Stuttgart 21
30. Dez 2010
Keine Sorge. Es ist nicht so, dass der viv e. V. meint die Weisheit mit Löffeln gefressen zu haben und jetzt die ultimative Bewertung des Großprojekts Stuttgart 21 abgeben möchte, keineswegs. Angesichts der offensichtlichen kommunikativen Schwierigkeiten um dieses Projekt – wenn man das so zurückhaltend ausdrücken kann – scheint es aber interessant zu fragen: Was lehrt uns das? Die Schlussfolgerung vorab: Das deutsche Planungsrecht hat vollständig versagt und wird den heutigen Bedürfnissen der Bürgerinnen und Bürger nicht gerecht. Es gehört dringend reformiert.
Versuchen wir eine Analyse: Fünf typische Problemzonen von Verkehrsinvestitionsprojekten lassen sich bei Stuttgart 21 beispielhaft isolieren:
Nach über 15 Jahren sind Argumente vergessen oder überholt. Zum großen Teil sind es nicht einmal mehr dieselben Beteiligten, die sich gegenüberstehen. Zudem ist Stuttgart 21 – ähnlich wie viele andere Projekte des Bundesverkehrswegeplans – ein „Schläfer“. An die Grundsatzentscheidungen kann sich kaum noch jemand erinnern, alle gingen davon aus, dass der Finanzmangel das Projekt „beerdigen“ würde, und tatsächlich herrschte viele Jahre Stille. Plötzlich tauchte das tot geglaubte Projekt wieder auf und die Grundsatzdiskussion lebte wieder auf. Wirtschaftliche Rahmenbedingungen haben sich geändert, der Zeitgeist ist ein anderer. Zahlen stimmen nicht mehr – natürlich, wie sollten sie auch nach Jahren? Erforderliche Neuberechnungen werden als Kostenexplosion und die Vorhabenträger als unehrlich wahrgenommen.
Der Musterbürger des deutschen Planungsrechts ist der Eigentümer, der sich gegen die Beeinträchtigung seines Grundstücks durch eine Verkehrsinvestition wehrt. Für ihn stellt das Rechtssystem ein Arsenal an Bremsklötzen bereit, die mehr oder weniger verfahrensbehindernd wirken können. Für den Bürger oder die Bürgerin, die sich – ohne direkte Betroffenheit – für das Projekt interessieren, Ideen oder Anregungen einbringen wollen, ist in dieser Welt kein Platz. Der engagierte Bürger fühlt sich ignoriert und überfahren.
Grundsatzfragen werden ohne Beteiligung der Bürger entschieden. Komplizierte Detailfragen von Planung und Bau dagegen der Bürgerbeteiligung unterworfen. Dabei geht es in den wenigsten Fällen tatsächlich um die Brutplätze
des Juchtenkäfers, sondern vielmehr um die grundsätzliche Frage: Wollen wir als Bürger diese Investition überhaupt? Nur diese Frage wird nicht gestellt.
An dieser Stelle soll das übliche Loblied auf die Schweiz nicht fehlen. Einzelmaßnahmen ordnen sich dort in das – vorher intensiv diskutierte – Konzept Bahn 2000 ein. Der Sinn der Einzelmaßnahme erschließt sich auch aus dem Zusammenhang. Davon kann angesichts des über die Jahre gewucherten Projektdschungels des Bundesverkehrswegeplans nicht die Rede sein. Keine erkennbare verkehrsträgerübergreifende Priorisierung, keine integrierte Planung, stattdessen die Gerechtigkeit der Gießkanne. Dass die Einzelmaßnahme Teil eines großen, konsequent verfolgten Plans sei – diesen Eindruck kann der Bürger in deutscher Planungswirklichkeit nicht haben.
Die Verhaltensmuster sind eigentlich immer gleich, ob Ortsumgehung, Autobahn oder Bahnhofsneubau: In der Planungsphase eher zurückhaltendes Interesse der Bürgerschaft. Rollt der erste Bagger, kommt das Erschrecken: Was wird denn hier gebaut, davon wusste ich ja nichts! Anschließend folgt der korrekte aber wenig hilfreiche Hinweis der Vorhabenseite auf abgeschlossene Planungsverfahren und erfolgreiche Rechtsverfahren. Verbitterung und der Eindruck „die machen ja eh, was sie wollen“ sind das Ergebnis.
Die Schlussfolgerungen sind so einfach wie naheliegend:
Ist das ein Plädoyer für Volksentscheide? Ganz klar nein. Die repräsentative Demokratie hat sich über 60 Jahre bewährt und sollte nicht entwertet werden. Wen dieses Argument nicht überzeugt, der sollte für sich die Frage beantworten, welches Volk denn zum Beispiel über Stuttgart 21 abstimmen sollte? Die Stuttgarter, weil es „ihr“ Bahnhof ist? Die Baden-Württemberger, weil ihr Steuergeld in die Maßnahme fließt? Oder alle Deutschen, weil es schließlich ein Bundesverkehrsweg und Teil einer internationalen Fernverbindung ist?
Vollends absurd wird die Frage, wenn man sich eine U-Bahn oder S-Bahn in einer beliebigen Großstadt vorstellt, die in der Regel überwiegend aus Bundesmitteln finanziert werden …
Müssen also die Bürger in Oldenburg und Berchtesgaden an die Wahlurne, um über die U 5-Verlängerung in Berlin zu entscheiden? Wohl kaum … das Schweizer Konzept funktioniert im Schweizer Verfassungszusammenhang, in Deutschland würde es zum Chaos führen.
Die strikte Ja-oder-Nein-Entscheidung ohne Zwischentöne ist aber auch gerade nicht das, was engagierte bürgerschaftliche Mitbestimmung ausmacht.
Online-Konsultationen – wie in einigen Ländern und Städten schon erprobt – geben viel mehr Spielraum effizienten Mitwirkens – vorausgesetzt, Politik und Verwaltung verstehen sie nicht nur als Alibiveranstaltung, sondern als Chance, eigene Positionen zu überdenken, bessere Problemlösungen zu finden und breiten gesellschaftlichen Konsens herzustellen.
Und eins noch: Zu viel Kommunikation kann es bei Vorhaben dieser Art nicht geben. Internet und moderne Präsentation ermöglichen heute eine ganz andere Art der Bürgerbeteiligung als noch vor 20 Jahren. Sicher, es macht Arbeit und einige der Anregungen werden wohl eher nicht hilfreich sein – egal, wenn es dem Konsens dient. In aller Bescheidenheit zeigt der viv e. V. mit seinen „Infotainment“-Veranstaltungen, wie man verkehrspolitische Fragestellungen populär darstellen kann.
Der Beitrag wurde im Oktober 2010 vor dem
Schlichtungsverfahren geschrieben.
Verkehrspolitischer Informationsverein e. V.
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Alexander Kaczmarek, viv e. V.
aus SIGNAL 6/2010 (Dezember 2010/Januar 2011), Seite 9