Aktuell
Ob man es nun Oktober- oder November-Revolution nennt, eine Revolution war es. Und die Auswirkungen betreffen keineswegs nur die DDR. Auch in Berlin (West) hat mit dem 9. November 1989 eine neue Epoche begonnen. Und nirgends war es so deutlich zu sehen und zu spüren (und auf den Hauptverkehrsstraßen zu riechen), wie beim Verkehr. Der nachfolgende Beitrag will einen Eindruck davon vermitteln. Mehr nicht. Mehr ist gar nicht möglich, denn zu viel ist seither geschehen, als daß es in einem Artikel berichtet werden könnte, und noch viel mehr wird geschehen, was gestern noch unvorstellbar war und morgen schon alltäglich sein wird.
1. Dez 1989
In den ersten Novembertagen, als man in Berlin (West) noch davon ausging, dass die Öffnung der Grenzen für die DDR-Bürger im Dezember erfolgen werde, lagen die Schätzungen bei 100.000 bis 300.000 Besuchern pro Wochenende in Berlin (West). Man stritt, ob das eine Sperrung des Kurfürstendammes für den Autoverkehr rechtfertige. Als dann am Abend des 9. November die Grenzen geöffnet wurden, brauchte man nicht mehr zu streiten. Schon gegen 3 Uhr nachts mußte der Kurfürstendamm zum ersten Mal wegen Überfüllung gesperrt werden. Inzwischen hat sich der Verkehr in der City fast schon wieder normalisiert, jetzt sind die bezirklichen Zentren in den Mittelpunkt des (Einkaufs-) Interesses gerückt.
Nach insgesamt rund zwei Millionen Besuchern in den ersten drei Tagen (das entspricht der Einwohnerzahl von Berlin (West», sind es jetzt "nur noch" schätzungsweise 300.000 pro Tag, genug, um einige Bus- und U-Bahn-Linien der BVG auszulasten bzw. zu überlasten. Denn dieser Mehrverkehr ist derzeit fast ausschließlich während der Ladenöffnungszeiten zwischen 9.00 Uhr und 18.00 Uhr zu bewältigen. Damit gibt es nun auch in Berlin (West) ein starkes Gefälle zwischen den Hauptverkehrszeiten am Tag und der Nebenverkehrszeit am Abend und in der Nacht, wie wir es bisher nur aus anderen Städten kennen.
Dass es überhaupt gelang, diesen gewaltigen Mehrverkehr mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu bewältigen, hatte im wesentlichen vier Ursachen:
- Durch die Smog-Regelungen muß die BVG schon seit einigen Jahren Pläne für kurzfristigen starken Mehrverkehr in der Schublade haben.
- Durch die neue Verkehrspolitik von SPD und AL war die BVG seit dem Frühjahr diesen Jahres auf "Expandsionskurs" gebracht worden. "Ohne diese veränderte Verkehrspolitik hätte die BVG insbesondere im Busbereich nicht die Kapazitäten gehabt, um die großen Aufgaben nach dem 9. November zu bewältigen" äußerte kürzlich der für den Busverkehr zuständige BVG-Abteilungsleiter Wolfgang Jähnichen.
- Eine unentbehrliche Hilfe waren Busse und Fahrer von zahlreichen westdeutschen Verkehrsbetrieben und OstBerliner S-Bahn-Züge der Deutschen Reichsbahn, mit deren Hilfe seit dem 11. November zwischen Friedrichstraße und Wannsee täglich Vollzüge (8 Wagen) im 10-Minuten-Takt verkehren können.
- Unentbehrlich war schließlich auch das über alles bisher erlebte hinausgehende Engagement der BVG-Mitarbeiter, die zahlreiche Uberstunden machten und dennoch überwiegend sehr freundlich waren.
