der ABOAG erworben, dem einzigen nennenswerten Betreiber von Omnibuslinien im damaligen Berlin. Denn waren sich „Große Berliner“ und Hochbahngesellschaft auch sonst spinnefeind gewesen: Als ihnen mit der ABOAG Konkurrenz zu erwachsen drohte, erwarben sie 1913 jeweils ein großes Aktienpaket der Gesellschaft und beschlossen, den Omnibusverkehr nicht weiter auszubauen.

Berlin wird Groß-

Ein modernes Unternehmen betrieb 1929 modernes Marketing und benötigte auch dazu ein Logo oder, wie es damals noch auf gut deutsch hieß, Firmenschild. Ebenfalls dazu gehörte eine Firmenzeitschrift („Die Fahrt“), aus deren erstem Jahrgang 1929 dieser Ausschnitt stammt. Abb.: Archiv Gympel

Kurz nach der Novemberrevolution waren endlich Eingemeindungen in die Reichshauptstadt möglich, die zuvor gegen viele Widerstände nicht hatten durchgesetzt werden können: Mit Gesetz vom 27. April 1920 und Wirkung vom 1. Oktober desselben Jahres entstand die Einheitsgemeinde Groß-Berlin, wie sie im Wesentlichen bis heute existiert. Sie beerbte den „Zweckverband“, der wenige Jahre zuvor als eine Minimallösung gegründet worden war, und übernahm nun auch die kommunalen Verkehrsbetriebe der bisherigen Vororte, darunter die Straßenbahnen von Spandau, Köpenick, Steglitz und Heiligensee. Hinzu kamen die U-Bahnen von Wilmersdorf und Schöneberg.

1926 gelang es schließlich, auch die meisten Aktionäre der Hochbahngesellschaft zum Verkauf an die Stadt zu bewegen. Mit diesem Geschäft, das im Juli 1926 abgeschlossen wurde, beherrschte Berlin dann zugleich die ABOAG, wodurch ab diesem Zeitpunkt nahezu der gesamte Straßenbahn-, U-Bahn- und Busverkehr in der Stadt in kommunalem Besitz waren.

Der erste Tarifverbund

Erst im Oktober 1926 wurde Ernst Reuter zum Stadtrat für Verkehr gewählt. Mit der Kommunalisierung eines Großteils des Berliner ÖPNV hatte er also so gut wie gar nichts zu tun. Seine Leistung war, das bis dahin Erarbeitete zusammenzufügen: In dem im März 1927 geschlossenen „Interessengemeinschaftsvertrag“ verpflichteten sich die stadteigenen Betriebe von Straßenbahn, U-Bahn und Omnibus, künftig nicht mehr miteinander zu konkurrieren, sondern eng zusammenzuarbeiten. Ab dem Inkrafttreten des Vertrags am 15. März 1927 hatten sie einen gemeinsamen Tarif (Einzelfahrt 20 Pfennig, Schüler die Hälfte), der auch erstmals eine allgemeine (allerdings nur einmalige) Umsteigeberechtigung brachte. Erklärtes Ziel war, dadurch zu einer stärkeren Nutzung der U-Bahn anzuregen. Ein Umsteigefahrschein von und zum Nahverkehr der Reichsbahn folgte mit Wirkung vom 1. Januar 1928. Damit war also, wenn auch noch kein Verkehrs-, so doch ein Tarifverbund vollzogen. Der nächste Schritt war dann die Vereinigung der stadteigenen Verkehrsmittel in der BVG.

Dass dies überhaupt geschah, entsprach natürlich dem Zeitgeist. Heute, nach jahrzehntelanger Vorherrschaft neo-liberaler Ideologie, könnte man fragen, weshalb denn nichtschön Teilnetze oder andere Leistungen ausgeschrieben und überhaupt der Wettbewerb gefördert wurde. Nur: Wozu solche Konzepte führen, hatte man ja vor hundert Jahren gerade erlebt.

