Aktuell

Die neue Variobahn in Potsdam

Ein kleines Fahrzeug für eine große Zahl von Fahrgästen
Oder: Leider eine Nummer zu klein bestellt


Berliner Fahrgastverband IGEB

1. Dez 2011

Präsentation des ersten Variobahn-Fahrzeugs vor den Fahrgästen am 17. September 2011 auf dem Betriebshof der ViP in Potsdam. Bei den anschließenden Probefahrten mit Fahrgästen traten einige Kinderkrankheiten auf, die nachgebessert wurden. Foto: Michael Dittrich
Bisher fahren in Potsdam der Typ Combino (Niederflur, links) und die modernisierten Hochflur-Tatrawagen (rechts), hier an der Haltestelle Lange Brücke. Foto: Florian Müller
Seitenansicht und Grundriss der Variobahn. Die Einrichtung des Wagens wurde u. a. mit dem Fahrgastbeirat und Behindertenverbänden abgestimmt. Abb: Stadler Pankow GmbH
Eines der beiden großen Mehrzweckabteile mit Blick in das mittlere Fahrwerksmodul. Auffällig die Längsbestuhlung und die Stehplatzfläche, die aber zu wenige Festhaltemöglichkeiten bietet. Foto: Michael Dittrich
Kuschelsitze. Die anderthalbbreiten Sitze im Mittelmodul sind für 2 schlanke Personen und Körperkontakt geeignet. Foto: F. Müller
Die Variobahn Anfang Dezember im Fahrgasteinsatz auf den Linien 92 und 96. Bisher sind vier Fahrzeuge ausgeliefert. Foto: Marc Heller
Foto: Florian Müller
Nur bis Körpergröße 1,60 m. Schwachpunkt des Fahrzeugs sind die engen Nischen an den Wagenübergängen. Hier ist wenig Platz für das Knie. Im Fußbereich ist der Holm abgeschrägt, so dass noch ein Kompromiss erreicht wird. Überzeugend ist diese Lösung aber nicht. Foto: Florian Müller
Positiv ist die Fahrgastinformation. Die bekannte Potsdamer Perlschnur, in bewährter Weise von unten nach oben zu lesen, sowie jetzt neu als Doppelmonitor. Die Monitore sind von allen Plätzen im Fahrzeug gut lesbar. Foto: Michael Dittrich
Kurios – Sitze für Fakire? – Nein, Gepäckablagen! Oft wird der rechte Sitz dennoch von Personen besetzt, da Sitzplätze im Fahrzeug rar sind. Direkt neben der Tür würde er sich (mit Polster) gut als Gebrechlichensitz eignen. Foto: Michael Dittrich
Sitzarten in der Variobahn
Vergleich der Sitzplatzanzahl in den Potsdamer und Berliner Fahrzeugen (Auswahl)
Quelle: Datenblatt der Firma Stadler Pankow GmbH

Potsdam ist geprägt durch seine Straßenbahn – bisher modernisierte Tatra KT4DHochflurwagen und Combino-Niederflur- Fahrzeuge. Die letzte Fahrzeugerneuerung ging die Stadt 1997 an. Der Verkehrsbetrieb in Potsdam (ViP) kaufte die damals hochmodernen 100-prozentigen Niederflurfahrzeuge vom Typ Combino der Firma Siemens. Mit einer vorgesehenen Bestellung von 48 Fahrzeugen sollte die Flotte heute schon längst komplett niederflurig sein.

Potsdam streckte die Lieferzeit wegen Geldmangels der Stadt. Bis 2001 wurden 16 Fahrzeuge ausgeliefert. Ab 2003 traten zunehmend technische Probleme auf, die im großen Crash am 12. März 2004 gipfelten, bei dem alle Fahrzeuge abgestellt werden mussten. Der Wagenkasten erwies sich als nicht tragfähig genug, so dass bei einem Unfall das Dach einzustürzen drohte. Die Firma Siemens startete eine Rückrufaktion, und alle Combinos, die eine Laufleistung über 120 000 Kilometern hatten, mussten sofort und für längere Zeit aus dem Verkehr genommen werden. Potsdam hatte große Mühe, den Verkehr aufrecht zu erhalten. Der ViP kündigte im Juni 2004 den Vertrag mit Siemens, denn weitere Fahrzeuge dieser „Problembaureihe“ wollte man sich nicht ans Bein binden.

