Krasse Fehlentscheidung
Seit Jahren werden der Standard bei Bahnhöfen und Strecken abgesenkt und Ausbaumaßnahmen zurückgestellt. Aber beim Berliner Hauptbahnhof soll plötzlich ein hoher Millionenbetrag für eine Verlängerung des Bahnsteigdachs ausgegeben werden, die nur wenigen Fahrgästen nutzt, aber eine mehrmonatige Sperrung der Berliner Stadtbahn bedeutet...
18. Jul 2008
Am 19. Juni 2008 legte das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung den Bundestagsabgeordneten seinen „Bericht über die Machbarkeit einer Verlängerung des Hallendachs des Berliner Hauptbahnhofes auf die ursprünglich geplante Länge“ vor. Das Dach über den Stadtbahnsteigen ist heute 321 Meter lang und damit gut ein Viertel kürzer als vom Architekturbüro gmp geplant. Bahnchef Hartmut Mehdorn hatte die Kürzung verfügt, weil sonst nach Angaben seiner Planer eine Fertigstellung des neuen Bahnhofs rechtzeitig vor der Fußball- Weltmeisterschaft im Juni 2006 nicht möglich gewesen wäre.
Der Bericht, nachlesbar unter www.allianzpro- schiene.de, schließt mit der Empfehlung: „Der Kostenaufwand einer Dachverlängerung und die damit verbundenen befristeten erheblichen Verkehrsbeeinträchtigungen scheinen im Verhältnis zu den gestalterischen und funktionalen Vorteilen für den zentralen Hauptstadtbahnhof noch vertretbar.“
Seit Eröffnung des Hauptbahnhofs im Mai 2006 wurden viele
Mängel beseitigt, aber allzuviele bestehen noch immer.
Die Verbesserungen:
+ Zusätzlicher Servicepoint und Abfahrttafel am Washingtonplatz
+ Mehr Sitze im Hbf
+ Aktuelle Stadtpläne im Hbf
+ Wenigstens eine Mini-Postagentur
+ Nach anderthalb Jahren endlich Hinweis „Kein Zugang“ am Notausgang
auf dem Washingtonplatz
+ W-LAN-Punkte
+ TXL-Halt Washingtonplatz
+ BVG-Anzeigetafel auf den Vorplätzen
+ Deutlicher TXL-Hinweis an der Haltestellenstele
+ Fußgängerampel Invalidenstraße: Anforderung nicht mehr erforderlich
Einige der Mängel:
- Kein Dach vom Vorplatz zu den Bushaltestellen Invalidenstraße.
- Zu kleine Buswartehallen Invalidenstraße und Washingtonplatz
- Z.T. mangelhafte Ausschilderung im Bahnhof, z. B. zum Gleis 1
- Keine Anzeige der Liniennummer beim Regionalverkehr auf den Anzeigetafeln
Neues Ärgernis: Drehtüren statt automatischer Schiebetüren an
den Haupteingängen.
Lobenswert: die weiterhin gute Sauberkeit im Hbf
Zum Kostenaufwand heißt es im Bericht: „Eine Realisierung innerhalb von 3 Jahren und mit einem Kostenaufwand von geschätzt 53 Mio. Euro (netto) (37 Mio. Euro für die Dachverlängerung einschließlich Baunebenkosten, 16 Mio. Euro Folgekosten aus der Störung des Bahnbetriebs) erscheint machbar.“
Die Allianz pro Schiene hat zurecht darauf hingewiesen, dass zu den netto 53 Mio. Euro natürlich noch 19 Prozent Umsatzsteuer hinzugekommen. Dann liegen die Kosten bereits bei 63 Mio. Euro. Und auch dieser Betrag enthält noch längst nicht alle Kosten.
Für die Baustelleneinrichtung und Vormontage werden große Flächen im Umfeld des Bahnhofs benötigt, die für viel Geld von Bebauung frei gehalten bzw. beräumt werden müssen. Das Land Berlin wird man zwingen können, die Kosten der vorübergehenden Verlagerung der Busaufstellflächen selbst zu tragen und seine Flächen, zum Beispiel mehrere Straßenabschnitte, unentgeltlich zur Verfügung zu stellen. Die Privatunternehmen werden sich das aber teuer bezahlen lassen.