Klotzen statt kleckern

Nicht nur, aber auch und gerade in Deutschland mit seiner obrigkeitsstaatlichen Tradition glaubte man – über viele, teils scharfe Parteigrenzen hinweg – daran, dass nur straffe Organisation, Vereinheitlichung und Lenkung von oben es ermöglichen würden, die anstehenden Aufgaben zu bewältigen. Zum Beispiel den ÖPNV einer Metropole durchzuführen, die damals mit ihren über vier Millionen Einwohnern und fast 900 Quadratkilometern Ausdehnung eine der größten Städte der Welt war.

Nicht nur bei den politisch Extremen war damals die Vorstellung beliebt, verschiedenste Probleme grundsätzlich und in großem Rahmen anzugehen und möglichst (am besten ein für allemal) zu lösen. Dementsprechend war es angesagt, statt zu kleckern zu klotzen, „groß“zu denken.

Also wurden Ende 1928, in einem juristisch relativ komplizierten Verfahren, die stadteigenen Verkehrsunternehmen oder vielmehr deren Vermögenswerte in die BVG überführt, die am 1. Januar 1929 ihre Tätigkeit aufnahm. Aus steuerrechtlichen Gründen handelte es sich, anders als gern behauptet, nicht um eine Fusion: Die Unternehmenwurdenliquidiert,die verbliebenen privaten Anteilseigner von Hochbahngesellschaft und ABOAG mit städtischen Schuldverschreibungen abgefunden.

„Rationalisierung“ war in den 1920er Jahren ein Zauberwort, Automatisierung, Effizienzsteigerung – das allesfand man auch unglaublich modern. Und an Modernität (oder dem, was man dafür hielt) berauschte man sich gerade in Berlin. Dazu gehörte, dass man begann, mit Abkürzungen zu operieren bzw. mit Wörtern, die aus Abkürzungen entstanden waren.

„Die Untergrund“ fand kein Gefallen

So wurde auch der Begriff „U-Bahn“ im Laufe der zwanziger Jahre vom Volksmund kreiert, derweil deren Betreiberin sich noch eine Zeitlang bemühte, stattdessen – wohl mit Blick nach London – die Bezeichnung „die Untergrund“ zu etablieren. Erfolglos, schließlich war „Untergrund“ eine Silbe mehr als „U-Bahn“, und mit dem Abkürzungsfimmel sollte ja auch der Eindruck vermittelt werden, das Leben habe ein so rasantes Tempo angenommen, dass einem die Zeit fehle, um weiterhin in ganzen Wörtern oder gar Begriffen wie „Hoch- und Untergrundbahn“ zu sprechen (heute verschafft man sich die Illusion, ein unglaublich erfülltes Leben zu führen, bekanntlich damit, dass man überall telefoniert oder glaubt, sogar noch imLaufen aufsein Smartphone starren zu müssen).

Angenehmer Nebeneffekt für den Berliner: Wie jeder Jargon haben auch solche Abkürzungen eine ausschließende Funktion. Der Provinzler entlarvte sich in den Augen des Metropolenbewohners automatisch als (angeblich) rückständig, wenn er mit dem „Aküfi“ zumindest zunächst nicht zurechtkam, und verschaffte dem Großstädter so das Gefühl von Überlegenheit.

Wie sehr die Wortschöpfung „U-Bahn“ dem Zeitgeist entsprach und wie erfolgreich sie war,zeigt die Tatsache, dass die Reichsbahn ihre Berliner Stadt-, Ring- und Vorortbahn, die gerade modernisiert wurde (und bis dahin ohne einen griffigen Namen hatte auskommen müssen), ab 1. Dezember 1930 als „S-Bahn“ bezeichnete.

