Report

Die U-Bahn-Linie in die Welt von morgen

Berlins U 9 wurde fünfzig Jahre alt


Jan Gympel

1. Dez 2011

U-Bahn-Baureihe F74 (hier F76) – auch heute noch im Einsatz. Foto: Marc Heller
Inzwischen auch dort nicht mehr vorhanden sind allerdings die Sitzbänke und die Schilder auf dem Bahnsteig, hier aufgenommen im Jahr 1993. Foto: Jan Gympel
Rolltreppen waren 1961 noch eine Seltenheit, daher informierten Schilder darüber, wie man sich dort verhalten sollte (gesehen im Sommer 2009 auf dem U-Bahnhof Kurfürstendamm, inzwischen nicht mehr vorhanden). Foto: Jan Gympel
Im U-Bahnhof Kurfürstendamm finden sich einige der letzten noch erhaltenen Vitrinen der damit einst reich ausgestatteten U 9. Foto: Jan Gympel
Faltblatt zur Eröffnung der Linie G – heute U 9 – vom 2. September 1961 (oben und rechts). „Vom Wedding zum Zoo in 10 Minuten“ BVG
Von allen 1961 fertiggestellten Stationen ist der U-Bahnhof Birkenstraße mit Abstand am besten erhalten geblieben. Hier steht sogar noch eine große Vitrine auf dem Bahnsteig. Foto: Jan Gympel
Was man sich in Berlin unter Denkmalpflege vorstellt: Ein im Sommer 2009 noch nicht „sanierter“– das heißt völlig abgerissener und neu gebauter – Zugang zum U-Bahnhof Kurfürstendamm, weitgehend im Ursprungszustand erhalten… Foto: Jan Gympel
…und ein erneuerter. Kurfürstendamm gehört übrigens zu den beiden einzigen Stationen der U 9, die unter Denkmalschutz stehen. Foto: Jan Gympel
Die ursprünglich weiß gefliesten Wände der Station Amrumer Straße sind heute dunkelblau getüncht und teilweise mit Glasplatten verkleidet. Während die Wände dunkler wurden, erhielt der einst asphaltierte Bahnsteig einen hellen Belag. Blick auf das südliche Ende der Bahnsteighalle, über den einst ein Tunnel für die früher geplante Stadtautobahn Westtangente geführt werden sollte. Foto: Jan Gympel
Nach Ansicht der BVG hat die – zuvor weiß und dunkelblau geflieste – Station Bundesplatz durch die vor einigen Jahren erfolgte Neugestaltung bedeutend an Attraktivität gewonnen. Foto: Jan Gympel
Bitte recht klobig: Noch ist die Bahnsteighalle der Station Rathaus Steglitz weitgehend originalgetreu erhalten. Foto: Jan Gympel
Mit Waldemar Grzimeks Höllenhund verfügt der U-Bahnhof Rathaus Steglitz über ein Werk eines der bedeutendsten deutschen Bildhauer des 20. Jahrhunderts – eingebettet in ein Ambiente in den Siebziger-Jahre-Modefarben dunkelbraun und orangegelb sowie mit „spacigen“ Verkleidungen in „silber-metallic“. Foto: Jan Gympel
Sichtbeton mit Verschalungsspuren, teils aus Kunststoff gefertigte Elemente in den drei Grundfarben – Schloßstraße ist wohl jener Berliner U-Bahnhof, der am radikalsten den bizarren Geschmack der 1970er widerspiegelt. Nachdem schon die blauen Plastikverkleidungen der Stützen entfernt und diese angemalt worden sind, möchte die BVG die Station in nächster Zeit noch stärker umgestalten. Foto: Jan Gympel
Die untere Bahnsteighalle soll sogar möglichst ganz aufgegeben werden. Foto: Jan Gympel

Im Spätsommer jährte sie sich zum fünfzigsten Mal: Die Eröffnung des ersten Streckenabschnitts der Berliner U 9 zwischen Leopoldplatz und Spichernstraße. Anfangs in vieler Hinsicht die modernste Linie im Berliner Netz findet sich heute nur noch wenig vom verblichenen Glanz des einstigen Vorzeigeobjekts und Frontstadtprojekts.