Die neue Fahrzeugsuche

Um einen neuen Fahrzeugtyp zur Neubeschaffung zu finden, wurden 2005 drei Fahrzeuge von den Herstellern Stadler (Variobahn-Prototyp aus Duisburg), Bombardier (R3.3/ GT8N2 aus München) und Alstom (NGT8D aus Magdeburg) nach Potsdam ausgeliehen und dort getestet. Als erstes schied der NGT8D aus Magdeburg aus, da sein Lichtraumprofil nicht zu den Haltestellenanlagen passte. Am weitesten kam die Variobahn im Netz herum. Sie war die einzige Bahn, die in den Potsdamer Norden und Westen fahren konnte. Nach den Probefahrten wurde eine Ausschreibung vorbereitet, die aber wegen unklarer Finanzlage der Stadt Potsdam u. a. aufgrund der Kürzung der Regionalisierungsmittel abgebrochen wurde.

Der zweite Anlauf

Nach der Klärung der Finanzen schrieb der ViP im Amtsblatt der EU den Kauf von bis zu 18 Einrichtungs-Straßenbahnwagen aus. Dem Vernehmen nach verzichtete z. B. Bombardier darauf, ein Angebot abzugeben, weil seiner Meinung nach die Kriterien auf ein bestimmtes Fahrzeug ausgelegt seien. Am Ende blieb dem Verkehrsbetrieb die Wahl zwischen Stadler Pankow und Siemens.

Nach Bekanntgabe der Vergabeabsicht an Stadler Pankow erhob Siemens dagegen Einspruch vor der Vergabekammer. Nach der Abweisung zog Siemens vor Gericht und unterlag. So stand der Vergabe und damit dem Vertragsabschluss mit der Firma Stadler Pankow GmbH nichts mehr im Weg. Am 30. Januar 2009 bestellte die ViP eine Lieferung von zehn Fahrzeugen des Typs Variobahn in einer fünfteiligen Ausführung mit nur knapp 30 Metern Länge. Zwei Optionen mit je vier weiteren Wagen wurden ebenfalls vereinbart.

Am 13. Mai 2011 wurde die erste Variobahn bei einem feierlichen Roll-In auf dem Betriebshof des Verkehrsbetriebes der Presse und dem Kundenbeirat der ViP vorgestellt.

Bestehend aus fünf Wagenteilen, von denen drei ein Fahrwerk mit jeweils zwei Radpaaren besitzen, kommt sie auf eine Länge von nur 29,972 Metern. Sie ist damit kürzer als ein Combino, der ohnehin schon für den Potsdamer Verkehr an Werktagen völlig unterdimensioniert ist. Zugelassen ist die Variobahn für 57 Sitzplätze und 118 Stehplätze. Sie hat damit die wenigsten Sitzplätze der gesamten Flotte. Die relativ geringe Breite des Wagens von 2,30 Metern, vorgegeben durch die Gleislage, bietet hier wenig Spielraum.

Der erste Probeeinsatz im Fahrgastverkehr

Beim Tag der offenen Tür des Verkehrsbetriebes am 17. September 2011 wurde die Variobahn offiziell in den Fahrgast(probe) verkehr genommen. Nach der offiziellen Übergabe durch den Oberbürgermeister der Stadt Potsdam erfolgte die Taufe auf den Namen Opole, Potsdams Partnerstadt in Polen. Bei den ersten „Schnupperfahrten“ mit Fahrgästen traten bei der Bahn technische Defekte auf. Ab dem 19. September 2011, dem ersten offiziellen Einsatztag im Linienverkehr, kam das Fahrzeug erst langsam in Gang. Technische Kinderkrankheiten zwangen zu häufigen Fahrtenausfällen und Ersatz durch herkömmliche Straßenbahnen – bei einem Neubaufahrzeug im Prinzip nichts Ungewöhnliches. Der Hersteller besserte nach. Bis Anfang November waren vier Fahrzeuge ausgeliefert und sporadisch im Fahrgast-Testeinsatz.