Dabei handelte essich umeine Marketingmaßnahme, denn die bis Ende der 1920er Jahre fast ausschließlich mit Dampf betriebene, entsprechend relativ langsame Stadt-, Ring- und Vorortbahn mit ihren veralteten und verschlissenen Abteilwagen hatte immer mehr Fahrgäste an die Konkurrenz von U-Bahn, Straßenbahn und Bus verloren. Hier war es also nötig, das Image aufzupolieren, heute würde man sagen „mit einem neuen Branding“, was dann auch – in Verbindung mit den neuen elektrischen Zügen – innerhalb weniger Jahre gelang.

„BVG“ als Teil der Propaganda

Ebenso eine Marketingmaßnahme war es, das neue kommunale Verkehrsunternehmen (das damals das größte der Welt gewesen sein soll und bis heute das größte in Deutschland ist) mit einem vielbenutzten Logo auszustatten (die Vorgängerbetriebe waren ohne so etwas ausgekommen) und es von Anfang an unter der griffigen Abkürzung „BVG“ auftreten zu lassen – ein Vorgehen, das übrigens von der Direktion ausdrücklich angeordnet wurde, was zeigt, welche Bedeutung ihmbeigemessenwurde. Marketing, geschickt gesteuerte Reklame oder, wie man damals auch (noch wertfrei) sagte, Propaganda galten als Ausweis von Modernität und lagen entsprechend im Zeitgeist.

Prompt setzte sich das Kürzel „BVG“ so schnell in den Köpfen der Berliner fest, dass man daran festhielt, als am 1. Januar 1938 aus der Berliner Verkehrs-Aktiengesellschaft die Berliner Verkehrs-Betriebe wurden. Erst 31 Jahre später meinte man in Ost-Berlin die Abkürzung angleichen zu müssen, womöglich auch in Abgrenzung zur West-Berliner BVG. Konsequenterweise verschwand mit der Wiedervereinigung der Verkehrsbetriebe 1992 auch die Bezeichnung „BVB“.

Dass 1937/38 aus der Aktiengesellschaft ein Eigenbetrieb der Stadt Berlin wurde, lag in der höheren Politik begründet: Die Nazis änderten das deutsche Aktienrecht so, dass die Aktionäre weitgehend entmachtet wurden. Erheblich gestärkt wurde – wohl auch im Sinne des nationalsozialistischen „Führerprinzips“ – die Position des Vorstands, der faktisch nur noch durch den von der Hauptversammlung gewählten Aufsichtsrat kontrolliert wurde. Auch letzterer durfte nun aber dem Vorstand in Angelegenheiten der Geschäftsführung keine Weisungen mehr erteilen. Die BVG hätte also ein Eigenleben entwickeln können. Wollte die Stadt Berlin ihren unmittelbaren und – soweit dies im nationalsozialistischen Unrechtsstaat möglich war – ausschließlichen Zugriff auf die BVG bewahren, musste sie deren Rechtsform verändern.

Zwischen Typenchaos und Netzausbau

Ein Jahrzehnt früher hatte man erst einmal ganz andere Sorgen. Als die BVG 1929 ihre Arbeit aufnahm, war man bei der Straßenbahn immer noch damit beschäftigt, das durch die Zusammenführung vieler Trambetriebe entstandene Typenchaos im Wagenpark zu bewältigen. Die 501 Trieb- und 803 Beiwagen, die man 1924/25 beschafft hatte (auf Jahrzehnte hinaus sollten sie als die größte einheitliche Serie gelten, die je von einem einzigen deutschen Straßenbahnbetrieb in Dienst gestellt worden ist), waren – den Berliner Verkehrsnöten und der allgemeinen wirtschaftlichen Lage geschuldet – technisch sehr einfach gehaltene Fahrzeuge gewesen, mehr praktisch als wirklich auf der Höhe der Zeit.

Die dreihundert modernen Triebwagen mit Mitteleinstieg und Schützensteuerung, die dann ab 1929 ausgeliefert wurden (übrigens die erste Großserie bei der Berliner Straßenbahn, bei der sich der Führerstand nicht nur in einer Kabine befand, sondern auch mit einem Sitz ausgestattetwar), offenbarten rasch technische Probleme vor allem beim Bremssystem, was immer wieder zu Unfällen führte.