Als ich ein kleiner Junge war, in den Siebzigern, war eine U-Bahn-Fahrt aus dem heimatlichen Kreuzberg nach Steglitz immer etwas Besonderes. Stieg man am Zoo zur U 9 um, genügte ja schon ein Blick ins Gleisbett: Da lag kein Schotter, dafür steckten so komische Platten zwischen den Schwellen.

Dann die Züge: Ab Mitte der siebziger Jahre verkehrten im West-Berliner Netz nur noch Wagen des Typs D beim Groß- und des diesem nachgestalteten Typs A 3 beim Kleinprofil. So wirkte es, als verfüge die West- Berliner U-Bahn quasi nur über einen Wagentyp. Die einzige Ausnahme bildete die U 9: Hier fuhren die seit 1974 in Dienst gestellten Züge des Typs F, mit denen rasch der gesamte Verkehr auf der „Linie 9“ – wie sie damals noch hieß – bewältigt wurde. Züge mit für die Berliner U-Bahn damals ungewöhnlichen Quersitzen. Mit einem von seitlichen Leuchtbändern erhellten, kühl wirkenden Innenraum in Grautönen und mit blauen Polstern (eine Gestaltung, die offenbar zu avantgardistisch war – bald tauchte auch in F-Wagen wieder das vertraute rotbraune Holzimitat auf, aber immerhin erhielten die Sitze nicht das bei den anderen Typen übliche Dunkelgrün). Mit Wagenlautsprechern, über die von einer Tonbandstimme die nächste Station angesagt wurde. Mit Türen, die auf ein Antippen der Hebel hin aufgingen – und während der Fahrt verriegelt waren. Was auch hieß: Das seinerzeit gern von jungen Leuten praktizierte Abspringen vom ausrollenden Zug war hier schon nicht mehr möglich.

Allein durch die auf ihr ausschließlich (und ausschließlich auf ihr) eingesetzten Fahrzeuge erschien die U 9 in den späten Siebzigern als die modernste Linie im Berliner U-Bahn- Netz. Das war sie bereits gewesen, als sie 1961 eröffnet worden war, am 28. August, ohne Feierlichkeiten. War doch die Linie G, wie sie bis 1966 bezeichnet wurde, gerade rechtzeitig zum Bau der Mauer (und dem Beginn des S-Bahn- Boykotts) fertig geworden. Die offizielle Einweihung erfolgte dann wie geplant am 2. September.

Die Teilung machte es möglich

Die U 9 ist eben nicht nur die einzige Berliner U-Bahn-Linie, die vollständig aus nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen Stationen besteht (was bis zu gewissen Verhübschungsmaßnahmen auf dem ältesten Streckenteil der U 7 auch augenfällig war) – sie ist auch insofern „echt West-Berlin“, als sie ohne die Teilung der Stadt womöglich nie entstanden wäre. In den umfangreichen Netzausbaukonzepten der Zwischenkriegszeit hatte sie kaum eine Rolle gespielt; in der 1929 veröffentlichten „Denkschrift über das künftige Berliner Schnellbahnnetz“ von Ernst Reuter, Johannes Bousset und Hermann Zangemeister war sie als „zwar nicht dringliche, wohl aber wünschenswerte Linie“ bezeichnet worden.

Die Spaltung Berlins erzeugte dann die Dringlichkeit, welche durch den Bau der Mauer noch bestätigt wurde. Der Transitverkehr der West-Berliner U-Bahn-Linien durch den Ostsektor beruhte zumindest anfänglich praktisch auf reiner Kulanz der östlichen Seite. Bei einer Sperrung der Strecken – wie nach dem 17. Juni 1953 – wären nicht nur die Nordabschnitte der heutigen U 6 und U 8 isoliert gewesen, sondern auch die bis 1971 einzige West-Berliner Großprofilwerkstatt. Erst 1977 wurde das westliche Netz, dank der U 9 und dank Verlängerungen der U 7 und der U 8, von östlicher Gnade ganz unabhängig.

