Berlin • Brandenburg
Eine Denkschrift
1. Jun 2010
Die Berliner S-Bahn liegt uns allen am Herzen. Die vergangenen Monate, in denen der S-Bahn-Betrieb ins völlige Chaos rutschte, haben tiefe Spuren hinterlassen. Auch wenn sich Stück für Stück die Lage entspannt, sind wir noch mehrere Monate, wenn nicht gar Jahre von einem zuverlässigen Normalbetrieb entfernt. Wir dürfen jetzt nicht zur Tagesordnung übergehen. Strukturelle Veränderungen müssen in Gang gesetzt werden, damit die Fahrgäste, die Beschäftigten der S Bahn, die Wirtschaft, ja, damit die Bewohner der Länder Berlin und Brandenburg solche Zustände nicht ein weiteres Mal erleiden müssen. Diese Denkschrift soll die herausragende Bedeutung der Berliner S-Bahn aufzeigen, in der Vergangenheit und der Gegenwart. Wie die Zukunft aussieht, darüber muss jetzt entschieden werden. Für die Diskussion darüber soll diese Denkschrift eine Grundlage bieten.
„Die Berlinerinnen und Berliner lieben ihre S-Bahn. Nicht ohne Grund: Sie sind mit ihr bereits durch dick und dünn gefahren.“ (Quelle: S-Bahn Berlin GmbH, Selbstdarstellung)
Im S-Bahn-Krisenjahr 2009 ist die Liebe der Bewohner der Hauptstadtregion und der vielen in- und ausländischen Gäste zur S-Bahn deutlich abgekühlt. Die Fahrgäste haben ihr Vertrauen in die Zuverlässigkeit der S-Bahn durch die eklatanten Qualitätsmängel verloren. Das hervorragende Image des Öffentlichen Personennahverkehrs in der Hauptstadt hat weltweit Schaden genommen. Hier muss nachhaltig wieder Vertrauen aufgebaut werden. Gleichzeitig muss das hohe Qualitätsniveau wieder erreicht werden, das die S-Bahn noch vor wenigen Jahren innehatte.
S-Bahn am Tiefpunkt
Renditedruck zwingt S-Bahn zu rigidem
Sparkurs
Das Chaos bei der S-Bahn Berlin ist eine
zwangsläufige Folge einer verfehlten Unternehmenspolitik:
Jahrelang hat der Mutterkonzern
Deutsche Bahn AG bei der Fahrzeugwartung
der Berliner S-Bahn auf wichtige
Investitionen verzichtet sowie massiv
Personal, Fahrzeug- und Werkstattkapazitäten
abgebaut. Die in
derselben Zeit stetig
wachsenden Gewinne
der S-Bahn wurden
an die Deutsche
Bahn AG abgeführt.
Innerhalb weniger
Jahre verwandelte
sich die S-Bahn von
einem Vorzeigeunternehmen
des Berlin-
Brandenburger
Nahverkehrs zu einem
Sanierungsfall.
Monopol als Ursache für die S-Bahn-Krise
Die Ursache der
jetzigen S-Bahn-
Krise liegt in der
Monopolstellung
der S-Bahn Berlin
GmbH. Eine gemeinwirtschaftliche
Verantwortung wird
weder durch die
S-Bahn-Geschäftsführung
noch durch
den Eigentümer DB AG noch durch deren
Eigentümer, die Bundesrepublik Deutschland,
wahrgenommen. Um eine solche Krise
künftig zu vermeiden, muss ein anderes,
zuverlässigeres Modell für den Betrieb der
S-Bahn entwickelt werden.
Die S-Bahn ist das Rückgrat des Berliner Nahverkehrs. Seit mehr als 80 Jahren ziehen sich die Gleise der S-Bahn wie Lebensadern durch Berlin. Die S-Bahn in der Hauptstadt ist nicht nur ein Verkehrsmittel, sie ist ein Stück lebendige Geschichte, an deren Entwicklung sich historische Ereignisse aufzeigen lassen.
Bereits 1838 entstand die erste preußische Eisenbahnstrecke, die Berlin über Zehlendorf mit Potsdam verband. Im Laufe der folgenden Jahre erhielten immer mehr Stadtteile Anschluss an das Schienennetz, so dass es bald neun sogenannte Kopfbahnhöfe innerhalb Berlins gab. Das Problem, wie Reisende von einem Bahnhof zum nächsten gelangen konnten, wurde 1851 mit dem ersten echten Vorläufer der heutigen S-Bahn elegant gelöst. Die sogenannte Verbindungsbahn umfuhr das Stadtgebiet in einem Dreiviertelkreis, verband auf diese Art und Weise die einzelnen Stadtteile und Bahnhöfe miteinander.
Weltweite Anerkennung für das Berliner
S-Bahn-System
1924 war das Geburtsjahr der Berliner S-Bahn.
Nach mehrjährigen Vorarbeiten ging am 8.
August die erste mit seitlicher, von unten
bestrichener Stromschiene und 750 Volt
Gleichspannung elektrifizierte Eisenbahnstrecke
vom Stettiner Bahnhof (heute Nordbahnhof)
nach Bernau in den Regelbetrieb.
Wenig später folgten die anderen beiden
Nordstrecken nach Oranienburg und Velten.
Das neue System wurde mehrfach erweitert,
umgebaut und elektrifiziert. Damit war die
Berliner S-Bahn ihrer Zeit weit voraus und
ein Vorbild für viele andere Städte. Die Fachpresse
war begeistert, weltweit machte die
S-Bahn von sich reden. Unzählige Vertreter
anderer Städte kamen, um das neue Verkehrssystem
zu besichtigten.