Außerdem mussten noch immer einige Strecken von 1000 Millimeter auf die Normalspurweite von 1435 Millimeter umgebautwerden – ein Prozess, den man Anfang 1930 abbrach, was zu den ersten Stilllegungen im bis dahin 634 Kilometer großen Streckennetz der Berliner Straßenbahn führte (heute umfasst es rund 193 Kilometer).

Dennoch ging auch die Erweiterung des Tramnetzesin einemTempo voran, von dem man heute nicht einmal zu träumen wagt, das damals aber normal war: So sollen in der Zeit vom 1. April 1912, als der „Zweckverband“ seine Arbeit aufnahm, bis zum Beginn des Ersten Weltkriegsim Sommer 1914 rund 87 Kilometer neue Straßenbahnstrecken in Betrieb gegangen sein. Bis Ende 1916 kamen noch einmal 13 Kilometer hinzu.

Mehr als 15 neue Tramstrecken in 6 Jahren

Dann unterbrachen die Auswirkungen des Krieges die weitere Bautätigkeit für fast ein Jahrzehnt. Aber Ende Mai 1925, also rund anderthalb Jahre nach dem Ende der Hyperinflation, wurde die Gleisverbindung zum Köpenicker Straßenbahnnetz hergestellt und ging die neue Strecke zum Krankenhaus Köpenick in Betrieb. Im Sommer 1926 folgte die Trasse in der Straße Unter den Eichen von der Drakestraße bis in den Dahlemer Weg hinein, im April 1927 jene vom Bahnhof Heerstraße über die Heerstraße bis nach Pichelsdorf (samt einer Schleife zum Stadion), im September 1927 der Abzweig zum damaligen Abfertigungsgebäude des Flughafens Tempelhof und rund achtWochen später die Strecke in der Seestraße zwischen Eckernförder Platz und Amrumer Straße.

1928 wurde die neue nördliche Querverbindung komplettiert mit der Trasse durch Wisbyer, Bornholmer und die heutigeOsloer Straße, ferner gingen in Betrieb die Strecken durch die heutige Indira-Gandhi-Straße und den Weißenseer Weg, von der Mariendorfer Rennbahn zum Bahnhof Lichtenrade, von Altglienicke, Kirche zur Straße Am Falkenberg und von der Marktstraße in Lichtenberg durch Rummelsburg zum Großkraftwerk Klingenberg.

1929 folgten die Verlängerungen vom BahnhofWittenau (Nordbahn)zumBahnhof Waidmannslust, von Friedrichshagen nach Rahnsdorf (wodurch das Strandbad Müggelsee angebunden wurde) und in der Königin Luise-Straße vom Arndt-Gymnasium bis zur heutigen Clayallee. Die Fortsetzung über diese in Richtung Roseneck wurde erst 1930 erstmals befahren. Im selben Jahr ging auch noch die Strecke vom Adolf-Scheidt-Platz zum Attilaplatz in Betrieb. Hinzu kamen in jenen Jahren einige kurze Verbindungen bestehender Trassen miteinander oder Trassenverlegungen.

Wo immer möglich, handelte es sich um modern gestaltete Strecken: eigener Gleiskörper, Kettenfahrleitung. Schließlich sollte auch bei der Straßenbahn gelten: Tempo, Tempo! (Der Begriff war so beliebt, dass er damals für eine Automarke ebenso herhalten musste wie als Titel für eine Tageszeitung, als Bezeichnung eines Schallplattenlabels oder als – 1929 eingetragener – Markenname für die seinerzeit neuen Papiertaschentücher.)

