Mehr Fragen als Antworten
Im März hat das brandenburgische Ministerium für Infrastruktur und Raumordnung die Ergebnisse der Nutzen-Kosten-Untersuchungen zur S-Bahn-Wiederinbetriebnahme zwischen Berlin-Spandau und Falkensee sowie zum Wiederaufbau der Stammbahn zwischen Potsdamer Platz und Griebnitzsee für den Regionalverkehr veröffentlicht. Für Falkensee wurde ein Wert von 1,27 bzw. in einer Variante von 1,31 errechnet, für die Stammbahn von 0,64. Da bei einem Wert von über 1,0 der volkswirtschaftliche Nutzen größer ist als die Kosten, scheint alles klar zu sein: Die S-Bahn nach Falkensee kann wiederaufgebaut werden, die Stammbahn nicht. Doch so einfach ist es nicht.
15. Mai 2008
Zunächst ein Dank an das brandenburgische Ministerium: Mit der Veröffentlichung beider Untersuchungen im Internet und mit einer Anhörung zahlreicher Beteiligter einschließlich Fahrgastverbänden hat die brandenburgische Landesregierung Maßstäbe gesetzt, von denen das benachbarte Berlin noch weit entfernt ist. In der Bundeshauptstadt wird Verkehrsplanung oft noch so geheim gehalten, wie andernorts nur die Arbeit von Militärs oder Nachrichtendiensten. Von den zahlreichen Nutzen-Kosten- Untersuchungen wurde bisher keine einzige veröffentlicht.
Die Anhörung am 21. April in Potsdam endete mit der Aufforderung, die Bewertung beider Gutachten auch noch einmal schriftlich vorzulegen. Das wird der Berliner Fahrgastverband IGEB natürlich tun und auch im SIGNAL dokumentieren. Vor einer ins Detail gehenden Analyse kann jedoch schon ein erstes Fazit gezogen werden.
Seit Januar 2008 verfügt Brandenburg über einen neuen Landesnahverkehrsplan mit einem Linienkonzept für das Jahr 2012 und einem vorläufigen Konzept für das Jahr 2020. Doch beiden Nutzen-Kosten- Untersuchungen liegt weder das heute befahrene noch das gemäß Landesnahverkehrsplan vorgesehene Liniennetz zugrunde, sondern
ein Netz mit einer nicht nachvollziehbaren Mischung aus früherem Ist-Zustand und Planungsannahmen. Da auf beide Nutzen-Kosten-Ergebnisse seit Jahren gewartet wurde, wäre es nun auf ein paar Monate Verzug auch nicht mehr angekommen, um die aktuelle Landesplanung in die Gutachten einfließen zu lassen. Dass das an den Ergebnissen wenig geändert hätte, mag stimmen, ist aber dennoch keine überzeugende Entschuldigung für das nicht verzahnte Nebeneinander zusammenhängender Planungen.
Ob und wie das Busnetz im Umfeld der untersuchten Schienenstrecken verändert wird, kann erhebliche Auswirkungen auf das Untersuchungsergebnis haben. Es ist deshalb verwunderlich, dass in Spandau mit umfangreichen Umstrukturierungen z. B. bei der Buslinie M 37 versucht wurde, Fahrgäste auf die S-Bahn zu lenken, während bei der Stammbahn Busnetzanpassungen offensichtlich nicht betrachtet wurden und sogar ein sich aufdrängendes Einsparpotenzial bei den Verstärkerfahrten der Buslinie 620 zum Europarc Dreilinden unberücksichtigt blieb.
In beiden Untersuchungen ist nicht erkennbar, dass auf Zwischenergebnisse angemessen reagiert wurde und die Untersuchungsvarianten daraufhin strukturell verändert oder ergänzt wurden. Einzige Ausnahme ist, dass bei Falkensee auf Initiative des Landes Brandenburg noch eine Variante gerechnet wurde, in der die Regionalbahn zwischen Nauen und Falkensee im Berufsverkehr bis Berlin-Charlottenburg geführt wurde.
