Stuttgart 21

Neubaustrecke Wendlingen—Ulm unwirtschaftlich und verfassungswidrig


Winfried Hermann, MdB, Vorsitzender im Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, Dr. Anton Hofreiter, MdB, Sprecher für Verkehrspolitik, Bündnis 90 / Die Grünen

30. Dez 2010

Vorhanden: Stuttgart—Ulm über Geislingen (schwarz). Geplant: Stuttgart—Ulm über Wendlingen (rot). In Wendlingen trifft die Neubaustrecke auf die vorhandene Strecke Stuttgart—Wendlingen—Tübingen. Deshalb könnte Wendlingen—Ulm auch gebaut werden, wenn das Projekt „Stuttgart 21“, also die Neubaustrecke Stuttgart—Wendlingen mit dem Hauptbahnhof als Tunnelbahnhof, nicht kommt. Aber auch Wendlingen—Ulm würde mehrere Milliarden Euro kosten. Karte: Stoeffler

Jetzt ist die Katze aus dem Sack: Die Neubaustrecke Wendlingen—Ulm ist unwirtschaftlich. Sie kommt nur auf ein Nutzen- Kosten-Verhältnis von 0,92 ohne Güterzüge, die dort nie fahren werden. Laut Bundeshaushaltsordnung darf ein Projekt aber nur gebaut werden, wenn der Nutzen mindestens so hoch ist wie die Kosten – ausgedrückt durch ein Nutzen-Kosten-Verhältnis von mindestens 1,0.

Projekte mit einem Nutzen-Kosten-Verhältnis unter 1, bei denen die Kosten den Nutzen übersteigen, verletzten das Gebot der Wirtschaftlichkeit, das in § 7 Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung festgelegt ist. Darin heißt es: „Für alle finanzwirksamen Maßnahmen sind angemessene Wirtschaftlichkeitsuntersuchungen durchzuführen. Dabei ist auch die mit den Maßnahmen verbundene Risikoverteilung zu berücksichtigen.“

SIGNAL-Redaktion

Mit dem Projekt „Stuttgart 21“ ist die Verlegung des Hauptbahnhofs mit seinen Zulaufstrecken unter die Erde gemeint. Fahrzeitgewinne werden zwischen Stuttgart und Ulm aber ausschließlich durch die Neubaustrecke Wendlingen—Ulm erzielt. Diese kann auch dann gebaut werden, wenn der Kopfbahnhof erhalten bleibt. Dennoch ist auch die Neubaustrecke umstritten.

Offiziell gibt das Bundesverkehrsministerium ein Nutzen-Kosten-Verhältnis von 1,2 an. Dieser Wert wird dadurch erzielt, dass angeblich 17 „leichte Güterzüge“ über die Strecke fahren sollen. Für diese Züge gibt es aber keinen Markt. Und selbst wenn diese 17 Güterzüge tatsächlich fahren sollten, könnten sie ohne Probleme auf der Altstrecke durch das Filstal mit der Geislinger Steige geführt werden. Dort gibt es genügend freie Trassen, da der Güterverkehr dort seit Jahren rückläufig ist. Die Züge könnten sogar schwerer sein als auf der Neubaustrecke, da die Steigungen geringer sind.

Eine Mischverkehrsstrecke für ICE-Verkehre und Güterzüge mit 17

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leichten Güterzügen zu begründen, ist ohnehin ein schlechter Scherz. Denn ohne Güterzüge könnte die Neubaustrecke mit wesentlich weniger Tunneln und höheren Steigungsparametern geplant werden, was Milliarden einsparen würde. So hat man es z. B. bei der Neubaustrecke Frankfurt am Main—Köln gemacht, die nur durch den ICE 3 befahren werden kann, dafür aber durch die Mittelgebirge Westerwald und Taunus mit vergleichsweise geringem Tunnelanteil führt.

Mit demselben Trick wurde die Wirtschaftlichkeit für die Neubaustrecke Nürnberg—Ingolstadt— München passend gerechnet. Sie betrug bei der politischen Beschlussfassung zum Bundesverkehrswegeplan 1985 ebenfalls nur 1,2 (siehe Antwort 24 in Drucksache 16/4783) und unterstellte 1999 ein Betriebsprogramm von 80 Güterzügen. Es fährt dort heute aber kein einziger Güterzug, weder tagsüber, wo es wegen eines Begegnungsverbots mit schnellen Reisezügen durch DB Netz untersagt ist, noch nachts, wo die Strecke für leichte Güterzüge befahrbar wäre, für die es aber offensichtlich keinen Bedarf gibt (siehe Antwort 7 und 8 in Drucksache 17/3311). Damit handelt es sich bei der Neubaustrecke Nürnberg—Ingolstadt—München um einen „Schwarzbau“, da er mit falschen Zahlen die Wirtschaftlichkeitsschwelle überschritten hat. Dieser Verstoß gegen Haushaltsrecht nach der gleichen Methode sollte kein weiteres Mal zugelassen werden.

Wir fordern Verkehrsminister Peter Ramsauer daher auf, reinen Tisch zu machen und das Projekt Neubaustrecke Wendlingen— Ulm aus dem Bedarfsplan zu streichen.

Die Neubaustrecke Wendlingen—Ulm ist zudem verfassungswidrig. Das Rechtsgutachten “Finanzverfassungsrechtliche Fragen des Stuttgarter Bahnhofskonfliktes” von Professor Hans Meyer bestätigte, dass die Mitfinanzierung des Landes Baden- Württemberg bei Bahnprojekten des Bundes verfassungswidrig und der Finanzierungsvertrag für das Doppelprojekt Stuttgart 21 und Neubaustrecke Wendlingen— Ulm deshalb nichtig ist. Zitat aus dem Gutachten: “Die Konsequenzen sind die Nichtigkeit des Finanzierungsvertrages, das Verbot weiterer Zahlungen und die Geltendmachung der geleisteten Zahlungen.”

Der Fall der Neubaustrecke Wendlingen—Ulm belegt beispielhaft, wie eine Entscheidung des Bundes massiv zu Gunsten eines einzelnen Bundeslandes beeinflusst werden kann. Dies geht zu Lasten von Projekten, die aus gesamtstaatlicher Sicht weitaus dringlicher sind. Faktisch wird mit Landesmitteln das Vorziehen einer nachrangigen Strecke erkauft und eine Entscheidung des Bundes, beide Projekte zu finanzieren, mit Milliarden Euro beeinflusst.

Es ist daher nicht die Frage, ob das Land aus der jetzigen Finanzierungsvereinbarung aussteigen kann, sondern ob es aus verfassungsrechtlichen Gründen aussteigen muss. Wir meinen mit Professor Hans Meyer: Ja, es muss!

Winfried Hermann, MdB, Vorsitzender im Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, Dr. Anton Hofreiter, MdB, Sprecher für Verkehrspolitik, Bündnis 90 / Die Grünen

aus SIGNAL 6/2010 (Dezember 2010/Januar 2011), Seite 8