Neubaustrecke statt Ersatzverkehr

Schon damals meinte man in Berlin, über einen enormen Kraftfahrzeugverkehr zu verfügen, dem Rechnung getragen werden müsse. Zur Lösung der Verkehrsprobleme wurden Stadtumbauten projektiert, wobei die Träume mancher Planer vom weitgehenden Abriss und Neubau der Berliner Innenstadt erst durch die brutalen Flächenbombardements der Alliierten wahr werden konnten. Vorerst musste man sich, schon aus finanziellen Gründen, auf wenige Punkte im Stadtzentrum beschränken, etwa den Alexanderplatz, der für die U-Bahn ohnehin zur riesigen Baugrube wurde. Für die zahlreichen Straßenbahnlinien, die ihn querten, wurde nicht etwa Ersatzverkehr mit Bussen eingerichtet, und schon gar nicht empfahl man den Fahrgästen, einfach ein paar hundert Meterzu laufen,was doch auch sehr gesundwäre,wie es heute zumService der uns liebenden BVG gehört. Stattdessen errichtete man für die mehrjährige Bauzeit eigens eine Umleitungsstrecke. Bei der U-Bahn stand zum Zeitpunkt der BVG-Gründung noch die Vollendung des ersten Projekts der Stadt Berlin an: Die von Seestraße kommende Nord-Süd-Bahn (heute Teil der U 6 und der U 7) erreichte erst Ende 1929 den Ringbahnhof Tempelhof und Ende 1930 mit ihrem anderen Südzweig den Ringbahnhof Neukölln sowie die Grenzallee. Ebenfalls erst 1930 ging der vorerst letzte Abschnitt der 1913 begonnenen GesundbrunnenNeukölln-Bahn (heute Kernstück der U 8) in Betrieb; die Station Hermannstraße, die im Süden Anschluss an die Ringbahn geboten hätte, blieb aber bis 1996 unvollendet.

Im Kleinprofilnetz erfolgten kleine Maßnahmen zur Verkehrsverbesserung: Durch die Verlängerung der Charlottenburger Strecke um eine Station bis Ruhleben konnte man Richtung Spandau wenigstens bis hierher mit der U-Bahn fahren (und dann in die Straßenbahn umsteigen), was zugleich die Trasse durch Westend besser auslastete. Völlig überlastet war hingegen die nur zweigleisige Kehranlage auf dem Hochbahnviadukt in der Schönhauser Allee. Die Verlängerung um eine Station bis zum heutigen Bahnhof Vinetastraße schuf hier Abhilfe.GleichesgaltfürdieVerlängerung einiger Stationen,darunter die Hochbahnhöfe Bülowstraße und Nollendorfplatz. Nun konnten auf der stark frequentierten Verbindung zwischen Zoo und Alex endlich Acht-WagenZüge eingesetzt werden.

In der heute unvorstellbaren Geschwindigkeit von rund neun Monaten wurde die Dahlemer Schnellbahn (heute Teil der U 3) 1929 um fast 3,3 Kilometer und drei Stationen bis Krumme Lanke verlängert, wo außerdem eine Werkstatt entstand.

10 Kilometer U-Bahn in 4 Jahren

Die 1929 gebaute Betriebswerkstatt Krumme Lanke wurde 1968 geschlossen. Die seit langem vernachlässigte Wagenhalle musste zwischenzeitlich wegen Baufälligkeit gesperrt werden. Demnächst könnte die BVG sie wieder nutzen. Foto: (2016): Jan Gympel

Das einst sprichwörtliche Berliner Tempo zeigte man auch beim Bau der Linie E (heute U 5), ebenso wie die Nord-Süd- und die Gesundbrunnen-Neukölln-Bahn noch ein Projekt aus der Kaiserzeit: Nun wurde (trotz des harten Winters 1928/29) innerhalb von knapp vier Jahren die rund zehn Kilometer lange Strecke vom Alexanderplatz nach Friedrichsfelde gebaut, dabei das breite Bahngelände in Lichtenberg unterquert sowie am Alex die heutige U 2, außerdem Ring- und Stadtbahn, und in Friedrichsfelde entstand eine Werkstatt. (An der 2,2 Kilometer langen Westverlängerung der U 5 zwischen Alexanderplatz und Brandenburger Tor wird seit 2010 und noch mindestens bis 2020 gebaut.)