Schon am ersten Tag zeichneten sich Alltagsprobleme der Variobahn ab. Die teilweise engen Gänge, die wenigen Sitzplätze und mangelnden Festhaltemöglichkeiten führen dazu, dass die Fahrgäste nicht in das Wageninnere treten. Inzwischen plant der ViP die Nachrüstung mit weiteren Haltestangen. Hinzu kamen noch technische Verzögerungen bei der Abfertigung des Fahrzeugs. Somit hatte die Variobahn zunächst regelmäßig Probleme, den Fahrplan zu halten. Eine Lösung dazu wurde angegangen.

Zu kurze Wagen bestellt

Das Hauptproblem liegt aber nicht in der Fahrzeugkonstruktion selbst, sondern in der Bestellung eines relativ kurzen Wagens, der den steigenden Fahrgastzahlen der Potsdamer Straßenbahn nicht angemessen ist. Die geringe Sitzplatzanzahl, bedingt durch die Kürze des Fahrzeugs, führt zu Beschwerden der Fahrgäste, insbesondere auf den fahrgaststarken Linien 91, 92 und 96.

Die klamme Potsdamer Stadtkasse wollte offenbar mit dem nur absolut notwendigen finanziellen Einsatz neue Fahrzeuge beschaffen. Die vorgegebene Fahrgastkapazität ließ sich somit nur durch eine große Stehplatzanzahl bei geringer Sitzplatzanzahl realisieren. Anderenfalls wäre eine größere Innenraumfläche nötig, was nur durch ein längeres und teureres Fahrzeug möglich ist.

Als Verstärkung im Netz, also zur Taktverdichtung in den Hauptverkehrszeiten, können die neuen Fahrzeuge eine nötige Entspannung schaffen. Leider plant der ViP, mit den Variobahnen die Tatra KT4D komplett zu ersetzen. Es sollen dann ausschließlich die Combinos und Variobahnen zum Einsatz gelangen.

Diese Strategie ist zu kurz gedacht. Hier sollte der ViP die Möglichkeit zur Ausweitung des Wagenparks nutzen, um die dringend nötige Sitzplatzkapazität auf den Hauptstrecken erhöhen zu können und eine angemessene Fahrzeugreserve für Sonderverkehre bei Veranstaltungen bewältigen zu können.

Für kleine Straßenbahnstädte mit geringerem Fahrgastaufkommen wäre die Variobahn gut geeignet.

Weitere Details der Variobahn

Positiv fällt auf, dass sich an allen Türen (außer der ersten) ein Mehrzweckabteil befindet. Im positiven Gegensatz zum Combino gibt es auch ganz vorn und ganz hinten Doppeltüren. Das mittlere der fünf Fahrzeugsegmente besitzt keine Tür. Die Gelenkübergänge sind angenehm geräumig gestaltet.

Die Sitze sind vorherrschend vis-á-vis quer zur Fahrtrichtung angeordnet. Zwischen den Radkästen (lichter Abstand 62 cm) ist die Kniefreiheit und Fußfreiheit zum Gegenüber ausreichend. Allerdings steigt zwischen den Radkästen der Fußboden nach außen hin an, was den Komfort einschränkt. Auf den Radkästen sind die Fensterplätze zur Nische am Fahrzeug-Gelenk leider mit sehr geringer Beinfreiheit ausgestattet (22 cm), so dass sie eigentlich nur bis zu einer Körpergröße von 1,60 m nutzbar sind. Immerhin ist der Holm am Gelenk im Fußbereich abgeschrägt, so dass etwas mehr Fußfreiheit entsteht. Das betrifft immerhin 8 Sitzplätze!

Die Doppelsitze (2 nebeneinander, jeweils rechts und links) lassen nur einen schmalen Mittelgang frei, so dass durch den Gang gehende Fahrgäste die sitzenden Fahrgäste zwangsläufig streifen.

Verbaut wurden auch mehrere sogenannte anderthalbbreite Sitze. Hier ist die Gangbreite angenehmer, dafür „kuscheln“ in Praxis immer 2 Personen – auch einander Fremde – auf einem schmalen Sitz. Bei zwei breiteren Personen reicht es nur für drei „Backen“.