Berliner und Brandenburger begeistert
von ihrer S-Bahn
Besonders beliebt machte sich die neue Bahn
bei den Fahrgästen durch die kurzen Fahrzeiten.
Schnell sprachen die Berlinerinnen
und Berliner stolz von ihrer „Schnellbahn”.
Offiziell gab es anfangs die Bezeichnung
„elektrische Vorortzüge” und später „Stadt-
Schnell-Bahn”. Erst seit Dezember 1930 wird
der Begriff „S-Bahn” offiziell verwendet. Die
Berliner S-Bahn gilt heute als die älteste und
bedeutendste in Deutschland.
Die Berliner S-Bahn wurde von der Deutschen Reichsbahn betrieben. Nach 1933 hatten die Nationalsozialisten überdimensionierte Ausbaupläne.
Bei einer erwarteten Bevölkerung von 4 bis 5 Millionen Einwohnern sollte ein leistungsstarkes Verkehrsmittel wie die S-Bahn nicht fehlen. Das Stadtgebiet sollte durch Eingemeindungen vergrößert und durch Trabanten- und Satellitenstädte ergänzt werden.
Geplant wurden unter anderem die Verlängerung von mehreren S-Bahn-Strecken ins Umland (unter anderem nach Strausberg, Werneuchen, Fürstenwalde, Trebbin), der Bau zweier Tunnel in Nord-Süd-Richtung sowie ein Fern-S-Bahn-Netz als Ergänzung zum bestehenden Netz.
Tatsächlich verwirklicht wurden der Nord- Süd-Tunnel in der Berliner Innenstadt zwischen dem Nordbahnhof und dem Anhalter Bahnhof sowie der Ausbau des elektrischen Betriebes auf der Anhalter und Dresdner Bahn im Süden der Stadt.
1944 zerfiel das Netz immer mehr, aufgrund der vermehrten Luftangriffe auf die Stadt. In den letzten April-Wochen des Jahres 1945 kam der Betrieb vollkommen zum Erliegen.
Nach dem Kriegsende existierte die Deutsche Reichsbahn (DR) auch weiterhin in allen vier Besatzungszonen Deutschlands. Allerdings erfolgte eine Umbenennung in Deutsche Bundesbahn für die Westzonen, in der sowjetischen Zone behielt man den alten Namen. Eine Übereinkunft der Sowjetunion mit den westlichen Alliierten übertrug die Betriebsrechte der DR auch auf den Westteil Berlins. Damit wurde die S-Bahn zur Zielscheibe im einsetzenden Ost-West- Konflikt.
Noch während die Wagen notdürftig instand gesetzt, Gleise demontiert und wieder aufgebaut wurden, wurde bereits im März 1947 die erste Neubaustrecke nach dem Krieg eröffnet: Von Mahlsdorf ging es eine Station weiter ins brandenburgische Hoppegarten. Etwa anderthalb Jahre später kam auch Strausberg ans Netz.
Nach dem Mauerbau: Auf- und Abstieg
im Ost- und Westteil der Stadt
1961 fuhr die S-Bahn im westlichen Teil Berlins
weiter, auch wenn die Strecken in den
Ostteil und ins Umland nun unterbrochen
waren. Aufgrund der Teilung entstanden auf
einigen Linien Geisterbahnhöfe, wenn diese
Linien Ost-Berliner Gebiet durchquerten.
Der Mauerbau führte in West-Berlin zum Aufruf von Politikern und Gewerkschaften zum S Bahn-Boykott mit Parolen wie „Der S Bahn-Fahrer zahlt den Stacheldraht!“ oder „Keinen Pfennig mehr für Ulbricht!“. Die Fahrgastzahlen sanken dramatisch, die S Bahn verlor fast die Hälfte ihrer Fahrgäste in ganz Berlin, und das, obwohl in der östlichen Stadthälfte im Laufe der Jahre ein Zuwachs verzeichnet werden konnte.
Der S Bahn-Betrieb in West-Berlin wurde für die S-Bahn zunehmend zum Verlustgeschäft. Notwendige Reparatur- und Sanierungsmaßnahmen wurden aufgeschoben, das Rollmaterial auf Verschleiß gefahren. Leere Züge, zerstörte Bahnanlagen und Fahrzeuge prägten in den nächsten Jahren das Bild der West-Berliner S-Bahn.
In Ost-Berlin dagegen blieb die S-Bahn das wichtigste Verkehrsmittel. Im Ostteil der Stadt wurde das Streckennetz weiter ausgebaut.
BVG übernimmt S-Bahn
1984 übernahmen die Berliner Verkehrsbetriebe
(BVG) im Auftrag des Berliner Senats
das inzwischen stark heruntergekommene
Streckennetz West-Berlins mit nur noch 114
Viertelzügen. Der Senat sanierte mit hohen
Beträgen das Streckennetz im Westteil der
Stadt. Prompt schnellten die Fahrgastzahlen
in die Höhe. Auch neue S-Bahn-Züge
wurden konstruiert, die unter der heutigen
Baureihen-Bezeichnung 480 noch auf dem
Berliner S Bahn-Netz unterwegs sind. Der
Vertrag über die Betriebsrechte wurde für
zehn Jahre unterzeichnet. Man war sich auf
beiden Vertragsseiten sicher, dass dieser
Vertrag 1994 verlängert
wird. Aber
es sollte ganz anders
kommen.