Allerdings hatten sich die Prioritäten auch deshalb verändert, weil der mondäne und etwas elitäre „Neue Westen“ rund um die Gedächtniskirche durch die Teilung Berlins zum Zentrum der westlichen Halbstadt aufgestiegen war. Ihm (und dem Bahnhof Zoo als jahrzehntelang wichtigstem Fernbahnhof West-Berlins) fehlte eine leistungsfähige Nord-Süd-Anbindung.

Zudem sind große Bauprojekte immer auch eine politische Angelegenheit. Erst recht galt dies im bedrängten West-Berlin der Hoch-Zeit des Kalten Krieges. Während manch einer schon „die Russen kommen“ sah, die Flucht ergriff und viele auf der „Insel im roten Meer“ nicht zu investieren wagten, baute die öffentliche Hand dort eine ganz neue U-Bahn- Linie mit zunächst neun Stationen. In der Bundesrepublik gab es zu jener Zeit nichts Vergleichbares – in Hamburg rang man um die Verlängerung der „Kell-Jung-Linie“, andernorts schmiedete man erst erste Pläne für Tunnelstrecken. In der SED-Diktatur wiederum sollten diese bekanntlich nie realisiert werden. Innerhalb von nur sechs Jahren eine Linie von 7,08 Kilometern Bauwerkslänge zu errichten und dabei drei Wasserstraßen, ein breites Bahngelände und vier bestehende U-Bahn-Strecken zu unterfahren, wäre auch heute eine beachtliche Leistung. (Übrigens soll diese 189 Millionen DM gekostet haben, nachdem man zu Baubeginn 158,5 Millionen DM kalkuliert hatte – heutzutage würde man eine solche Kostensteigerung um rund ein Fünftel wohl als minimal bezeichnen.)

Nicht von ungefähr war der erste Rammschlag für die Linie G am 23. Juni 1955 im Hansa-Viertel ausgeführt worden – nicht nur vom Umfang, sondern auch von der Gestaltung her West-Berlins Gegenentwurf zur Stalinallee. Die Vorzeigesiedlung, Kernstück der Internationalen Bauausstellung 1957, wurde also auch gleich an die U-Bahn angeschlossen – sogar, in Berlin unüblich, mit oberirdischen Empfangsgebäuden: Die „Stadt von morgen“ an der U-Bahn-Linie „von morgen“.

Denn der neue Tunnel führte nicht nur zu Modernisierungen – wie man zumindest seinerzeit meinte – im Stadtbild: Die Linie G ersetzte einige Strecken der als „veraltet“ und „Verkehrshindernis“ verabscheuten Straßenbahn, zwischen Leopold- und Augustenburger Platz stellte man die Luxemburger Straße fertig, der vom gesprengten Zoo-Bunker gebildete Trümmerberg wurde abgeräumt und – unter Zurückverlegung der östlichen Baufluchtlinie – der Hardenbergplatz angelegt, auf dem die BVG fortan ihre schicken neuen „Autobusse“ abfahren lassen konnte. Unter der Erde beseitigte man mit der damals üblichen Ignoranz gegenüber allem Historischen ohne Diskussion die alten Stationen Leopoldplatz und Nürnberger Platz praktisch restlos und der U-Bahnhof Zoo erhielt ein neues Gesicht. (Die Station Leopoldplatz wurde übrigens zum Zwecke ihres Abrisses und Neubaus am 31. März 1960 geschlossen und schon am 10. Oktober desselben Jahres wiedereröffnet – heute geht so etwas, wie man demnächst an der Kreuzung Unter den Linden und Friedrichstraße erleben wird, leider nicht mehr so schnell.) Vor allem aber bedeutete die neue Strecke selbst einen Entwicklungssprung für die Berliner U-Bahn.