Die am 21. Dezember 1930 eröffnete Linie E sollte als Muster für die nächsten U-BahnBauten dienen: Eine Strecke, die möglichst geradlinig einem Hauptstraßenzug folgt, mit nach ein,zwei Standardentwürfen sachlich gestalteten Stationen (heute ist dasletzte erhaltene Beispiel dafür Samariterstraße), die selbstverständlich ausgelegt waren für die damals neuesten Wagen. Achtzehn Meter lang brachten sie es auf eine SechsWagen-Zug-Länge von rund 110 Metern (weshalb viele Stationen der U 5, aber auch der U 8 heute als zu lang erscheinen) und konnten zirka tausend Fahrgäste transportieren. (Für einen Acht-Wagen-Zug im Kleinprofil errechneteman damals eine Kapazität von 686 Plätzen.)

Auch diese vielen neuen U-Bahn-Strecken, die in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre in Betrieb gingen, werden gern Ernst Reuters Wirken zugeschrieben. Allerdings hatte es sich, abgesehen von den „Optimierungen“im Kleinprofilnetz, vor allem um die Fertigstellung schon vor dem Ersten Weltkrieg begonnener Projekte gehandelt. Nur die (allerdings auch schon vor 1914 geplante) Linie E war neu begonnenworden.

Berlin wird Fünf-Millionen-Stadt?

Damit soll (gerade angesichts des heute Üblichen) nicht die Leistung kleingeredet werden, dass innerhalb weniger Jahre Liegengebliebenes zügig fertiggestellt worden war. Dass man sich aber erst nun an den eigentlich notwendigen Netzausbau machen konnte, in großem Maßstab geplant und nicht mehr nach den Interessen einzelner Unternehmen oder Vororte, sah offenkundig auch Ernst Reuter so: Im Januar 1929 legten er, der Ingenieur Johannes Bousset, der seit deren Anfangstagen immer wieder an der Berliner Hoch- und Untergrundbahn gearbeitet hatte, und Hermann Zangemeister, einer der Direktoren der frisch gegründeten BVG, eine „Denkschrift über das künftige Berliner Schnellbahnnetz“ vor.

Berliner Tempo 2019: Seit Jahren wird an der Straßenbahnstrecke zwischen Adlershof und Schöneweide herumgeplant, Platz für die Gleise beim Neubau des Groß-Berliner Damms berücksichtigt. Doch gebaut wird die Verbindung vermutlich erst, wenn es auch hier autofixierte Anwohner gibt, die über (und gegen) die Tram klagen können. Foto: Jan Gympel

In dieser ging man davon aus, dass Berlin bis 1945 weiter deutlich wachsen würde, pro Jahr um 50 000 bis 55 000 Menschen. Somit würde sich die Einwohnerzahl von 4,21 Millionen im Jahre 1927 über 4,63 Millionen 1935 bis auf 5,18 Millionen anno 1945 erhöhen (aktuell sind es zirka 3,7 Millionen, die höchste Einwohnerzahl seit dem ZweitenWeltkrieg).Die Zahl der ÖPNV-Fahrgäste sei von 1,6 Milliarden 1927 auf 1,8 Milliarden im Folgejahr gewachsen. Für 1930 rechnete man mit 2,0 Milliarden, für 1945 mit 2,85 Milliarden (Umsteiger mehrfach gezählt).

Wie in der Denkschrift zu lesen ist, meinten die Verantwortlichen zudem, durch die BVG-Gründung viel Geld sparen zu können – Stichwort Rationalisierung –, und dass diese „durch den Zusammenschluß und die Tarifreform verfügbar werdenden Mittel zum beschleunigten Ausbau des Berliner Verkehrsnetzes verwandt werden sollen“. Und zwar – Stichwort Effizienzsteigerung – vor allemfür den Ausbau des Schnellbahnnetzes.