1989 machten die politischen Ereignisse auch nicht vor der S-Bahn halt. Mit dem Fall der Mauer am 9. November sah sie sich mit einem Fahrgastansturm unbekannter Größe konfrontiert. Erstmals fuhren auf der westlichen Stadtbahn seit langem wieder Vollzüge. Nach der Wiedervereinigung wurde im Einigungsvertrag vereinbart das Schienennetz im Zustand von 1961 wiederherzustellen. In den folgenden Jahren wurden Lücken im Netz geschlossen, Bahnhöfe reaktiviert und Strecken aufwendig saniert.
Insgesamt wurden bis 2005 rund 150 Kilometer S-Bahn-Strecke wieder neu aufgebaut.
Deutsche Bahn AG übernimmt S-Bahn
1994 übernahm die Deutsche Bahn AG die
Betriebsführung der Berliner S-Bahn. Ein
Jahr später, zum 1. Januar 1995 wurde ein
Tochterunternehmen der Deutschen Bahn
AG, die S-Bahn Berlin GmbH gegründet.
Das Unternehmen besitzt die Fahrzeuge
und das Personal. Bahnhofsbauten, Gleisanlagen
und Stellwerkstechnik gehören
der DB Station und Service AG bzw. der DB
Netz AG.
Wachsende Beliebtheit bringt mehr Fahrgäste
in die S-Bahn
Die S-Bahn wird zum beliebten Verkehrsmittel
in der Hauptstadt. Moderne Fahrzeuge
verbinden schnell und sicher die Berliner
City in alle Richtungen mit den Außenbezirken
und dem Umland. Seit 1995 steigt
die Zahl der im Jahr beförderten Fahrgäste
von 245 Millionen auf 388 Millionen im Jahr
2008. Das sind jeden Tag rund 1,3 Millionen
Fahrgäste.
Der Anteil der S-Bahn am Öffentlichen Personennahverkehr in Berlin beträgt inzwischen 40 Prozent. Hunderttausende Fahrgäste sind täglich auf den Linien auf der Stadtbahn, der Nord-Süd-Strecke und dem Ring unterwegs. Und auch für Pendler ist die S-Bahn ein unverzichtbares Bindeglied zwischen den Ländern Berlin und Brandenburg.
Die Züge fahren überwiegend pünktlich und zuverlässig, das Personal ist sichtbar und hilfreich. Die Fahrgäste sind zufrieden.
Nach und nach zeigen sich allerdings erste Qualitätsmängel, die vorerst noch kompensiert werden können. Doch die Fahrzeuge werden auf Verschleiß gefahren, Personalund Werkstattkapazitäten abgebaut. Die S-Bahn GmbH fährt trotz Warnungen unaufhaltsam in die Krise.
Der vorbildliche (Wieder-)Aufbau der S-Bahn in Berlin und Brandenburg zum positiven Imageträger des gesamten Nahverkehrs der Hauptstadtregion wurde binnen weniger Monate zerstört. Das Modell eines hervorragenden ÖPNV-Systems in Deutschland hat über die Grenzen der Region hinaus durch die S-Bahn-Krise Schaden genommen. Die Ursachen dafür liegen in strategischen Grundsatzentscheidungen, die schon etwas länger zurückreichen.
Waren es in den Jahren 2005 bis 2007 nur einzelne Vorboten, wurde im ersten Halbjahr 2008 offenkundig, dass die Qualität der S-Bahn massiv abgesunken ist. Eine deutlich verschlechterte Pünktlichkeit, Defizite in der Fahrgastinformation und ein unzureichendes Platzangebot in den Zügen, da es zu wenig Fahrzeuge gab, waren nur einige der Qualitätsmängel im Laufe des Jahres.
Die Entwicklung eskalierte schließlich im Jahr 2009: Im Januar fuhren tagelang Züge gar nicht oder verspätet, da die S-Bahn nicht auf einen Wintereinbruch mit strengem Frost eingestellt war. Fahrsperren froren ein, da seit einiger Zeit ein billigeres Schmiermittel verwendet worden war. Seit Juni 2009 schließlich konnte an keinem einzigen Tag das bestellte und notwendige Angebot gefahren werden!
Entwicklung der Pünktlichkeit
Noch vor wenigen Jahren wies die Berliner
S-Bahn regelmäßig Pünktlichkeitswerte
von über 97 Prozent auf. Unpünktliche Züge
waren die absolute Ausnahme. Dieses einst
beispielhafte Niveau hat sich seit 2005 langsam
und seit 2008 im Sturzflug nach unten
bewegt. Im Jahr 2008 waren nur noch 92
Prozent der Züge pünktlich. Im Jahr 2009
sank dieser Wert nochmals, im September
waren gerade mal noch 78,5 Prozent der S
Bahnen pünktlich.
Fahrgastinformation
Die Information der Fahrgäste über Verspätungen
oder andere Betriebsstörungen
ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit.
Während die Berliner Verkehrsbetriebe
(BVG) ihre U-Bahnhöfe flächendeckend
mit Anzeigen, die die Wartezeit auf den
nächsten Zug angeben, ausgerüstet hat,
während sich jedes Standard-Mobiltelefon
zu einer Informationszentrale entwickelt
hat, während der VBB eine flächendeckende
Echtzeitinformation für ganz Berlin und
Brandenburg aufbaut, während kaum ein
neues Auto mehr ohne satellitengestütztes
Navigationssystem verkauft wird, geht es
mit der S-Bahn zurück in die Steinzeit der
Informationstechnologie: Wo einst Anzeiger
den nächsten Zug samt Verspätungsinformationen
angezeigt haben, feierte das alte
Blechschild eine Wiederauferstehung.