Gelbe Blitze in begehbaren Mosaiken

Es ist längst vergessen und nur noch schwer nachvollziehbar, wie stark sich die Linie G anfangs von den anderen abhob. Mit 23 Stück fanden sich hier mehr Rolltreppen als auf allen anderen Strecken zusammengenommen. Während viele Stationen noch von Glühlampen erhellt wurden – und zwar für heutige Verhältnisse unvorstellbar schwach –, dominierten auf der Linie G die modernen Leuchtstofflampen. Die Abfertigung erfolgte – von Podesten aus, über Lautsprecher und Lichtsignal – schneller, Zugbegleiter gab es nicht mehr. Die gesamte Strecke war mit magnetischen Fahrsperren ausgerüstet worden – schon deshalb konnten hier keine älteren Züge verkehren, sondern nur die damals neuesten des Typs D.

Journalisten machten daraus sofort „ D-Züge“, und die – gewollte oder irrtümliche – Anspielung war wohl vielen Fahrgästen nachvollziehbar: Durch den typenreinen Betrieb konnte die einige Jahre zuvor in Dienst gestellte Baureihe erstmals so richtig zeigen, wieviel schneller es mit ihr ging. Und zwar nicht nur durch die auf 70 km/h gesteigerte Höchstgeschwindigkeit, sondern vor allem durch die gegenüber den Vorkriegswagen verdoppelte Beschleunigung von 1,2 m/s². Als „gelbe Blitze“ sollen sie den Fahrgästen denn auch erschienen sein, wie im „Tagesspiegel“ vom 29. August 1961 zu lesen war: „‚Det is ja’n Düsenjäger’ – ‚Donnerwetter, hat die einen Anzug’ – ‚Da bleibt einem ja die Luft weg’, so lauteten die Kommentare der meisten Fahrgäste. Wer im Gang der modernen Großraumwagen stand, konnte sich bei Beschleunigung und Bremsen kaum auf den Beinen halten. Auf den Sitzen rutschte man seinem Nachbarn beinahe auf den Schoß.“ Die offizielle Schrift zur Eröffnung der Linie G nennt für diese eine Reisegeschwindigkeit von 35 km/h gegenüber 25 bis 28 km/h auf den anderen Linien.

Natürlich wurden auch diese neuen Züge von Leuchtstofflampen erhellt. Statt einer Innenverkleidung aus Holz boten sie Resopal (was seinerzeit vermutlich viele schick und modern fanden). Abdeckleisten, Türund Fensterrahmen oder Haltestangen waren aus eloxiertem Aluminium, das damals auch schwer in Mode war. Ein automatisches Schaltwerk sorgte nicht nur für große, sondern auch geschmeidige Beschleunigung, alle Türen schlossen „selbsttätig“, was bei den älteren Wagen auch keine Selbstverständlichkeit war.

Und dann die Architektur! Seit langem herrscht ja der allgemeine Glaube vor, damals wären ohne große Überlegung bunte Fliesen an die Wände geklatscht worden. Noch bevor der architektonische Zeitgeist in den Achtzigern vollends in Richtung Nostalgie, Schnörkelseligkeit und Spielereien abdrehte, arbeitete der Architekt Rainer Gerhard Rümmler an der Verbreitung dieses Irrtums. So dürfte der damalige Leiter der Abteilung „Hochbau-Bauentwurf“ bei der Senatsbauverwaltung und langjährige Architekt Berliner U-Bahnhöfe bereits geschrieben haben, was man 1976 in dem offiziellen Heftchen zur Eröffnung des Abschnitts Leopoldplatz—Osloer Straße über die ältesten Stationen der U 9 lesen konnte: „Ein großer Nachholbedarf an Verkehrsbauten einerseits und die Knappheit der Mittel andererseits waren bestimmend. So wurden die Bahnhöfe recht einfach und zweckmäßig, im wesentlichen nach einem einheitlichen Stil (unterschieden hauptsächlich nur in der Farbgebung der keramischen Wandverkleidung) ausgebaut. Sie mögen aus heutiger Sicht vielleicht etwas zu nüchtern oder gar unattraktiv wirken, sind jedoch Zeugen aus der Zeit der ersten großen Aufbauperiode.“

