Report
Hamburg arbeitete schon daran, auch Wilmersdorf, und Berlin sowieso. Doch die erste U-Bahn in Deutschland, die im Auftrag einer Stadt gebaut und auf deren Rechnung betrieben wurde, ging in Schöneberg in Betrieb, am 1. Dezember 1910. Mit großen Ambitionen und Hoffnungen entstand Berlins heutige U 4 – und wurde rasch zu einer ebenso großen Enttäuschung. Doch das Schattendasein machte sie zum idealen Versuchsfeld: Viele Neuerungen wurden hier erprobt oder als erstes eingeführt.
1. Jan 2011
Die knapp drei Kilometer lange, fünf Stationen umfassende Schöneberger U-Bahn zwischen Nollendorfplatz und heutigem Innsbrucker Platz entstand, um das westliche Stadtgebiet aufzuwerten, welches teils gerade bebaut worden war, teils noch der Bebauung harrte. Durch die Errichtung „vornehmer“ Häuser, insbesondere in Gestalt des Bayerischen Viertels, sollten noch mehr wohlhabende Berliner dazu verleitet werden, nach Schöneberg zu ziehen – und nicht etwa in die Nachbargemeinden Charlottenburg und Wilmersdorf. Schließlich finanzierten sich die Kommunen im Kaiserreich wesentlich durch einen Zuschlag auf die Einkommensteuer. Eine bequeme, leistungsfähige Verbindung in das damalige Berlin mit einer hochmodernen elektrischen Schnellbahn war ein wichtiges Werbeargument, zumal in einer Zeit, als die individuelle Motorisierung noch in den Kinderschuhen steckte.
Schöneberg benötigte das Geld der neuen Bürger dringend, um seine Infrastruktur weiter auszubauen: Innerhalb weniger Jahre war aus der Klein- eine Großstadt geworden. Hatte sie 1890 noch 28 721 Einwohner gehabt, waren es 1910 schon 172 823. So diente denn die Schöneberger U-Bahn auch indirekt dem, was heutzutage „öffentliche Sicherung der Daseinsvorsorge“ heißt, als Teil einer Politik, die meinte, manche Aufgaben könne die öffentliche Hand besser als das private Unternehmertum erfüllen und müsse sie deshalb auch übernehmen. Dabei wurde die Stadt nicht etwa von den Sozialdemokraten beherrscht, sondern von Liberalen, angeführt von den Oberbürgermeistern Rudolph Wilde – der einen Monat vor der Eröffnung der U-Bahn überraschend starb – und Alexander Dominicus.
Nachdem Verhandlungen insbesondere mit der privaten Hochbahngesellschaft, die die seit 1902 in Berlin und Charlottenburg eröffneten Strecken betrieb, zu keinem Erfolg geführt hatten, baute Schöneberg seine U-Bahn einfach selbst: Mit Siemens & Halske quasi als Generalunternehmer und einem provisorischen Endbahnhof am Nollendorfplatz. Mit pompösen Portalen aus Muschelkalk und an den Berliner und Charlottenburger U-Bahnhöfen orientierter Architektur, die in Details allerdings höheren Anspruch zeigte, etwa in kostbarer wirkenden Fliesenverkleidungen. Hinzu kam in Gestalt der Station Rathaus Schöneberg – bis 1951 nach dem zusammen mit der U-Bahn angelegten Stadtpark benannt – eine Sehenswürdigkeit und ein Kuriosum, verdankt sie ihre Lichtfülle doch dem Umstand, gleichzeitig über der Erde und im Tunnel zu liegen. All dies entstand fristgerecht innerhalb von weniger als 27 Monaten, und die veranschlagten Baukosten wurden nicht nur eingehalten, sondern sogar deutlich unterschritten.
Schönebergs Stadtväter hätten es sich wohl nicht träumen lassen, von wie wenig Erfolg ihr mutiger Schritt gekrönt werden würde: Die von Anfang an geplante Weiterführung in Berlins Mitte kam ebensowenig zustande wie die Verlängerung in das – heute weitgehend von Kleingärten eingenommene – Schöneberger Südgelände, wo ein weiteres „vornehmes“ Wohnviertel vorgesehen war. Die Schöneberger U-Bahn, als Mittelstück einer viel längeren Strecke gedacht, blieb ein Fragment. Abgesehen vom Bau der heutigen unterirdischen Bahnsteighallen am Nollendorfplatz, der 1926 endlich das Ende des Inselbetriebs brachte, wurde sie nie erweitert, und wenn die U 55 an das Netz angeschlossen wird, wird sie wieder Berlins kürzeste U-Bahn-Linie sein.
