Hessen

Franz Kafka hätte es wohl für übertrieben gehalten

Was der Bürgermeister von Stadtallendorf erlebte, der „seinen“ Bahnhof renovieren ließ


Pro Bahn & Bus im DBV

12. Sep 2010

Bahnhof Stadtallendorf Foto: Pascal Reeber

Am 25. Mai 2010 – unmittelbar vor dem Hessentag 2010 – wurde der grunderneuerte Bahnhof Stadtallendorf an der Main-Weser- Bahn Frankfurt am Main—Gießen—Kassel dem Verkehr übergeben. Aus diesem Anlass hielt Stadtallendorfs Bürgermeister Manfred Vollmer eine Rede. Sie bringt ausgesprochen pointiert und umfassend all diejenigen Erfahrungen mit der Deutschen Bahn zum Ausdruck, die auch viele Pro Bahn und Bus-Mitglieder immer wieder erleben müssen.

Bürgermeister Manfred Vollmer: „Es ist schon ein Abenteuer, so ein behindertengerechter Umbau eines kleinen Bahnhofs der Kategorie 5. Dieser Umbau war allerdings längst fällig, ja sogar überfällig; schließlich hatte die Bahn ihn als Eigentümer in den letzten Jahren - vorsichtig ausgedrückt - wenig gepflegt bzw. sich fast gar nicht darum gekümmert. Die Sanierung des Bahnhofs bzw. den Umbau durch die Kommune haben die städtischen Gremien in der Vergangenheit immer abgelehnt, da sie allein zu Lasten der Stadt gehen sollte. (…) Dann jedoch kam im November 2007 der Zuschlag zum Hessentag 2010. Das brachte die städtischen Gremien zu einer Meinungsänderung, denn in einem solchen Zustand wie der Bahnhof war, konnte man ihn den Besuchern des Jubiläumshessentages 2010 nicht präsentieren. Der Bahnhof ist die Visitenkarte einer Stadt für seine Bürger, Gäste und Besucher. Also musste dieser Schandfleck beseitigt werden.

Wenn ich allerdings geahnt hätte, welche Konsequenzen diese Entscheidung nach sich zieht, wer weiß, welche Entscheidung ich den städtischen Gremien empfohlen hätte. Dazu einige Episoden und Feststellungen:

Nach den Förderrichtlinien des Landes Hessen erhält die Stadt für den behindertengerechten Umbau des Bahnsteigs 1 einen Zuschuss von 85 Prozent der förderfähigen Kosten. (…) Alle Planungs-, Prüf- und Genehmigungsgebühren zahlt die Stadt allein. Vor allem auch die Planungsleistungen der DB AG. DB-Energie und DB Netz lassen sich die Anwesenheit ihrer Mitarbeiter bei Besprechungen mit einem Stundensatz von knapp 80,00 € bezahlen. Hätte ich das geahnt, ich hätte vermutlich auf deren Anwesenheit verzichtet, sofern das möglich gewesen wäre.

Nach rund 15 Monaten konnte der Bauvertrag oder der Bau- und Finanzierungsvertrag oder Finanzierungsvertrag, der Name wechselte fast wöchentlich, unterzeichnet werden. Hier soll es sich in Bezug auf die Zügigkeit um eine reife Leistung gehandelt haben. (…)

Im Rahmen der Planung wurde unser Bahnhof der Kategorie 5 – von 6 Kategorien – zugeordnet. Aufgrund dieser Kategorie war die Ausstattung gemäß Ausstattungshandbuch festgeschrieben, somit war klar, wie wir uns zu entscheiden hatten. Aber nicht nur keinen Spielraum hatten wir, wir mussten das Ganze auch noch bezahlen. Darüber hinaus gab es Prüfinstanzen wie die Fachplaner der Bahn, das Eisenbahnbundesamt, Lux-Controll, TEIV- und TSI-Prüfung und und und. Natürlich mussten wir auch hier alle Prüfgebühren und Abnahmegebühren bezahlen. Warum – ist nicht nachvollziehbar, da schließlich die Investitionen zur Verbesserung des Bahnhofs in das Eigentum der Bahn übergehen. Das ist ein erfolgreiches Wirtschaften: Man schreibt vor, wie man sein Eigentum, z. B. Einfamilienhaus, gerne ausgestattet hätte und lässt das dann auch noch von einem Dritten bezahlen.

Eine kleine Episode aus der Planungsphase am Rande: Das neue Bahnhofsdach hatte andere Maße als das alte. Nach dem Bau des neuen Daches stellte man fest, dass aufgrund der neuen Maße offensichtlich ein Haltesignal nicht mehr voll eingesehen werden könne. Niemand hatte das im Rahmen der Planprüfungen der Bahn gemerkt, überall war der grüne Prüfhaken dran. Die Stadt sollte dann die angeblich notwendige Veränderung des Haltesignals – ein immerhin 6-stelliger Betrag – bezahlen. Dagegen habe ich mich wie in vielen anderen Dingen vehement gewehrt. Und siehe da, nach einigen Wochen war der ganze Vorgang kein Thema mehr.

Eine interessante Zeit war der Zeitraum, als zahlreiche Genehmigungen eingeholt werden mussten. Aufgrund der Tatsache, dass in einer Behörde beantragte Genehmigungen einfach liegen blieben, weil entweder niemand so richtig zuständig, jemand krank oder in Urlaub war, habe ich mich bemüht, den Chef dieser Einrichtung zu sprechen. Und siehe da, es gab keinen Chef. Eigentlich ganz toll, wenn eine Einrichtung ohne Chef läuft, aber hier funktionierte das offensichtlich nicht. (…)

So waren wir beispielsweise mit Mitarbeitern im Keller des Bahnhofsgebäudes um festzustellen, welche Einrichtungen der Bahn künftig noch benötigt werden. Hier lagen fast alle Kabel in dicke Staubschichten gehüllt, waren offensichtlich jahrelang nicht angesehen worden und der eine oder andere Mitarbeiter wusste gar nicht so recht, welche Räumlichkeiten und Kabel es dort gab.