Aber wenn sich in den Modellrechnungen zeigt, dass für viele Falkenseer mit dem Wegfall von Regionalverkehrsangeboten zugunsten der S-Bahn der öffentliche Verkehr unattraktiver wird, während andererseits viele Spandauer von einer S-Bahn erheblich profitieren, dann muss das Anlass sein, Varianten zu entwickeln, die die Bedürfnisse von Falkenseer und Spandauer Fahrgästen gleichermaßen berücksichtigen. Weil das nicht geschah, kann der Bund nun erklären, eine Variante, bei der es zu Verschlechterungen für einen Teil der Fahrgäste komme, werde er nicht finanzieren.
Bei der Stammbahn ist die Situation ähnlich. Weil die Kosten für den Wiederaufbau eines Regionalverkehrsgleises auf der Wannseebahn zwischen Zehlendorf und Potsdamer Platz sehr hoch sind, drückt das auf den gesamten Nutzen-Kosten-Faktor. Warum wurde in dieser Situation nicht eine Variante betrachtet, die S-Bahn von Zehlendorf nach Südwesten zu führen, deren Infrastruktur nördlich von Zehlendorf vorhanden ist?
In den Diskussionen über die Gutachten drängte sich wiederholt der Verdacht auf, dass es unerheblich war, wie die Ergebnisse aussehen. Immer wieder wurde darauf verwiesen, dass für eine Bestellung der zusätzlichen Leistungen weder in Brandenburg noch in Berlin Gelder zur Verfügung gestellt werden könnten. Statt „könnten“ muss es allerdings „sollen“ heißen, denn beide Länder geben ihre Regionalisierungsmittel keineswegs vollständig für SPNV-Bestellungen aus. Unbeschadet dessen stellt sich die Frage, warum teure Nutzen-Kosten-Untersuchungen in Auftrag gegeben wurden, wenn man ohnehin nichts verändern will? Und wie wollen die Länder Berlin und Brandenburg erreichen, dass der wachsende Stadt-Umland-Verkehr zu einem möglichst großen Anteil auf der Schiene stattfindet, wenn sie nichts für eine Verbesserung des Angebots unternehmen wollen?
Unmittelbar nach dem Mauerfall wurden sehr schnell die Straßen zwischen West- Berlin und Ost-Berlin sowie zwischen West- Berlin und Brandenburg wiederaufgebaut. Nicht ganz so schnell erfolgten die Lückenschlüsse im BVG-Netz, aber noch vor der Jahrtausendwende war zumindest das U-Bahn-Netz vollständig wiederhergestellt.
Sehr viel langsamer erfolgte die Schließung der als Folge des Mauerbaus seit 1961 vorhandenen Lücken im S-Bahn- und Regionalverkehrsnetz. Alle Strecken, die nicht in den 90er Jahren in den Zeiten der Hochstimmung nach dem Mauerfall wiederaufgebaut wurden, liegen heute noch brach und werden umfänglichen Prüfungen unterzogen, die die Ziele der deutschen Wiedervereinigung vollkommen außer Acht lassen.
Zwischen dem einstigen West-Berlin und Brandenburg wächst auf der Schiene noch immer nicht zusammen, was zusammen gehört. Die Folgen der deutschen Teilung und des Mauerbaus werden somit für die Fahrgäste zur Belastung auf Dauer.
Bereits eine erste Analyse der Nutzen- Kosten-Untersuchungen zur S-Bahn nach Falkensee und zur Potsdamer Stammbahn zeigt, dass die für das Ergebnis so wichtigen Rahmensetzungen voller Merkwürdigkeiten stecken. Aber viel unverständlicher ist, dass der politische Wille zur Überwindung der Folgen der deutschen Teilung abhanden gekommen ist und die Strecken verloren zu gehen drohen, die nicht zu denen gehörten, die in den ersten Jahren nach dem Mauerfall ohne jede Prüfung wiederaufgebaut wurden. Offensichtlich gilt: Wer zu spät kommt, den bestraft der Bundesverkehrsminister. Aber ist Minister Tiefensee nicht auch für den „Aufbau Ost“ zuständig?
Beide Nutzen-Kosten-Untersuchungen und der Landesnahverkehrsplan sind auf der Internetseite des Ministeriums für Infrastruktur und Raumordnung veröffentlicht und können heruntergeladen werden: www.mir.brandenburg.de
IGEB S-Bahn und Regionalverkehr
aus SIGNAL 2/2008 (Mai 2008), Seite 7