Daß es dennoch immer wieder zu Überlastungen der BVG und auch der DR kam, ist das jahrelangen falschen Verkehrspolitik, die nie begriffen hatte, dass ein leistungsfähiger öffentlicher Verkehr lebenswichtig für einen Ballungsraum wie Berlin ist, und die trotz aller damals und heute angeschlagenen Wiedervereinigungs- Töne Vorreiter für die Zementierung der Teilung war. Letzteres trifft vor allem für die Berliner CDU zu. So wollte ihr Verkehrssenator Wronski unbedingt für die Verlängerung der U-Bahnlinie 9 einen Abschnitt der S-Bahn nach Lichterfelde Süd nutzen, auch noch nach der Wahlniederlage seiner Partei am 29. Januar. Und Herr Wronski hat es mitzuverantworten, daß schon viele Millionen in ein neues Signalsystem (EZS 800) für die West-Berliner SBahn gesteckt wurden, das nicht mit dem Signalsystem in Berlin (West) kompatibel ist. Der CDU/F.D.P.-Senat war es schließlich auch, der die innerstädtische U-Bahn-Strecke zwischen Gleisdreieck im Westen und Potsdamer Platz im Osten für die Magnet-Bahn freigab.
Es läßt sich ohne Übertreibung feststellen, daß die IGEB zu den wenigen Organisationen dieser Stadt gehörte, die nie den Blick für das Umland und den grenzüberschreitenden Verkehr dorthin und weiter bis nach Malmö, Warschau oder Prag verloren hatte, die stets auf die geographische Lage Berlins hingewiesen und den einseitigen Blick nach Westen kritisiert hat. Es gab ja nicht wenige Politiker in Bonn und Berlin (West), die die Eisenbahnverbindungen im Wesentlichen auf eine (Hochgeschwindigkeits- )Vorortstrecke Hannover - Berlin begrenzen wollten. Diese falsche Verkehrspolitik wirkt nun noch nach. Solche Defizite von Jahren können natürlich auch nach einer Revolution nicht in Wochen aufgeholt werden.
Doch die neue Entwicklung und die übervollen Züge, die den Berlinern das Gefühl von Urlaub in Paris oder Tokio vermittelten, nun aber zunehmend als lästig empfunden werden, bieten eine große Chance. Denn die Notwendigkeit zum Ausbau des öffentlichen Nah- und Fernverkehrs ist nun für (fast) alle einsichtig. Es geht nur noch um das Wie und um das Wann.
Wer hätte sich im Oktober schon vorstellen können, daß es im November gelingt, den Vorschlag der IGEB zur Offnung des: U-Bahnhofs Jannowitzbrücke als Grenzübergang in wenigen Stunden zwischen Ost und West abzustimmen und umzusetzen? Wer hätte sich vorstellen können, daß die langjährige Forderung der IGEB nach Direktzügen zwischen Berlin (West) und der DDR innerhalb weniger Tage Realität wurde?
Doch bezeichnenderweise sah man in allen Medien nach dem 9. November immer wieder die "Trabbis" und nur relativ selten Bahnen und Busse. Dabei kamen, begünstigt durch die kostenlose BVG-Benutzung, winterliche Straßenverhältnisse und die Angst vor westlichem Großstadtverkehr, rund 90% der DDR-Bürger mit der BVG bzw. zu Fuß und vereinzelt mit dem Fahrrad nach Berlin (West) und nur rund 10% per Auto.
Umso fataler wäre es, wenn jetzt alle in der Diskussion befmdlichen neuen Straßenübergänge und alle alten, scheinbar längst begrabenen Straßenausbauprojekte realisiert würden,während die Bahnplaner mal wieder in den Startlöchern stecken bleiben. Denn wenn nicht bald weitere Sofortmaßnahmen bei BVG und Reichsbahn nicht nur diskutiert, sondern endlich realisiert werden, dann werden DDR-Bürger und West-Berliner spätestens im Frühjahr von der überlasteten BVG auf das Auto abwandern.
IGEB
aus SIGNAL 10/1989 (Dezember 1989), Seite 4-6, 28