Für Ernst Reuter dringend: die U 10 nach Steglitz

Vier „Hauptcitylinien“ wurden als vordringlich bezeichnet, nämlich vom heutigen Südstern über Hallesches Tor, Anhalter Bahnhof, Potsdamer Platz, Brandenburger Tor, Lehrter Bahnhof, Turmstraße, Bahnhof Jungfernheide nach Siemensstadt und als Fortsetzung der heutigen U5 vom Alexanderplatz über die Gertrauden- und Leipziger Straße, Potsdamer Platz, Potsdamer Brücke, Hauptstraße zum Rathaus Steglitz. (So viel zu dem populären Irrtum, diese später als U10 firmierende Planung einer U-Bahn-Strecke parallel zur heutigen S 1 wäre eine Idee aus West-Berliner „Frontstadt“-Zeiten. „Der ganze Straßenzug, ausgehend vom Rathaus Steglitz, die Potsdamer Straße, Leipziger Straße und Gertraudenstraße, ist eine Verkehrsader allerersten Ranges; diese muß daher mit einer leistungsfähigen Schnellbahn belegt werden“, heißt es in der Denkschrift, welche diese und die vorgenannte Linie die beiden dringendsten nennt.)

Außerdem von Weißensee über Alexanderplatz, Unter den Linden, heutige Straße des 17. Juni, Bismarckstraße, Kaiserdamm, Heerstraße bis nach Pichelsdorf, wo ein Anschluss an die geplante Haveluferbahn zwischen Kladowund dem Spandauer Ortskern entstanden wäre. Als Schnellverbindung, teils parallel zur bestehenden heutigen U2 gedacht, sollte es zwischen Brandenburger Tor und dem heutigen Theodor-HeussPlatz Zwischenstopps nur am Großen Stern, dem heutigen Ernst-Reuter-Platz und dem Sophie-Charlotte-Platz geben. Schließlich eine Linie vom Bahnhof Landsberger Allee über heutigen Platz der Vereinten Nationen, Jannowitzbrücke, Jägerstraße, Kemperplatz, Potsdamer Brücke, Lützowplatz, Bahnhof Zoo, die ganze Kantstraße hinunter, am damals neuen Messegelände vorbei bis zum Bahnhof Heerstraße.

Hinzu kamen noch dreiweitere Linien (darunter zwei Ringlinien und die heutige U9) sowie einige Verlängerungen bestehender Strecken.

5,6 Kilometer neue Tunnelstrecke pro Jahr

Bis 1945, also innerhalb von rund 15 Jahren, wollte man 84 Kilometer neue Strecken errichten und damit den Umfang des Netzes mal eben mehr als verdoppeln – auf 164 Kilometer (die zwei Ringlinien und die heutige U 9 waren dabei noch nicht mitgerechnet). Dafür veranschlagte man Kosten in Höhe von 992 Millionen Reichsmark – eine gewaltige Summe, welche die BVG zudem selbst aufbringen sollte. Hilfen des Freistaats Preußen oder des Reichs waren nicht zu erwarten.

Pro Jahr hätte man durchschnittlich 5,6 Kilometer Strecke (in der Regel Tunnel) fertigstellen und dafür 66 Millionen Mark aufwenden müssen. Optimistisch hieß esin der Denkschrift: „Die reibungslose Durchführung des derzeitigen Bauprogramms mit 7 km Bahn und 70 Mill. RM. zeigt jedenfalls, daß die technische Durchführung der vorgeschlagenen Linien (…) möglich ist.“

Neunzig Jahre später umfasst das Berliner U-Bahn-Netz eine Bauwerkslänge von rund 154 Kilometern, nach Fertigstellung der U 5-Verlängerung werden es rund 156,5 Kilometer sein. Denn die Weltwirtschaftskrise, die noch im BVG-Geburtsjahr 1929 begann, machte nicht nur diese U-BahnPläne zunichte. Die finanzielle Situation der BVG verschlechterte sich ebenso rasch wie die der Stadt Berlin. Auch ging der Verkehr stark zurück.

