Kein Meilenstein
Der von den einen erhoffte, von den anderen befürchtete Umbruch bei Bahnen und Bussen ist ausgeblieben. Doch wie sieht die Zukunft aus?
15. Mai 2008
Im Mai 2007 verabschiedete das Europäische Parlament die „Verordnung zur Ausschreibung der öffentlichen Personenverkehrsdienste (1191/69)“. Mein Fazit in SIGNAL 4/2007 lautete: Der von den einen erhoffte, von den anderen befürchtete Umbruch bei Bahnen und Bussen wird ausbleiben. Ein Jahr nach der Verabschiedung und ein Jahr vor dem Inkrafttreten der Verordnung ist diese Einschätzung noch nicht überholt – leider.
Die neue Verordnung stellt den kleinsten gemeinsamen Nenner der Nationalstaaten dar. Die Interessen der etablierten Verkehrsunternehmen, ob nun privat, kommunal oder staatlich, mit ihren vielen großen oder kleinen Monopolen, wogen offensichtlich schwerer als das ursprüngliche Ziel, durch mehr Wettbewerb – regulierten Wettbewerb! – und durch Finanzierungstransparenz einen attraktiveren und effizienteren Nahverkehr mit Bahnen und Bussen zu erreichen. „Verkrustete Strukturen“, so auch Münchens Oberbürgermeister Christian Ude, werden mit dieser Verordnung nicht aufgebrochen.
Zur Erinnerung: Deutschland und Frankreich konnten durchsetzen, dass der Schienenpersonennahverkehr (S- und Regionalbahnen) von der Verordnung ausgenommen wurde. Und die Nahverkehrsunternehmen (U-Bahn, Straßenbahn, Bus) erreichten, dass
einerseits die großen kommunalen Verkehrsbetriebe in den Großstädten per Direktvergabe weiter bedient werden können und andererseits die Marge für kleine und mittlere Unternehmen so hoch gesetzt wurde, dass z. B. in Deutschland rund 90 Prozent der Verkehrsdienste von der neuen Verordnung nicht erfasst werden. Doch Deutschlands Verkehrsminister Wolfgang Tiefensee wertete die Einschränkungen der Verordnung als Erfolg und brüstete sich, „das bewährte deutsche ÖPNV-System“ bis ins Jahr 2022 gerettet zu haben.
Dieses „bewährte System“ sieht z. B. so aus, dass die Bundesländer über die Trassen- und Stationspreise die Infrastruktur des deutschen Eisenbahnnetzes bezahlen. 66 Prozent aller Trasseneinnahmen und 86 Prozent der Stationsentgelte werden in Deutschland vom Schienenpersonennahverkehr (SPNV) aufgebracht, ohne dass die Länder als Besteller des SPNV auch nur den geringsten Einfluss auf die Verwendung der Mittel durch die DB AG haben. Der neue Berliner Hauptbahnhof z. B. wird also nicht vom ICE-Verkehr, sondern hauptsächlich vom S-Bahn- und Regionalverkehr finanziert.
Hinzu kommt, dass sowohl die Standards wie auch die Preise für die Trassen und Stationen von der DB AG ohne Mitwirkungsmöglichkeit der Bundesländer festgelegt werden. Aktuelles Beispiel ist die angekündigte Anhebung der Trassenpreise der DB Netz AG um den Rekordwert von 3,8 Prozent im Jahr 2009. Zu Recht hat der Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg gefordert, dass die Bundespolitik endlich die gesetzlichen Voraussetzungen schaffen soll, damit die Bundesnetzagentur als zuständige Regulierungsbehörde Preisanhebungen der DB AG auf ein gerechtfertigtes und nachvollziehbares Maß begrenzen kann.
Kaum besser sind die Möglichkeiten der Bundesländer, die Investitionsentscheidungen der DB AG zu beeinflussen. Hier erkaufen sie sich nur dann geringe Mitgestaltungsrechte, wenn sie Vorhaben weitgehend oder vollständig selbst finanzieren.
Auch die Diskriminierung der vielen kleinen Wettbewerber wird durch die neue EU-Verordnung nicht beseitigt. In meinem Bericht zur „Durchführung des ersten Eisenbahnpakets“ wurden zahlreiche Klagen von in den Markt eintretenden Unternehmen aufgelistet, die mit den bestehenden staatlichen Eisenbahnunternehmen konkurrieren. In ihren Beschwerden haben sie beispielsweise angemahnt – ich zitiere jetzt wörtlich aus dem vom Europäischen Parlament am 12. Juli 2007 mit großer Mehrheit verabschiedeten Bericht –
Dabei zeigt die Erfahrung: Wettbewerb belebt das Geschäft. Die EU-weite Öffnung der Schienennetze für den Eisenbahn-Güterverkehr ist ein voller Erfolg. Diejenigen Länder, die sich schon vor Jahren darauf vorbereitet hatten, verzeichneten einen großen Zuwachs. So stieg der Gütertransport auf Schienen zwischen 1999 und 2006 in Deutschland um 25 Prozent, in Polen um 30 Prozent, in den Niederlanden um 43 Prozent und in England um 60 Prozent. In Frankreich, wo der freie Zugang erst zum letztmöglichen Termin am 1. Januar 2007 eingeführt wurde, sank er im selben Zeitraum um 28 Prozent. Dies hat in Frankreich nicht nur Auswirkungen auf die Arbeitsplätze und die Qualität des Angebots, sondern auch auf das Klima, weil die der Schiene verloren gegangenen Güter nun auf der Straße transportiert werden.
Ein Beispiel: Die DB AG wollte die 34 Kilometer lange Eisenbahnverbindung zwischen Kaarst, Düsseldorf und Mettmann stilllegen, weil dort nur 500 Personen pro Tag unterwegs waren. Nachdem die Strecke vom Zweckverband übernommen, ausgeschrieben und zusammen mit dem Ausschreibungsgewinner Connex/Veolia modernisiert und fahrgastgerecht ausgestaltet wurde, stiegen die Fahrgastzahlen innerhalb von 8 Jahren auf knapp 20 000, das ist eine Steigerung um 3700 Prozent!
Solche Zuwachsraten widersprechen den Rahmenbedingungen für eine standardisierte Bewertung. Diese hat als Höchstquote einen Zuwachs von 30 Prozent ermittelt. Das wären auf dieser Strecke 650 Fahrgäste gewesen, womit der Ausbau und die Modernisierung nicht wirtschaftlich gewesen wären! Nicht nur aus der Sicht eines Fahrgastes, auch als Grüner, der den Klimawandel bekämpfen will, wünsche ich mir mehr von solchen Aktivitäten.
Aber vor dem Hintergrund der deutschen Debatte um die Privatisierung der DB möchte ich noch einmal ausdrücklich betonen: Die Grünen sind für den Wettbewerb auf Straße, Schiene, zu Wasser und in der Luft. Doch die Infrastruktur muss in öffentlicher Hand bleiben. Das Desaster, das die Briten erlebten, darf sich nicht wiederholen!
Michael Cramer, MdEP, Verkehrspolitischer Sprecher der Fraktion Grüne/EFA im Europäischen Parlament
aus SIGNAL 2/2008 (Mai 2008), Seite 22-23