Die Broschüre zur Eröffnung der Linie G von 1961 erläutert hingegen, wie viele Gedanken sich – wohl insbesondere von Rümmlers Vorgänger Bruno Grimmek – bei der Stationsgestaltung gemacht worden waren: „Bei der Auswahl aller Baustoffe auf den Bahnhöfen wurden helle Farbtöne bevorzugt, ohne daß dabei deren Zweckmäßigkeit im Hinblick auf den späteren Reinigungsaufwand außer acht geblieben ist. (…) Für die Verkleidung der Tunnelwände in den Bahnsteighallen wurden in verschiedenen hellen Pastelltönen Keramik-Spaltplatten gewählt, deren Oberfläche keine scharfen Lichtreflexe entstehen läßt. (…) Die Bahnsteigplatten sowie die Böden der Vorräume und Zugänge wurden teils mit Gußasphalt, teils mit aufhellenden Asphalt-Terrazzo- Platten belegt.“

Auch hinsichtlich der Beleuchtung gab es ein Konzept: „Für die ständig oder häufig benutzten Beleuchtungseinrichtungen auf den Bahnhöfen wurden überwiegend Leuchtstoffröhren vorgesehen. Bei der Ausleuchtung der Bahnsteige und Betriebsräume wurde großer Wert auf eine richtige Farbwiedergabe und auf eine ausreichende Behaglichkeitswirkung gelegt. Mit Ausnahme der Leuchten, die sich von der allgemeinen Beleuchtung abheben sollen (z. B. in den Fahrtrichtungsanzeigern), wurden deshalb Zweischicht-Leuchtstofflampen in der Warmtonausführung gewählt. Für die Verteilung der Leuchten in den Bahnsteighallen war eine hinreichende Beleuchtung der Bahnsteigkanten wichtig. Dabei wurde auf eine ausreichende mittlere Helligkeit von etwa 60 Lux in Fußbodenhöhe und eine große Gleichmäßigkeit des Lichteinfalls auch bei Schattenwurf durch ein- und aussteigende Fahrgäste geachtet.“

Die Zeitgenossen hatten denn auch keineswegs den Eindruck, auf der neuen Linie notgedrungen einfach und zweckmäßig gestaltete, „nüchtern“ und fast ärmlich aussehende Stationen vorzufinden. Ganz im Gegenteil schienen Grimmek und seine Mitarbeiter mit den hellen Fliesen, den Bruchsteinen, dem funkelndem Glasmosaik oder den elegant geschwungenen Decken den Zeitgeschmack getroffen zu haben.

So begeisterte sich, um nur ein Beispiel zu nennen, die „Frankfurter Allgemeine“ vom 29. August 1961: „Die neue U-Bahnstrecke hat neun Stationen, von denen der Bausenator in seinem Prospekt sagt, man habe ihnen eine ‚erfreuliche Atmosphäre’ geben wollen. Das ist das Understatement schlechthin, denn diese Bahnhöfe sind Paletten-Paläste, es sind begehbare Mosaike, und jeder von ihnen bekennt auf andere Weise Farbe. Wer ist der Schönste: Ist es die Haltestelle Kurfürstendamm mit den hellen grünen Kacheln, die wie Frühlingserwachen wirken, die einen Ausflug ins Grüne ersetzen und ganz natürlich kontrastieren mit dem sandfarbenen Mosaik der Mittelsäulen? (…) Aber ist nicht der Bahnhof Zoo mit dem lebhaften Gelb der Kacheln, mit der spezifischen Lebendigkeit eines Knotenpunktes (…), der erregendste aller Haltepunkte? Wer aber wollte die Station Birkenstraße verachten, wo der Architekt offenbar vom Namen inspiriert worden ist und ein lindes Grün für die Wände genommen hat? (…) Es ist eine farbenfrohe Untergrundbahn, der man am Montagmorgen die Strecke freigegeben hat, keine triste Kellergeschichte.“

