Neuer Ärger für die Fahrgäste
In den Jahren 2002 bis 2004 wurde die Bahnstrecke Berlin—Hamburg für eine Höchstgeschwindigkeit von 230 km/h ausgebaut. Neben kontinuierlichen Einschränkungen gab es auf dem Abschnitt Nauen—Wittenberge auch eine elfwöchige Vollsperrung. Nun gibt es 2009 zwischen Nauen und Wittenberge schon wieder eine Vollsperrung. Dabei wäre dieser Ärger für die Fahrgäste vermeidbar gewesen.
1. Mai 2009
Zwischen Berlin und Hamburg werden im Zeitraum vom 1. März bis 13. Juni 2009 ca. 250 000 marode Betonschwellen aufgrund von Produktionsfehlern vorfristig ausgetauscht. Während auf dem überwiegenden Teil der Strecke dafür jeweils ein Gleis gesperrt wird, erfolgte auf dem Abschnitt Nauen—Wittenberge ab 14. März eine Vollsperrung.
Die ICE-Züge werden vom 1. März bis 13. Juni über Stendal, Salzwedel und Uelzen umgeleitet. Die Fahrzeit verlängert sich zwischen Berlin und Hamburg dadurch je nach Verbindung um 35 bis 45 Minuten. Ein ICE- und lediglich ein EuroCity-Zugpaar (EC 172/173) werden über Stendal—Wittenberge— Ludwigslust geführt.
Die RE-Linie 4 Ludwigsfelde—Berlin— Nauen—Wittenberge—Schwerin—Wismar verkehrt vom 14. März bis zum 13. Juni nur bis Nauen. Der Abschnitt Nauen—Wittenberge wird durch zwei Buslinien im Schienenersatzverkehr bedient. Bei der Buslinie A, die den gesamten Abschnitt befährt, verlängert sich die Fahrzeit gegenüber dem RegionalExpress um mehr als anderthalb Stunden! Bereits im Zeitraum vom 14. Juli bis zum 27. September 2003 hatte es beim Ausbau der Strecke für 230 km/h eine ähnliche Situation gegeben. Der Abschnitt Wittenberge—Schwerin— Wismar wird durch die RE-Linie 2 befahren, die ab Rathenow nach Norden verlängert wurde.
Nach der im Jahr 2000 getroffenen Entscheidung, das Transrapidprojekt Berlin— Hamburg aufzugeben, wurde die Bahnstrecke
Berlin—Wittenberge—Hamburg für 230 km/h ertüchtigt. Schon im Rahmen der umfangreichen Baumaßnahmen für diesen ergänzenden Ausbau waren die Qualitätsmängel der eingebauten Betonschwellen bekannt und es war bereits 2003 klar, dass die eigentliche Lebensdauer von mindestens 25 Jahren nicht erreichbar ist. Auf einen umfassenden Austausch wurde jedoch verzichtet – eine fatale Fehlentscheidung!
Durch die Gewährleistung einer hohen Qualität der in den 1990er Jahren eingesetzten Oberbaumaterialien wäre die jetzige Sanierung überflüssig gewesen und den täglich über 10 000 Bahnkunden im Fernverkehr, darunter etliche Berufspendler, bliebe viel Ärger erspart. Und die Deutsche Bahn hätte unter dem Strich viel Geld gespart. Deshalb schweigt sie sich über die Kosten für die jetzige Sanierung beharrlich aus.
Bei einer zweigleisigen Strecke kann eine Sanierung in der Regel bei Sperrung eines Gleises durchgeführt werden. Diese Variante ist zwar vergleichsweise teurer als eine Komplettsperrung, die negativen Auswirkungen für die Bahnkunden in Form von Schienenersatzverkehren mit teilweise erheblichen Fahrzeitverlängerungen oder Umleitungen können dafür begrenzt werden. Dies gilt erst recht, wenn die Länge der Baustelle eben nicht rund 90 km wie zwischen Nauen und Wittenberge beträgt, sondern in kürzere Abschnitte aufgeteilt wird.
Nicht nur im vorliegenden Fall rächen sich die Rückbaumaßnahmen der vergangenen Jahre, die zu einem teilweise deutlich geschrumpften, extrem durchrationalisierten Netz geführt haben. Dadurch wird es zunehmend schwieriger, u. a. Bauzüge für die notwendige Materialan- bzw. abfuhr zwischen anderen Zügen verkehren zu lassen bzw. in Bahnhöfen bereitzustellen. Dies dürfte zu der jetzigen Lösung – zu Lasten der Bahnkunden – entscheidend beigetragen haben, denn der Einsatz von Schnellumbauzügen (SUZ) erfordert natürlich auch eine entsprechend leistungsfähige Materiallogistik.
Nach dem Streckenausbau für 230 km/h konnte die Fahrzeit zwischen Berlin Hbf und Hamburg Hbf auf rund 90 Minuten verkürzt werden. Zugleich wurden die Fahrpreise zwischen Berlin und Hamburg spürbar angehoben. Auch in den Folgejahren führte dieser „Attraktivitätszuschlag“ zu überdurchschnittlichen Fahrpreiserhöhungen. So zahlte ein Fahrgast vor Inbetriebnahme der ausgebauten Strecke im Dezember 2003 in der 2. Klasse für den ICE 47,60 Euro (einfache Fahrt), derzeit sind es 68 Euro– eine Steigerung um rund 43 Prozent!
Wenn nun das Fernverkehrsangebot durch eine mehrmonatige Baustellenumleitung deutlich langsamer wird, muss es in dieser Zeit konsequenterweise auch Fahrpreisreduzierungen geben – und zwar für alle Kundengruppen. Es ist zu wenig, wenn die Reisenden mit einem Snack, einem Gratisgetränk und einer Zeitung (montags bis freitags) „abgespeist“ werden.
Die derzeitige Kulanzregelung sieht lediglich für Pendler, die Inhaber einer JahresCard oder eines Job-Tickets sind, einen anteiligen Preisnachlass vor. Eine vergleichbare Regelung wäre aber z. B. auch für Inhaber der Mobility BahnCard 100 erforderlich, wenn vorzugsweise die Strecke Berlin— Hamburg genutzt wird. Der entsprechende Nachweis (Wohnsitz, Arbeitgeber) kann vom betroffenen Personenkreis schließlich erbracht werden.
Im Fall der laufenden Sanierung der Bahnstrecke Berlin—Hamburg sind Korrekturen nun praktisch nicht mehr möglich, aber künftig müssen bei vergleichbaren Projekten derart gravierende Einschränkungen im Interesse der Bahnkunden vermieden werden. Doch schon jetzt zeichnet sich beim Ausbau der Bahnstrecke Berlin— Cottbus für eine Höchstgeschwindigkeit von 160 km/h erneuter Ärger für die Fahrgäste ab: Hier müssen die im Rahmen des Konjunkturpakets I für den Ausbau des Abschnitts Berlin—Lübbenau bereitgestellten Investitionsmittel in den Jahren 2009 und 2010 ausgegeben werden. Um diesen Zeitrahmen einhalten zu können, droht damit bereits die nächste Vollsperrung einer u. a. für viele Berufspendler wichtigen zweigleisigen Bahnstrecke.
IGEB Fernverkehr
aus SIGNAL 2/2009 (Mai 2009), Seite 5-6