Außerdem kann die Straßenbahn dann 2011 noch immer nicht zum Hauptbahnhof verlängert werden, weil für die Vormontage auch die Wendeschleife mit den Aufstellgleisen benötigt wird, was manchem Senatsplaner wahrscheinlich sogar gelegen kommt. Aber die gesamte Bahnhofsumfeldentwicklung wird um mindestens drei Jahre zurückgeworfen. Auch das sollten alle Politiker bedenken, die jetzt die städtebaulichen Vorteile der Dachverlängerung rühmen.
Rechnet man alle Kosten zusammen, die am Ende auf Bund, Land und Bahn zukommen, so darf man ohne Übertreibung von einem
100-Millionen-Euro-Projekt sprechen. Hinzu kommen Folgekosten in unbekannter Höhe, weil der Bericht bezeichnenderweise hierzu keine Aussagen trifft. Dabei weiß die Bahn aus leidvoller Erfahrung inzwischen recht genau, wie mühsam und teuer Reinigung und Wartung dieser individuellen Dachkonstruktion sind.
Absurd sind die Lärmschutzargumente, die bei der Diskussion im Bundestagsausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung am 25. Juni betont wurden. Die Verlängerung sei nicht nur aus architektonischen und baukulturellen Gründen wichtig, sondern auch aus Gründen des Lärmschutzes, denn der mit der Dachverlängerung einhergehende Lärmschutz führe zu einer Aufwertung des gesamten Bahnhofsareals als Wohngebiet.
Doch die Tatsachen sehen anders aus: An der Ostseite ist die Dachverlängerung mit gut 20 m viel zu kurz, um Lärm von der am Humboldthafen geplanten Bebauung abhalten zu können. An der Westseite ist beiderseits der Dachverlängerung ein sogenanntes Kerngebiet ohne Wohnungen im Nahbereich des Bahnhofs geplant. Denn die Senatsplaner mussten bei der Aufstellung des Bebauungsplanes davon ausgehen, dass es hier niemals ein Bahnhofsdach geben wird.
Überall spart die Bahn, gerade bei der Qualität der Bahnhöfe. Erst kurz vor bekannt werden des Berichts zum Hauptbahnhofsdach wurden die Berliner Fahrgäste von der Nachricht erschreckt, dass am S-Bahnhof Ostkreuz beim Neubau des Ringbahnsteigs aus Kostengründen auf die Bahnsteighalle verzichtet werden soll. Täglich 80 000 Fahrgäste würden dann Wind und Wetter ausgesetzt sein. Und auf immer mehr Berliner S-Bahnhöfen werden die Zugzielanzeiger auf den Bahnsteigen durch Blechschilder ersetzt, die wie auf einem Dorfbahnhof nur noch die Fahrtrichtung, nicht aber das Ziel angeben.
Auch die Nachricht, dass die Deutsche Bahn den Streckenausbau Berlin—Cottbus mit anschließender deutlicher Fahrzeitverkürzung aus Kostengründen auf unbestimmte Zeit vertagen will, ist noch frisch (siehe Seite 16).
Diese Liste ließe sich noch lange fortsetzen und auf alle Bundesländer erweitern. Deshalb ist es schlicht unverhältnismäßig, wenn Bundesregierung und Bundestag in solchen Zeiten einen hohen Millionenbetrag für ein Luxusprojekt wie die Dachverlängerung am Berliner Hauptbahnhof ausgeben würden.
Man kann die Argumentation natürlich auch umdrehen. Das Argument „Wir haben kein Geld“ ist offensichtlich nur vorgeschoben. Es fehlt bei Bund und Bahn nicht am Geld, sondern an der Bereitschaft und Fähigkeit, dieses Geld dort auszugeben, wo es tatsächlich einer großen Zahl von Fahrgästen nutzt.
Berliner Fahrgastverband IGEB
aus SIGNAL 3/2008 (Juli 2008), Seite 3-5