Von nun an ging’s bergab

Im Süden endete die neue Linie nicht mit einer Kehranlage. Es gab nur einen doppelten Gleiswechsel nördlich der Station Spichernstraße. Abgesehen vom nördlichen Endpunkt Leopoldplatz hatte man eine Kehr- und Aufstellanlage nur am Zoo angelegt, und zwar nördlich der Bahnsteighalle – offenbar erwartete man auf dem nördlichen Abschnitt der Linie G ein geringeres Fahrgastaufkommen als auf dem südlichen. Mit dessen Verlängerung, zunächst bis Walther-Schreiber-Platz, wurde denn auch schon 1962 begonnen, wobei für die Durchquerung des Volksparks Wilmersdorf erstmals bei der Berliner U-Bahn die Senkkastenbauweise zur Anwendung kam. Die Eröffnung dieser Strecke am 29. Januar 1971, zusammen mit dem U 7-Abschnitt Möckernbrücke— Fehrbelliner Platz, den die U 9 am Bahnhof Berliner Straße kreuzt, markierte den Höhepunkt des Nachkriegsbaubooms bei Berlins U-Bahn: Auf einen Schlag gingen Bauwerke von 8,7 Kilometer Länge mit elf Stationen in Betrieb. Es sollte bis heute die größte Netzerweiterung seit 1930 bleiben.

Die U 9 erfuhr noch zwei Verlängerungen: Am 30. September 1974 im Süden bis Rathaus Steglitz, am 30. April 1976 im Norden um ebenfalls zwei Stationen bis Osloer Straße. Dann war, nach fast 21 Jahren, in denen man achtzehn Bahnhöfe auf 13,4 Kilometern geschaffen hatte, ihr Ausbau faktisch beendet. Auch technisch war es noch einmal vorangegangen: An der Berliner Straße war für die U 9 das erste Linienstellwerk bei der Berliner U-Bahn entstanden. Ab 1976 wurde der Betrieb mit dem Linienzugbeeinflussungssystem „LZB 501“, das seit 1967 auf einem Abschnitt erprobt worden war, auf die gesamte U 9 ausgedehnt. Von der Allgemeinheit wenig beachtet, fand dort bis 1993 ein automatischer Zugbetrieb statt. Um 1976 verbannte man auch die einstmals so spektakulären Wagen des Typs D von der U 9.

Allerdings trifft man dort die damals neuen, so ungewohnten Fahrzeuge des Typs F noch heute an – inzwischen sind sie die ältesten noch im regulären Einsatz befindlichen Großprofilwagen. Und es dauerte lange, bis die in den Neunzigern entwickelten Züge des Typs H, deren sechs Wagen einen einheitlichen Fahrgastraum bilden, auch auf der U 9 auftauchten. Die einstige Vorzeigelinie hatte ihren Status verloren.

Schon lange zuvor war hier deutlich geworden, wie sich die Planer im typischen Modernitätsrausch der Nachkriegszeit ganz typisch verrannt hatten. Früh traf es die Experimente mit dem Oberbau, die auf der U 7 in Britz und der U 6 in Tempelhof in den so fortschrittsgläubigen Sixties fortgeführt worden waren. In der Broschüre zur Eröffnung 1961 hatte es noch geheißen: „Konstruktiv gesehen ermöglicht der schotterlose Oberbau mit seiner geringeren Bauhöhe gegenüber dem Schotteroberbau eine Anhebung der Tunnelsohle und damit verbunden eine bemerkenswerte Massenminderung. Als betriebliche Vorteile sind die ruhige Zugfahrt, die geringe Staubentwicklung und die einfache Unterhaltung zu nennen.“ In der Schrift zur Eröffnung von 1971 las man hingegen: „Im Berliner U-Bahnbau sind bereits mehrere Oberbauarten untersucht worden. Aufgrund der gewonnenen Erfahrungen sind die Neubaustrecken wieder durchgehend mit dem erprobten Rippenplattenoberbau mit endlos verschweißten Vignolschienen der Form S 41 auf Holzschwellen in Schotterbettung ausgerüstet worden.“