Positiv fällt die gute Abstimmung der Sitze mit den Fensterholmen auf. Ebenfalls angenehm ist die Polsterung der Sitze, die auch für längere Fahrten geeignet ist. Die Sitztiefe beträgt ca. 43 cm.

Auf den ersten Blick kurios erscheinen die Gepäckablagen in Sitzform, die mit Hartgummistreifen belegt sind. Erfahrungsgemäß werden diese Flächen selten als Gepäckablage, sondern – wegen der wenigen regulären Sitze – als unbequemer zusätzlicher Sitzplatz genutzt. Dem sollte Rechnung getragen werden und, soweit von der Beinfreiheit möglich, eine reguläre Sitzschale eingebaut werden.

Die beiden Mitteltüren sind mit handbedienten Klapprampen ausgestattet, die für Rollstuhlfahrer den Spalt zum Bahnsteig überbrücken. Ebenso wie in Berlin hat sich hier die Abkehr von störanfälligen automatischen Lösungen durchgesetzt. An den zwei Rollstuhlplätzen befinden sich Taster für die Anforderung der Rampe und eine Sprechstelle.

In ausreichender Nähe jedes Platzes befindet sich ein Haltewunschtaster.

Die Monitore der Fahrgastinformationen sind in der Variobahn in der Deckenmitte des Ganges zwischen den Lichtbändern günstiger angebracht als beim Combino. Die Anzahl und Standorte (vier Stück Doppelmonitore, jeweils von vorn und hinten zu lesen) sind günstig gewählt und von jedem Platz ausreichend lesbar.

Erfreulicherweise stehen gleich zwei Fahrkartenautomaten einer neuen Generation im Fahrzeug direkt an den Mitteltüren zur Verfügung. Diese nehmen erstmals in Potsdam auch Banknoten und EC-Karten an. Allerdings scheint die Verarbeitungsgeschwindigkeit z. B. der Münzenannahme und des Fahrkartenauswurfes sehr langsam. In diesem Fall irritiert eine fehlende Fortschrittsanzeige, die das Arbeiten der Maschine signalisiert. Hier sollte die Software unbedingt überarbeitet werden. Positiv ist der Aufkleber auf dem Automaten, auf dem die gängigen Tarife übersichtlich aufgelistet sind – besonders wichtig für ungeübte Fahrgäste und Touristen. In der Nähe der Automaten befinden sich auch Halter für Liniennetze, Verkehrsinformationen und Werbeflyer

Im Fahrgastraum sorgen zwei Klimaanlagen für die Lüftung. Ihre Zuverlässigkeit und Leistungsfähigkeit wird sich erst mit dem Einsetzen extremer Temperaturen im Winter und Sommer erweisen. Als Rückfallebene sind mehrere Klappfenster eingebaut, die normalerweise verriegelt sind.

Die Variobahn verfügt über eine Videoüberwachung mit Aufzeichnung des Fahrgastraumes.

Das Piepsignal beim Türenschließen ist deutlich angenehmer als der in den übrigen Potsdamer Fahrzeugen übersteuerte und ausladende Dreiklanggong In der Fahrertür zum Fahrgastraum ist eine Sprechstelle (Durchlöcherung der Glastür) eingebaut, um mit dem Fahrer analog-akustisch und optisch kommunizieren zu können.

Die Fahreigenschaften des Wagens stellen sich für den Fahrgast angenehm dar. Gute Festhaltemöglichkeiten beim Anfahren und Bremsen sind dennoch unabdingbar. Positiv ist die geringe Lärmentwicklung beim Fahren hervorzuheben.

Die Verarbeitung der Ausstattung scheint aus Fahrgastsicht ordentlich.

Fazit

Leider wurde die Chance verpasst, ein zukunftweisendes Straßenbahnfahrzeug für Potsdam zu beschaffen. Geldknappheit führte zu einer Lösung, die aus Fahrgastsicht nur bedingt befriedigen kann. Es kam eine hohe technische Qualität mit interessanten Lösungen für den schmalen Innenraum heraus, aber ein längeres Fahrzeug hätte hier deutlich besser abgeschnitten.

Berliner Fahrgastverband IGEB

aus SIGNAL 5-06/2011 (Dezember 2011), Seite 4-7