Dabei war noch um 1920 nicht nur die Verlängerung in die alte City, wo wohl die meisten Neu-Schöneberger arbeiteten, in den Konzepten eines Groß-Berliner Schnellbahnnetzes aufgetaucht. Da man Radiallinien als ineffizient ansah, sollte die Strecke einerseits bis nach Lichterfelde, andererseits über die Linden zum Alexanderplatz führen und von dort nach Weißensee. Doch am Ende jenes Jahrzehnts spielte die Schöneberger U-Bahn in den großen Plänen nur noch eine kleine Rolle. Zum Verhängnis war ihr das Bestreben geworden, möglichst bald ans Netz der Hochbahngesellschaft angeschlossen zu werden, weshalb man deren technische Parameter übernommen hatte – also das heutige Kleinprofil der Berliner U-Bahn. Im Wachstumsund Weltstadtrausch der „Roaring Twenties“ galt der Bau solcher Strecken für Züge mit erheblich geringerem Fassungsvermögen als beim Großprofil jedoch als indiskutabel, zumal auf Trassen durch die Innenstadt.
Im „Zehlendorfer Plan“, dem allerersten Konzept für den Wiederaufbau Berlins nach dem Zweiten Weltkrieg, sollte der Schöneberger Tunnel gar einer Schnellstraßenbahn überlassen werden. In den ab Mitte der fünfziger Jahre entwickelten „200-Kilometer- Plänen“ zum Ausbau des Berliner U-Bahn- Netzes war dann keine Verlängerung dieser Strecke mehr vorgesehen. Erst in den neunziger Jahren gab es wieder Überlegungen, ihr eine Station anzufügen: In der Genthiner Straße, nördlich der bis zur Lützowstraße reichenden Kehr- und Aufstellanlage, die um 1970 entstand, als die Schöneberger U-Bahn mitten im Bahnhof Innsbrucker Platz „abgewürgt“ wurde, um den Tunnel der Stadtautobahn zu bauen sowie ein Streckenstück für die damals geplante U 10. Heute soll diese von Weißensee kommende Linie statt nach Steglitz Richtung Wittenbergplatz führen und die Schöneberger U-Bahn könnte mit ihr am Lützowufer zusammentreffen. Irgendwann einmal.
Bereits seit 1951 bildet die Schöneberger U-Bahn wieder eine eigene Linie, die 1966 die Nummer 4 erhielt. Für eine Wiederaufnahme des durchgehenden Verkehrs von und nach Kreuzberg – 1992 vom Abgeordnetenhaus verlangt – fehlt am Nollendorfplatz eine Weiche. Das Verkehrsaufkommen auf der Strecke hielt sich wohl stets in Grenzen: Die von Anfang an vorgesehenen zweiten Ausgänge der Stationen Viktoria-Luise- Platz und Innsbrucker Platz entstanden erst in jüngster Zeit und allein aus Sicherheitserwägungen.
Das Schattendasein als wenig beachtete, oft belächelte, von Zwei-Wagen-Zügen bediente „Stummelstrecke“ bietet allerdings auch Chancen: Da die U 4 relativ unbedeutend ist, diente sie der BVG immer wieder als Versuchsfeld. So wurden hier ab 1957 Experimente zur Einsparung der Zugabfertiger unternommen. 1967 erhielt sie als erste Berliner U-Bahn-Linie Zugfunk, 1980 die Vorläufer der heutigen Informations- und Notrufsäulen, bald darauf erprobte man Komponenten für die „Zugfahrerselbstabfertigung“. 1981 bis 1995 fungierte die U 4 als Referenzstrecke für das automatische Betriebssystem SELTRAC, für welches hier der Funktions- und Sicherheitsnachweis erbracht wurde, 1995 wurde sie als erste U-Bahn-Linie in Europa „handytauglich“. Und 1999 stellte die BVG hier etwas vor, woran sich die Berliner in den nächsten Jahren (wieder) gewöhnen sollen: Wagen mit Hartschalensitzen.
Schneidige Kostenoptimierer haben die U 4 auch wiederholt als Stilllegungskandidaten ausgemacht. Da beruhigt der Brief, den Wilfried Kramer im August 2009 an den Bezirksbürgermeister von Tempelhof-Schöneberg Ekkehard Band schrieb: Der Marketingchef der BVG versicherte, diese habe nicht vor, die U 4 auf eigene Faust stillzulegen, sondern werde sie betreiben, solange der Berliner Senat dies bestelle.
In Kürze erscheint:
Jan Gympel:
100 Jahre Schöneberger U-Bahn,
Verlag Matthias Herrndorff,
Berlin, ca. 200 Seiten,
ca. 19,90 Euro,
ISBN 978-3-940386-01-4.
Erhältlich u. a. im Fahrgastzentrum
im Bahnhof Berlin-Lichtenberg
und unter www.bahnbuchshop.de
Jan Gympel
aus SIGNAL 6/2010 (Dezember 2010/Januar 2011), Seite 25-28