In Zahlen: Während bis vor kurzem fast jeder S-Bahnhof entweder mit Anzeigern oder mit Personal vor Ort ausgestattet war, waren im Jahr 2008 rund ein Viertel der S Bahnhöfe ohne Wartezeit-Anzeigen (sogenannte dynamischen Zugzielanzeiger). Bahnhöfe, auf denen die Fahrgäste ablesen können, wann der nächste Zug eintrifft, sind leider eher die Ausnahmen. Oftmals werden weder das Fahrtziel des Zuges noch Verspätungen an die Reisenden weitergegeben. Kundenorientierung sieht anders aus.
Fahrzeugverfügbarkeit und Zuglängen
Die S-Bahn hat die Anzahl ihrer Fahrzeuge
drastisch reduziert: Waren im Jahr 2005
noch 671 Viertelzüge im Gesamtbestand,
ist dieser Wert im Jahr 2008 auf 630 geschrumpft
– und das bei gleichem Fahrplanangebot
und höheren Fahrgastzahlen.
Was sind die Folgen? Einerseits standen nicht mehr genügend Fahrzeuge zur Verfügung, um angemessene Zuglängen zu fahren. So wurden auf dem Ring und bei bestimmten Zügen der Linie S 3 beispielsweise keine S-Bahnen mit maximaler Zuglänge (Vollzüge) mehr eingesetzt, sondern nur noch Halb- oder Dreiviertelzüge.
Doch damit nicht genug: Die Anzahl der Fahrzeuge ist nun so knapp bemessen, dass nicht einmal die reguläre Instandhaltung erledigt werden kann. Kommt etwas Ungeplantes dazwischen, knirscht es erst recht. Bei einem so großen System wie der S Bahn kommt es jedoch regelmäßig zu ungeplanten Ereignissen, auf die man reagieren muss.
Vorfälle dieser Art gab es reichlich: Aus den verschiedensten Gründen gab es zusätzlichen Untersuchungs- und Instandhaltungsbedarf. So müssen u. a. bei einem Fahrzeugtyp Risse in den Bodenwannen saniert werden. Nach dem ICE-Unfall von Köln wurden zusätzliche Prüfungen von Achsen erforderlich, da die S-Bahn mit ähnlichen Bauteilen ausgerüstet ist.
Weiter wurde bei allen S-Bahn-Fahrzeugen die Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h bzw. 90 km/h (Baureihe 485) auf 80 km/h wegen notwendiger Prüfungen herabgesetzt.
Bei den Fahrzeugen der Baureihe 481 wurde nach einem Unfall am Bahnhof Südkreuz im November 2006 Anpassungsbedarf an der Bremsanlage deutlich. Bei dem Unfall war ein S Bahn-Zug mit einem Arbeitszug kollidiert, 33 Fahrgäste wurden verletzt. Bis heute liegt für die notwendigen Software- Anpassungen der Steuerung der Bremse noch immer kein abgenommenes technisches Konzept vor.
Bereits seit 2008 müssen sich die Fahrgäste damit arrangieren, dass die Zuglängen nicht mehr angemessen sind, Züge unpünktlich kommen und sehr häufig Züge ausfallen (zum Beispiel auf der Linie S 85).
Die Qualitätseinbrüche im Jahr 2008 waren gravierend, die Beeinträchtigungen für die Fahrgäste merklich. Aber immerhin: Das System funktionierte wenigstens noch ausreichend, wenn auch mangelhaft. Im Jahr 2009 kam es schließlich zum Kollaps.
Januar
Es begann gleich in der ersten Woche des
Jahres: Es gab einige kalte, aber für Mitteleuropa
nicht unübliche Tage. Doch für
die S-Bahn war dies zu viel. In nur einer
Woche gab es 3.000
Zugausfälle und 5.000
verspätete Züge. An
zwei Tagen sank die
Pünktlichkeit auf weit
unter 50 Prozent. Was
war geschehen? Bei
der Wintervorbereitung
war kurzerhand
gespart worden: Ein
sicherheitsrelevantes
Bauteil wurde
schlichtweg nicht mit
dem richtigen Material
eingefettet und fror
fest. Aus Sicherheitsgründen
durften die
Züge dann nur noch
mit 40 km/h fahren.
Die Technik ist übrigens seit rund 80 Jahren unverändert – ernsthafte Probleme damit gab es vorher nie!
Juni
In den Schatten gestellt wurde dies durch
die Ereignisse seit dem Sommer 2009: Ende
Juni stellte das Eisenbahnbundesamt (EBA)
fest, dass die S-Bahn Kontrollfristen nicht
ordnungsgemäß eingehalten hatte. Zu
diesen wöchentlichen
Kontrollen
hatte die S-Bahn
sich verpflichtet,
nachdem am
1. Mai 2009 ein
S-Bahn-Zug der
modernsten Baureihe
481 nach einem
Radbruch in
Berlin-Kaulsdorf
entgleist war.
Des Weiteren wurden Radsätze nicht innerhalb der notwendigen Fristen getauscht. Das EBA verfügte die sofortige Außerbetriebnahme aller nicht ordnungsgemäß kontrollierten S-Bahn- Fahrzeuge, da der betriebssichere Zustand der Fahrzeuge nicht mehr gewährleistet war. Zwangsweise wurde quasi über Nacht ein Großteil der Fahrzeugflotte aus dem Verkehr gezogen. Seitdem ermittelt die Staatsanwaltschaft wegen Gefährdung des Eisenbahnverkehres gegen die – inzwischen ehemalige – Geschäftsführung um Dr. Tobias Heinemann.