Inzwischen ist auch der schotterlose Oberbau von 1961 verschwunden. Ferner steckt die U 9 voller Fehlplanungen. In den damaligen Publikationen der Senatsbauverwaltung wurde immer wieder darauf hingewiesen, U-Bahn- und Stadtautobahnbau gingen Hand in Hand. Und wo keine Autobahn möglich war, wollte man den Verkehr wenigstens durch Kreuzungsfreiheit beschleunigen (die Zugänge zu den U-Bahnhöfen sollten ausdrücklich auch zur Unterquerung der Hauptverkehrsstraße dienen, damit keine Fußgänger den Autostrom stören): „Der großen Bedeutung der Bundesallee als Hauptverbindungsstraße des Zoogebietes mit Wilmersdorf und Steglitz wird insoweit Rechnung getragen, als der Kraftfahrzeugverkehr zwischen der Spichernstraße und dem Friedrich-Wilhelm- Platz in Zukunft kreuzungsfrei geführt wird“, heißt es in der Broschüre zur Eröffnung 1971. So liegt die Station Güntzelstraße so auffällig tief, weil im Zuge ihres Namensgebers ein Autotunnel geplant war, wie auch am deshalb niedrigeren Südende der Bahnsteighalle Amrumer Straße. Immerhin wurde das Teilstück nicht gleich mit der U-Bahn errichtet – wie südlich der Station Spichernstraße. Oder wie die Autotunnel am Bundesplatz und an der Berliner Straße. Letzterer ist bis heute insofern ein Ärgernis, als die beiden Perrons einer der am meisten frequentierten Umsteigestationen der Berliner U-Bahn seinetwegen nur durch schmale Treppen miteinander verbunden werden konnten. Was zeigt, was bei den Verkehrsplanern Vorrang hatte.

Schließlich die riesige Fehlinvestition in der Steglitzer Schloßstraße, wo bequemes Umsteigen ermöglicht werden sollte, indem man die U 9 mit der U 10 ver- und wieder entflocht – einer Linie, die nicht gebaut wurde. Bei so viel Aufwand für ein Morgen, das niemals kam, fällt kaum ins Gewicht, wie sich der Busbahnhof im Steglitzer Kreisel entwickelte: Er „erlaubt ein attraktives Umsteigen Bus/U-Bahn für etwa 8000 Fahrgäste stündlich, wie es im Berliner Verkehrsnetz in dieser Form erstmals möglich sein wird“, hieß es stolz im Faltblatt zur Streckeneröffnung 1974. Trafen sich hier einst alle am Rathaus Steglitz verkehrenden Buslinien, beherbergt die Anlage, mittlerweile auf etwa die Hälfte ihrer ursprünglichen Größe geschrumpft und einer wichtigen Zufahrt beraubt, heute nur noch einige relativ unbedeutende Haltestellen.

Und dann die Architektur! Auch von den Stationen Rümmlers sind schon – wie auf anderen Linien – diverse umgestaltet worden. Wobei etwa die „curryfarbenen“ Fliesen – in ihrem Graubraun auch geputzt schmuddelig wirkend –, welche am Friedrich- Wilhelm-Platz noch zu bewundern, aber an der Berliner Straße verschwunden sind, würdige Nachfolger gefunden haben in den trübsinnigen, stumpfen Platten, die die Station Bundesplatz seit deren Neuauskleidung zieren. Und während die BVG seit einigen Jahren ein Faible für blecherne Verkleidungen zeigt, beseitigt sie mit der ihr eigenen Konsequenz jene silbern schimmernden Aluminiumummantelungen, die gerade Nachgeborene gern „spacig“ und damit schick finden: Osloer Straße – wo außer den Hintergleisflächen kaum etwas von der ursprünglichen Gestaltung geblieben ist – und Nauener Platz sind sie völlig verschwunden, am Rathaus Steglitz teilweise.