Besondere Erfahrungen brachte auch der Erwerb der Bahnhofsfläche sowie der Gebäude mit sich. Fläche und Gebäude waren nach unserer Auffassung überbewertet. Ich habe in diesem Zusammenhang noch gar nicht gewusst, dass das Bahnhofsgebäude zum Wohnen eine so tolle Lage ist, das Mieter danach Schlange stehen, wir deshalb hochwertiges Bauland haben und noch weitere Geschosswohnungen oder Gewerbebetriebe entstehen können; all dies wurde in den Verhandlungen zur Preisfindung von der Bahn unterstellt. In den Großstädten wie Frankfurt dürfte das sicher anders sein.

Eine große Kröte, die wir auch noch schluckten: Lebenslanges Wohnrecht für ehemalige Eisenbahner und deren Abkömmlinge. Das gibt es wohl auch nur bei der Bahn; bei allen anderen wirtschaftlichen Unternehmen ist das unbekannt. Sicher ist es auch ungewöhnlich, Eigentum mit einem Einsitzrecht zu erwerben, dies ist aber in unserem Fall auch nur der besonderen Situation der Gestaltung des Bahnhofsgeländes im Eingangsbereich der Stadt geschuldet. So verliefen die Kaufverhandlungen zäh und in einem nicht immer freundlichen Klima. (…)

Allerdings wurden nicht nur solche Erfahrungen gemacht, es gab auch zahlreiche Mitarbeiter, die ihr Bestes gegeben haben und immer bereit waren zu helfen, aber auch hier stand – wie so häufig – das System Bahn manches Mal im Wege. (…)

Dies ist nur ein ganz kleiner Ausschnitt aus den Erfahrungen mit dem Kauf des Bahnhofsgeländes einschließlich Bahnhof und des behindertengerechten Umbaus des Bahnhofs Stadtallendorf. Ich persönlich jedenfalls würde mich über ein Gespräch mit dem Vorstand der Bahn oder/und ein Gespräch mit dem für die Bahn zuständigen Ausschuss des Deutschen Bundestags freuen. Ich glaube nämlich, dass man dort oben gar nicht weiß, wie sich die Bahn im Laufe der Jahrzehnte gewandelt hat. (…)

Jetzt aber trotz aller Wehrmutstropfen und Bitternisse die Feststellung, dass wir uns freuen, dass es dennoch trotz aller Widrigkeiten, aller Hindernisse, aller Verärgerungen im kleinen wie im großen doch noch geklappt hat, dass der Bahnsteig 1 behindertengerecht rechtzeitig vor dem Hessentag 2010 umgebaut werden konnte. Der Abriss des Güterschuppens und der Umbau der Schalterhalle zu einer WC-Anlage und einer Bike&Ride- Anlage haben ebenfalls zu einem optischen Gewinn beigetragen. Dazu gehören ferner die Eingangsbereiche der Stadtmitte und der Niederkleiner Straße, die behindertengerecht neu gestaltet wurden. (…)

Gleichzeitig vielen Dank, dass der Bahnsteig 2 aus dem Konjunkturprogramm zusätzlich, ich muss sagen, sehr ansehnlich hergerichtet wurde. Übrigens, meine sehr geehrten Damen und Herren, die Sanierung geschah in wenigen Wochen und darum kümmerten sich offensichtlich auch alle Verantwortlichen der Bahn, denn sonst hätte das überhaupt nicht klappen dürfen. (…) Also, es geht offensichtlich auch anders!

Damit zusammengefasst noch einmal ganz herzlichen Dank an die zahlreichen engagierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bahn, der Ingenieurbüros sowie der Behörden und des Bauunternehmens. Ohne sie hätte es nicht geklappt. An einem solchen Tage vergisst man die Probleme und Schwierigkeiten und vielleicht auch diejenigen, die sich nicht so eingesetzt haben, wie man es erwartet hat und die uns das haben so richtig spüren lassen, was wir doch für kleine Leute sind. (…)

Und jetzt kommt die Feststellung, die am meisten schmerzt. Die am Bahnhof durchgeführten notwendigen, überfälligen und behindertengerechten Verbesserungen gehen nicht, wie man vermuten könnte, in das Eigentum der Stadt über, sondern in das Eigentum der Bahn AG. Und dennoch macht es jetzt wieder Spaß, sich am Bahnhof aufzuhalten und den öffentlichen Personennahverkehr in Anspruch zu nehmen. (…)

Ich gebe abschließend die Hoffnung nicht auf, dass sich die Bahn bei ihren Zukunftsüberlegungen vielleicht doch noch darauf besinnt, dass sie nicht nur den Gewinn zu Lasten der Mitarbeiter wie auch der Kunden im Auge hat, sondern auch ihre Aufgabe für die Allgemeinheit, nämlich ein umweltfreundliches, attraktives und bezahlbares Verkehrsmittel zu sein, nicht aus dem Fokus verliert. Gerade Staatsunternehmen haben eine solche Verpflichtung.“

Pro Bahn & Bus im DBV

aus SIGNAL 4/2010 (September 2010), Seite 12-13