Seit dem 29. Juni stand damit nur noch rund die Hälfte der Fahrzeugflotte zur Verfügung. Die S-Bahn konnte nur noch rund 600 000 statt der sonst üblichen 1,3 Millionen Fahrgäste pro Tag befördern. Ein Notbetrieb mit ausgedünnten Takten und verkürzten Zuglängen wurde eingerichtet. Brandenburger und Berliner kamen nicht mehr pünktlich zur Arbeit. Touristen wussten nicht, wie sie durch die Stadt kommen sollten. Auch die Wirtschaft, beispielsweise Einzelhandel und Beherbergungsgewerbe, musste erhebliche Einbußen erleiden.
Der DB-Konzern reagierte und entband die gesamte Geschäftsführung der S-Bahn von ihren Aufgaben und setzte andere Mitarbeiter aus dem DB-Konzern in die Funktion ein. Infolge der nun durchgeführten Untersuchungen mussten ab dem 20. Juli abermals weitere Fahrzeuge abgestellt werden. Für ca. drei Wochen standen nur 30 Prozent der Fahrzeuge zur Verfügung.
Mehrere Strecken, darunter die Stadtbahn zwischen Bahnhof Zoologischer Garten und Ostbahnhof, konnten nicht mehr mit S-Bahnen befahren werden. BVG und Regionalbahnverkehr sowie weitere Verkehrsunternehmen fuhren Ersatz, wo es möglich war. Busse und U-Bahnen waren dennoch hoffnungslos überfüllt. Touristen aus aller Welt standen an den Stationen und warteten vergeblich, auch weil dringend notwendige Informationen zum Ersatzverkehr ausblieben oder nicht auf Englisch gegeben wurden. Rund 400 000 Fahrgäste kehrten dem Öffentlichen Personennahverkehr den Rücken zu und wichen aus auf Auto und Fahrrad oder gingen zu Fuß.
Nach entsprechenden Prüfungen und dem Austausch von Teilen konnte die S-Bahn ihr Angebot sukzessive wieder erhöhen. Anfang September waren wieder rund 60 Prozent der Fahrzeuge in Betrieb.
September
Der vorläufige Höhepunkt kam dann am 8.
September 2009. Die S-Bahn hatte selbst
festgestellt, dass Bremszylinder in der Vergangenheit
nicht ordnungsgemäß gewartet
und getauscht worden sind. Wieder musste
ein Großteil der Züge in die Werkstatt, wieder
standen nur 30 Prozent der Fahrzeuge
zur Verfügung.
Doch anders als im Juli waren keine Ferien mehr – das Verkehrsaufkommen konnte durch den Notfahrplan nicht annähernd bewältigt werden. Schwankte die Stimmung in der Öffentlichkeit in den Monaten zuvor zwischen Galgenhumor, Gelassenheit und Ärger, schlug die Stimmung nun in Wut und gleichzeitig Resignation um. Ein zweiter Fast-Totalzusammenbruch der S-Bahn erschütterte nun vollends das Vertrauen in ein ehemals zuverlässiges Verkehrsunternehmen. Die Geduld der Berlinerinnen und Berliner und ihrer Gäste war aufgebraucht.
Ursache: Geplanter Börsengang der
Deutschen Bahn AG
Auch wenn die Vorfälle noch nicht im Detail
aufgeklärt sind, ist eines klar: Der DBKonzern
hat einen enormen Kosten- und
Renditedruck auf die S-Bahn aufgebaut. Mit
verheerenden Folgen.
Die S-Bahn Berlin GmbH hat ihren Gewinn von 2005 auf 2008 mehr als versechsfacht. Gewinne, die an den Mutterkonzern Deutsche Bahn AG abgeführt wurden, damit dieser den geplanten Börsengang verfolgen konnte.
Für die Jahre 2009 und 2010 hatte die Deutsche Bahn sogar eine weitere Verdopplung der Gewinne bei der S-Bahn auf dann 125 Millionen Euro geplant. Hierbei handelt es sich zu einem großen Teil um Steuergeld der Länder Berlin und Brandenburg, die den Verkehr bei der S-Bahn bestellen und bezahlen.
Diese Gewinnplanung führte zu einem enormen Kostendruck, der die S-Bahn Berlin GmbH zwang, an der Instandhaltung, an Personal und Fahrzeugen zu sparen.
Binnen drei Jahren wurde mit fast 1.000 Beschäftigten rund ein Viertel der Belegschaft abgebaut; mehrere Werkstattstandorte wurden geschlossen. Die verbliebenen Mitarbeiter mussten mit ansehen, wie „ihre“ S Bahn herabgewirtschaftet wurde.
Während der ganzen Zeit wurden alle warnenden Hinweise des Berliner Senats, der Brandenburger Landesregierung und des Verkehrsverbundes Berlin-Brandenburg abgewiegelt, ignoriert oder zurückgewiesen. Die Schuld für die Qualitätsmängel wurde der Fahrzeugindustrie, dem Wetter oder sogar einzelnen Mitarbeitern zugewiesen. Reagiert wurde erst, als der öffentliche Druck enorm zugenommen hatte.
Krönung der Ignoranz ist die vom DBKonzern angeführte Begründung, der Gewinn der S-Bahn Berlin werde zum Abbau der Schulden für die Fahrzeuginvestitionen benötigt. Dies ist bewusste Irreführung, ein Ammenmärchen. Der Schuldendienst wird natürlich vor der Ermittlung des Gewinns bereits abgezogen. Insgesamt 100 Viertelzüge der Baureihe 481 wurden zudem durch die Bundesrepublik Deutschland finanziert.
Die Gründe für das Desaster bei der S-Bahn liegen übrigens nicht in der Privatisierung an sich. Kein privates Unternehmen kann es sich auf Dauer leisten, auf Verschleiß zu fahren. Schuld an der S-Bahn-Krise ist die unkontrollierte und bedingungslose Ausrichtung an dem einen Ziel „Börsengang“ – ohne Rücksicht darauf, ob man den Bogen überspannt.