Was Denkmalschutz eigentlich soll

Die Liste der Verluste und Veränderungen ist lang und wird stetig länger, kaum bemerkt weicht vor allem individuell, für den jeweiligen Raum Gestaltetes zugunsten von Einheitsware. Ist alles weg, was als belangloses Detail abgetan wurde, bleiben bestenfalls die Wand-, Stützen- und Deckenverkleidungen übrig. Natürlich gibt es auf allen Stationen der U 9 kaum noch originale (oder wenigstens originalgetreu nachgebaute) Bänke, Abfallbehälter, Stationsschilder, Reklame- und Informationstafeln, Handläufe, Zugzielanzeiger, Uhren, Transparentleuchtkästen, Leuchten, Rolltreppen, Fahrkartenschalter, Kioske oder Vitrinen. Dabei waren etwa letztere einst so zahlreich auf der Linie G: Die dank des „Wirtschaftswunders“ entstandene Warenmenge und -vielfalt sollte auch in der U-Bahn präsentiert werden. Ein großer Schaukasten steht noch auf dem Perron der Haltestelle Birkenstraße. Generell handelt es sich bei ihr, wohl ihrer geringen Bedeutung wegen, um eine der am besten erhaltenen unter jenen Stationen, die 1961 in Betrieb gingen. Hier kann man auch noch sehen: Die Werbeplakate hinter den Gleisen wurden einst nicht einfach auf die Wände geklatscht, sondern prangten auf metallgerahmten Tafeln.

Die andere wenigstens halbwegs erhaltene Station ist Hansaplatz – bereits zur „Interbau“ 1957 fertiggestellt und stolz vorgeführt. Weshalb sie etwas anders aussieht als ihre „Geschwister“. Als sich diese noch weitgehend glichen, konnte das auch jeder erkennen und fragen, weshalb es so ist – was die Frage beantwortet, was Denkmalschutz eigentlich soll.

Doch halt, nicht nur mit den Rümmlerschen, 1971 bis 1976 eröffneten Stationen kann die BVG ja machen, was sie will – U-Bahnhöfe, die jünger als fünfzig Jahre sind, stehen in Berlin grundsätzlich nicht unter Schutz. Auch von den ältesten Stationen der U 9 wurden nur Hansaplatz und Kurfürstendamm in die Denkmalliste aufgenommen – Birkenstraße nicht. Dafür Kurfürstendamm, obwohl dort nach inzwischen fast vollendeter „Sanierung“ wohl nicht mehr eine einzige originale Fliese zu finden ist und viele Details verändert wurden. Nicht nur, überall Natursteinböden einzubauen, ist der BVG offenbar von niemandem auszureden (zum „Ausgleich“ für die helleren Böden werden dann die Wände dunkler gemacht, wie in der einst weiß ausgekleideten Bahnsteighalle Amrumer Straße). Die, auch noch pseudo-historische, Umgestaltung der Zugänge zur Station Kurfürstendamm wirft die Frage auf, was Denkmalschutz bei der Berliner U-Bahn eigentlich soll.

Vom Glanz und auch dem Zukunftsglauben, welchen deren jüngste Linie einst ausstrahlte, ist kaum noch etwas zu sehen. Ginge es nach Plänen der BVG, würde sogar die Fehlinvestition unter der Schloßstraße unsichtbar werden: Indem man, wohl wieder mit nennenswertem Aufwand, die nutzlos gewordene Verschlingung auflöst, alle Züge der U 9 in die obere Bahnsteighalle führt und die untere aufgibt. Womit nebenher, die seit langem geplante Verlängerung der U 9 nach Lankwitz verbaut würde. Dabei ist dies eine der letzten noch sinnvollen Erweiterungsmöglichkeiten des Berliner U-Bahn-Netzes. Doch obwohl sich der Bau der U 9 – betrachtet man ihre Auslastung – als richtig erwiesen hat: Über die Strecke nach Lankwitz redet seit langem niemand mehr.

Vielleicht ist diese Linie zu sehr ein Kind des heute gern geschmähten West-Berlin.

Jan Gympel

aus SIGNAL 5-06/2011 (Dezember 2011), Seite 50-57