Dies hatte für die BVG immerhin den Vorteil, dasszum Beispiel die Vereinheitlichung und Modernisierung des Fahrzeugparks der Straßenbahn nicht mehr ganz so drängte und das Debakel mit den ab 1929 ausgelieferten „Schützenwagen“ sich nicht ganz so schlimm auswirkte: Wegen ihrer technischen Probleme mussten alle 300 Stück im März 1930 zunächst stillgelegt werden; Schwierigkeiten, wie es sie in jüngerer Zeit mit gewissen S-Bahn-Typen gab, sind also nichts Neues.

2019: Mehr reden als machen

Die desaströsen politischen Folgen, die die Weltwirtschaftskrise gerade in Deutschland zeitigte, führten dann aber dazu, dass die Entwicklung zum massiven Ausbau des ÖPNV, die zur Jahrhundertwende begonnen hatte, in dieser Form nicht weiterging und von den schönen Ausbauplänen der Zeit um 1930 auch in späteren Jahrzehnten kaum etwas umgesetzt wurde.

Berliner Tempo 2019: Nach einem Jahrzehnt ist der faktische Neubau des Bahnhofs Ostkreuz demnächst fertig. Aber die Straßenbahn, die von Anfang an näher an die S- und nun auch Regionalbahnstation herangeführt werden sollte, fährt noch immer in mehreren hundert Metern Entfernung am Ostkreuz vorbei. Foto: Jan Gympel
Seit Oktober 1995 fährt am U-Bahnhof Osloer Straße die Straßenbahn. Nicht „wieder“, denn es gab hier noch keine U-Bahn, als die in den sechziger Jahren stillgelegte Tramstrecke am 12. Oktober 1928 erstmals eröffnet wurde. Sie war Teil einer großen Nordtangente vom Eckernförder Platz bis zur Prenzlauer Allee, die 1927/28 in Betrieb ging. Wie zahlreiche andere Straßenbahnstrecken, die damals in einem heute unvorstellbaren Tempo gebaut wurden. Foto: Jan Gympel

Dieswar insofern nur konsequent, als sich die Struktur der Stadt durch den Zweiten Weltkrieg nicht nur baulich änderte: Berlin hatte nach dem Zweiten Weltkrieg über eine Million Einwohner weniger als zuvor, und von den Verbliebenen wohnten bald die meisten außerhalb der Ringbahn, wo große Gebiete neu bebaut wurden, derweil in den verwüsteten Arealen des alten Stadtkerns oft ein sehr weitläufiger Wiederaufbau stattfand.

Erst in jüngster Zeit wächst die Bevölkerungszahl Berlins wieder schnell und deutlich, hinzu kommen steigende Arbeitsplatz und Touristenzahlen. Der ÖPNV verzeichnet immer neue Fahrgastrekorde.

So befinden sich die Stadt Berlin und die BVG heute in einer ähnlichen Situation wie vor neunzig Jahren, ergänzt um den Aspekt, dass allein schon aus ökologischen Gründen eine massive Umverteilung des Verkehrs vom Auto auf Busse und Bahnen gewünscht werden muss. Zudem sind die politischen und wirtschaftlichen Bedingungen ungleich besser. Anders als 1929 fehlen uns aber Menschenwie Ernst Reuter, die von großen Plänen und schönen Konzepten nicht nur reden,sondern diese auch tatsächlich realisieren – und das zügig und mit Durchsetzungskraft.

Jan Gympel

aus SIGNAL 2/2019 (Juli 2019), Seite 4-10