Welche Schlussfolgerungen sind aus der aktuellen S-Bahn-Krise zu ziehen? Eines ist sicher: Es muss alles getan werden, damit sich derartige Vorgänge nicht wiederholen können. Hierzu reicht es nicht aus, lediglich die Verantwortlichen bei der S-Bahn Berlin GmbH auszutauschen oder die unternehmensinternen Organisationsabläufe zu prüfen und neu zu justieren. Vielmehr sind strukturelle Veränderungen nötig, um die Entstehung solcher Missstände unmöglich zu machen.
Ähnliche Vorfälle müssen in Zukunft vermieden
werden
Der Nahverkehr in der Hauptstadtregion ist
eine Aufgabe der Daseinsvorsorge und darf
nicht zum Spielball ökonomischer Interessen
eines Monopolisten werden. Die Aufgaben
zwischen staatlicher und unternehmerischer
Verantwortung müssen daher neu
verteilt werden. Die öffentliche Hand muss
jederzeit Zugriff auf die für die Funktionstüchtigkeit
des Systems essenziellen Bereiche
haben.
Strukturfalle bei der S-Bahn Berlin
Die Berliner S-Bahn ist ein technisches
Unikat. Hier fahrende Fahrzeuge können
weltweit an keiner anderen Stelle eingesetzt
werden. Selbst die technisch ähnliche
S Bahn Hamburg weist im Detail so viele
Unterschiede auf, dass ein wechselseitiger
Fahrzeugeinsatz unmöglich ist.
Ein einmal in Berlin und Brandenburg auf die Schiene gesetztes S-Bahn-Fahrzeug wird über den gesamten Nutzungszeitraum von mindestens 25 Jahren hier eingesetzt sein. Kein anderes Fahrzeug kann ohne weiteres auf den Schienen der Berliner S-Bahn Fahrgäste befördern.
Dies macht den Staat anfällig, ja sogar erpressbar. Er kann einen unzuverlässig gewordenen Betreiber nicht einfach kurzfristig auswechseln. Das gilt insbesondere, wenn nur ein Unternehmen den gesamten S-Bahn-Betrieb durchführt.
Wäre ein ähnliches Desaster bei den Regionallinien passiert, hätte verhältnismäßig einfach Ersatz geschaffen werden können. An vielen Stellen im In- und Ausland sind technisch kompatible Fahrzeuge im Einsatz, die man für ein Ersatzkonzept oder gar für einen Betreiberwechsel hätte organisieren können. Dies funktioniert jedoch nicht bei der Berliner S-Bahn. Nur die S-Bahn Berlin GmbH verfügt über Fahrzeuge, die in den nächsten Jahren einsatzbereit sind.
Kündigung des S-Bahn-Vertrags bringt
Risiken
Die Länder Berlin und Brandenburg könnten
den Verkehrsvertrag nach den Vorfällen der
letzten Monate aus wichtigem Grund kündigen.
Eine solche Kündigung hätte mit hoher
Wahrscheinlichkeit vor Gericht Bestand, es
fehlt aber die tatsächliche Alternative für
die Zeit danach. Bis ein potenzieller neuer
Betreiber Fahrzeuge zur Verfügung hätte, ist
der heutige Vertrag ohnehin abgelaufen.
Eine vorzeitige Kündigung des jetzt bestehenden S-Bahn-Vertrags birgt hohe finanzielle Risiken. Denn auch nach einer Kündigung müsste gewährleistet sein, dass der S-Bahn-Verkehr aufrechterhalten bleibt. Dazu müssten die Länder als Aufgabenträger der S-Bahn Berlin GmbH wegen fehlender Alternativen den Betrieb auferlegen.
Eine Auferlegung bedeutet unter anderem aber, dass das Verkehrsunternehmen seine realen Kosten zuzüglich eines Gewinnzuschlages gegenüber den Aufgabenträgern geltend machen könnte. In der Konsequenz hieße das, dass das rechtliche Risiko besteht, dass alle Folgekosten, wie zum Beispiel die Reaktivierung abgestellter Fahrzeuge oder die Durchführung der dichteren Wartungsintervalle aufgrund der vorhandenen Mängel, von den Ländern übernommen werden müssten.
Daseinsvorsorge im Eigenbetrieb oder
als „bestellte“ Leistung im Wettbewerb
Die öffentliche Hand hat zwei Möglichkeiten,
die Daseinsvorsorge zu gewährleisten:
Entweder erbringt sie die Leistungen selbst
mit einem Eigenbetrieb, auf den sie direkten
Zugriff hat, oder sie „bestellt“ die Leistungen
bei einem Verkehrsunternehmen, das über
einen Vertrag eng und zielgerichtet ständig
kontrolliert wird. Beide Varianten sind
erprobt und funktionieren. Voraussetzung
ist, dass die Rahmenbedingungen stimmen.
Ohne eine Alternative durch den Wettbewerb entsteht ein Monopol, das sich, wie im Falle der Berliner S-Bahn, der Steuerung durch die öffentliche Hand entzieht. Das im Wettbewerb übliche Korrektiv des drohenden Auftragsverlustes bei schlechter Leistung besteht bei der S-Bahn bislang nicht.
Variante 1: Nachhaltiger Zugriff auf
die Fahrzeuge durch Fahrzeugpool der
Länder
Die Strukturfalle ist langfristig nur zu beheben,
wenn die Länder nachhaltig strukturelle
Änderungen durchsetzen.
So könnten die Länder einen eigenen Fahrzeugpool gründen, die Fahrzeuge in ihr Eigentum übernehmen und auch die Instandhaltung organisieren.
Der Fahrzeugpool ist über die gesamte Lebensdauer der Fahrzeuge wirtschaftlich, da die Länder günstigere Finanzierungskonditionen erhalten und das eingesetzte Kapital nicht den Renditezielen des Kapitalmarktes unterworfen ist. Nachteil sind jedoch die hohen Anfangsinvestitionen. So müssten langfristig ca. 600 Fahrzeuge zu einem Stückpreis von rund zwei Millionen Euro finanziert werden.
Ein Rückfluss der eingesetzten Gelder würde dagegen erst in den folgenden 25 bis 30 Jahren in Form von geringerem Bestellerentgelt der Verkehrsleistung erfolgen. Gleichzeitig müsste in diesem Fall ein kontinuierliches Controlling der Fahrzeuge organisiert werden. Der wesentliche Vorteil ist, dass die Länder direkten Zugriff auf die Fahrzeuge als entscheidendes Produktionsmittel haben. Diese Lösung käme jedoch vermutlich nur für neue Fahrzeuge und nicht für die Bestandsfahrzeuge in Betracht. Da die Beschaffung von neuen Fahrzeugen frühestens 2015 abgeschlossen sein kann und auch ein neuer Betreiber erst gesucht werden muss, steht diese Lösung erst nach Ablauf des laufenden Vertrages 2017, jedoch nicht bereits heute zur Verfügung.
Würden die Länder im Besitz eines Fahrzeugpools sein, wären für den Betrieb der Strecken mehrere Handlungsoptionen denkbar:
S-Bahn als Eigenbetrieb der Länder
Die Länder könnten die S-Bahn als Eigenbetrieb
übernehmen, eigenständig weiterführen
oder sie an einen bestehenden Landesbetrieb
angliedern. Mit dieser Lösung
bestünden hinreichende Steuerungsmöglichkeiten,
um ähnliche Missstände für die
Zukunft zu vermeiden. Das Ziel der Versorgungssicherheit
würde erreicht.
Allerdings ist diese Variante wirtschaftlich kaum tragfähig, da die Länder neben der Finanzierung des laufenden Betriebs auch den Kaufpreis für die S-Bahn Berlin GmbH aufbringen müssten.
Zwingende Voraussetzung für diese Lösung wäre, dass überhaupt eine Verkaufsbereitschaft des heutigen Eigentümers, der Bundesrepublik Deutschland, besteht. Diese ist derzeit nicht absehbar, so dass diese Variante wegen dieser Unsicherheit ausfällt.
Wettbewerbsverfahren
Die Länder könnten die Verkehrsleistung
ausschreiben und die Fahrzeuge dem Wettbewerbsgewinner
für die Laufzeit des Vertrages
bereitstellen. Das bedeutet, dass das
jeweils beauftragte Verkehrsunternehmen
den Verkehr organisiert, aber nicht im Besitz
der Fahrzeuge ist.
Variante 2: klassischer Wettbewerb
Ausschreibung S-Bahn-Netz (Fahrzeuge
im Besitz des Betreibers
Schließlich ist ein „klassisches“ Wettbewerbsverfahren
denkbar, bei dem der Betreiber
die Fahrzeuge beschafft und stellt, so
dass Produktionsmittel und Produktion in
einer Hand liegen. Durch die Bildung mehrerer
Lose (zum Beispiel in drei Teilnetzen), die
gleichzeitig ausgeschrieben und zu unterschiedlichen
Zeitpunkten in Betrieb gehen,
wird das Risiko des Ausfalls eines Betreibers
gestreut. Außerdem würde der Verkehrsvertrag
strenge Vorgaben zur Instandhaltung
und zu deren Kontrolle beinhalten.
Ein erstes Teilnetz mit etwa einem Drittel der Leistung könnte frühestens 2017 an den Start gehen, die weiteren beiden Netze könnten in zwei Schritten mit einem Abstand von zwei Jahren erfolgen.
Auch wenn der Renditedruck des DBKonzerns zu dem heutigen S-Bahn-Desaster geführt hat: Im Wettbewerb droht eine ähnliche Situation kaum, da sich die Unternehmen immer wieder neu bewähren müssen und daher auch nachhaltig wirtschaften müssen. Und selbst wenn es ein schwarzes Schaf geben sollte – da es Alternativen gibt, kann es dann relativ schnell ersetzt werden.
Mehr Qualität und Kundenzufriedenheit
durch Wettbewerb – unter Berücksichtigung
der sozialen Belange der Arbeitnehmer
Die Erfahrungen im Regionalverkehr zeigen
deutlich, dass die Qualität des Angebots und
die Kundenzufriedenheit steigen, wenn der
Betrieb zeitlich befristet ausgeschrieben
wird und sich mehrere Wettbewerber darum
bemühen.
Qualitätsstandards werden zwingend vorgeschrieben und mit einem Bonus-Malus- System gesteuert.
Bei der jüngst durchgeführten „Netz- Stadtbahn“-Ausschreibung im Regionalverkehr gab es kritische Proteste der Arbeitnehmervertreter, die schlechtere Arbeitsbedingungen befürchten. Diese Sorge wird durch die neue EU-Verordnung 1370/07 entkräftet, denn im Ausschreibungsverfahren können nun auch die sozialen Belange der Arbeitnehmer gewahrt werden.
Die Auftraggeber haben die Möglichkeit, einen Betriebsübergang vorzugeben. Die Länder können also vorschreiben, dass der Sieger des Wettbewerbsverfahrens das Personal des alten Betreibers zu den gleichen Konditionen übernimmt. Eine typische Situation, die Vorteile für beide Seiten bringt: Der neue Betreiber kann sich darauf verlassen, qualifiziertes Personal zu erhalten – die Arbeitnehmer behalten ihren Arbeitsplatz und müssen keine Abstriche beim Lohn machen. Den befürchteten Wettbewerb auf dem Rücken der Arbeitnehmer kann es so nicht mehr geben.
Weichenstellung jetzt
dringend notwendig
Eine Betrachtung der realistischen Handlungsoptionen
„Fahrzeugpool“ und „klassischer
Wettbewerb“ zeigt, dass beide Instrumente
erst zum Ende der jetzigen Vertragslaufzeit
Wirkung entfalten. Selbst wenn ein
Wettbewerbsverfahren zügig durchgeführt
wird – weit vor 2017 wird man es nicht abschließen
können.
Dringlichste Aufgabe ist es daher jetzt, für 2017 und die Folgejahre die Weichen zu stellen. Gleichzeitig ist es notwendig, dass der bestehende Vertrag mit der S-Bahn Berlin GmbH angesichts der eklatanten Qualitätsmängel nachgebessert wird. Droht der Wettbewerb, muss sich die S-Bahn Berlin GmbH enorm anstrengen, um nicht wegen mangelnder Zuverlässigkeit vom Wettbewerbsverfahren ausgeschlossen zu werden. Der heilsame Druck möglicher Konkurrenten würde bei der DB AG mehr Anstrengungen zum Nutzen der Fahrgäste auslösen als die massive Kritik in der Öffentlichkeit.
Alle Kräfte müssen nun auf die Strukturen nach 2017 fokussiert werden. Die Entscheidung für diese Weichenstellung muss aber heute bereits gefällt werden.
Die Verkehrsunternehmen des DB-Konzerns sollen nach dem Willen der Bundesregierung und der sie tragenden Parteien privatisiert werden, das heißt, das öffentliche Eigentum soll aufgegeben werden. Es ist also nicht mehr zu erwarten, dass die DB AG als klassische Staatsbahn erhalten bleibt. Angestrebt wird hier eine 100-prozentige Privatisierung der Verkehrsunternehmen, mithin auch der S-Bahn Berlin GmbH. Dies wäre aus ordnungs- und bahnpolitischer Sicht konsequent. Was dann noch fehlt, ist ein Bundesgesetz für den Personenfernverkehr auf der Schiene, das Art und Umfang der politisch definierten Leistung sicherstellt.
Den Gewährleistungsauftrag erfüllen im Nah- und Regionalverkehr die Aufgabenträger – die Leistung sollte von den Verkehrsunternehmen durchgeführt werden, gesteuert durch strikte Verträge.
Diese Zielrichtung heißt ganz klar, dass für die Berliner S-Bahn die Direktvergabe an eine staatlich gesteuerte und im Staatsbesitz befindliche DB AG nicht mehr möglich ist.
Will man für die Bürger mit den aus dem Bundeshaushalt den Ländern für Schienennah- und Regionalverkehr zur Verfügung gestellten Finanzmitteln möglichst viel Verkehrsleistung mit hoher Qualität erreichen, scheidet die Direktvergabe aus.
Wettbewerb im S-Bahn-Netz
Wenn die Länder Berlin und Brandenburg
heute langfristig auf eine Direktvergabe
an die S-Bahn Berlin GmbH setzen würden,
würde man sich mittelfristig einem privaten
Monopol unterwerfen, von dem man heute
weder die Unternehmensziele noch die
Eigentümer kennt. Will mit der DB AG eine
„Heuschrecke“ das schnelle Geld machen
oder kommt sie in den Besitz nachhaltig
wirtschaftender, ehrbarer Kaufleute?
Zurzeit besteht im Bund als Eigentümer des DB-Konzerns kein klares Bekenntnis zu einer staatlich geführten und kontrollierten DB AG. Im Gegenteil: In den letzten Jahren hat die Bundesregierung stets eine Einflussnahme auf die DB AG abgelehnt. Solange seitens der Bundesregierung aber nicht beabsichtigt ist, die Geschäftspolitik der Deutschen Bahn entscheidend zu lenken, müssen die Länder auf den Wettbewerb im Nahverkehr setzen.
Bei den Ländern Berlin und Brandenburg und beim VBB ist wegen der vielfältigen Erfahrungen mit Ausschreibungen im Regionalverkehr die Kompetenz vorhanden, um ein solches Verfahren auch bei der S-Bahn erfolgreich durchzuführen.
Zeitplan Ausschreibungsverfahren
Ein Wettbewerbsverfahren dauert aufgrund
der langen Fahrzeugbeschaffung von der
Veröffentlichung bis zur ersten Fahrt rund
sieben Jahre.
Insgesamt wäre folgender Wettbewerbsfahrplan realisierbar:
Damit würde etwa ein Drittel des Netzes bedient werden. Die weiteren Ausschreibungsnetze könnten dann mit einer Abfolge von etwa drei Jahren folgen, da allein die Produktion der benötigten Fahrzeuge diese Zeit braucht. Voraussetzung für die Durchführung des Ausschreibungsverfahrens und die Einhaltung des Zeitplans ist die politische Entscheidung zugunsten des Wettbewerbs im Schienennetz der Berliner S-Bahn.
Hans-Werner Franz ist Geschäftsführer des Verkehrsverbundes Berlin-Brandenburg (VBB). Diese Denkschrift vom 2. Dezember 2009 gibt die persönliche Meinung des Verfassers wieder.
Hans-Werner Franz
aus SIGNAL 1/2010 (März 2010), Seite 29-35