International
Wer eine ökologisch und sozial orientierte Verkehrspolitik befürwortet, muss es als Affront empfinden, dass hierzulande die Bundesmittel aus dem Konjunkturpaket II ausdrücklich nicht für kommunale öffentliche Verkehrsmittel ausgegeben werden dürfen (siehe SIGNAL 3/2009, Seite 4). Dass es auch anders geht, zeigt unser Nachbarland Frankreich.
15. Sep 2009
In Frankreich kamen im Sommer 2007 Vertreter aus Politik, Verwaltung, Nichtregierungs- Organisationen, Gewerkschaften sowie Unternehmen zu einer Art rundem Tisch zusammen. Ziel war es, Grundlagen für die künftige Umweltpolitik Frankreichs zu entwickeln – bekannt geworden ist dieser Umweltgipfel als Grenelle de l’environnement. In wesentlich stärkerem Maße als bisher soll in Frankreich nunmehr auf eine nachhaltige Nutzung der natürlichen Ressourcen geachtet werden. Näheres dazu ist im Internet unter http://www.legrenelle-environnement.fr/spip.php?rubrique113 zu finden.
Doch woher stammt der Begriff „Grenelle de l’environnement“? Während das Wort „l’environnement“ für Umwelt steht, bezieht sich Grenelle auf einen heute zu Paris gehörenden Ort und eine Straße namens Rue de Grenelle. Im Jahre 1968 wurde dort ein runder Tisch gebildet, nachdem es in Frankreich vorher zu heftigen und teilweise gewalttätigen politischen Auseinandersetzungen gekommen war.
Geht es nach Präsident Nicolas Sarkozy, bedeutet Grenelle de l’environnement nichts weniger als eine Revolution auf dem Gebiet des Umweltschutzes. Keine Frage, dass sich daraus auch einschneidende Veränderungen in der Verkehrspolitik ergeben (können).
So kündigte Umweltminister Jean-Louis Barloo im Rahmen dieses Umweltgipfels das Ende des Autobahnbaus in Frankreich an. Davon sind rund 2500 Kilometer bisher projektierter Autobahnen betroffen. Man stelle sich den Aufschrei in Deutschland vor, würde hier eine solche Entscheidung getroffen werden!
Zugleich sollen Bahn und Binnenschiff in Frankreich wesentlich stärker als in der jüngeren Vergangenheit gefördert werden. Für Automobile mit hohem Schadstoffausstoß schlug Nicolas Sarkozy höhere Steuern vor. Vorerst gestoppt werden sollen die Entwicklung gentechnisch veränderter Pflanzen und der Bau weiterer Atomkraftwerke.
Die Erkenntnisse des runden Tisches sind in ein Gesetz namens „Loi Grenelle 1“ eingeflossen, das am 22. Oktober 2008 verabschiedet wurde. Es trifft Regelungen zu den Themen Energie, Ernährung, Konsum und Verkehr.
Für die Durchsetzung von Konzepten zur nachhaltigen Stadt verspricht der Staat den Kommunen eine Beteiligung von rund 800 Millionen Euro. Im Verkehrsbereich werden dadurch insbesondere der schnellere Ausbau des überregionalen Eisenbahnnetzes sowie diverse Projekte für weitere Straßenbahnstrecken und verbesserte Bussysteme ermöglicht. Allein die Straßenbahnnetze sollen außerhalb des Ballungsraums Paris um 1500 Kilometer wachsen. In Lyon und Marseille ist außerdem die Erweiterung der U-Bahn-Netze vorgesehen. So ist u. a. in den Städten Angers, Besançon, Brest, Dijon und Tours die Wiedereinführung der Tram zu erwarten. Die bereits vorhandenen Straßenbahnnetze sollen um weitere Strecken(abschnitte) ergänzt werden, beispielsweise in den Städten Bordeaux, Grenoble, Montpellier und Strasbourg. Wer sich die aktuellen Vorhaben betrachtet, wird vielleicht überrascht sein, wie kurzfristig der Beginn vieler Baumaßnahmen vorgesehen ist. Ganz anders als in Berlin, wo selbst die wichtigsten Projekte zum Ausbau der Straßenbahn regelmäßig nach allen Regeln der Kunst blockiert, vertagt oder zerredet werden.
Andererseits kann sich eine rasche Vergabe von Finanzmitteln auch als „Schnellschuss“ erweisen, insbesondere dann, wenn nicht ohne weitere Untersuchungen deutlich wird, welches öffentliche Verkehrsmittel im Einzelfall das Richtige ist. So ist in einigen französischen Städten geplant, Bussysteme auf Eigentrassen (bzw. mit sonstiger zusätzlicher Ausstattung) zu schaffen, so etwa in Saint-Brieuc, Cannes, La Rochelle, Nancy und Nîmes. Wären diese Aufwendungen aber in einigen Fällen nicht besser in „klassischen“ Straßenbahnlinien investiert?
Besonders problematisch ist in diesem Zusammenhang die plötzliche Kehrtwende der nordfranzösischen Stadt Valenciennes im Oktober letzten Jahres. Dort wurde am 16.6.2006 die Straßenbahn wieder eingeführt – zunächst auf einer Linie, die am 3.9.2007 an ihrem südwestlichen Streckenende um einige Stationen verlängert werden konnte. Für weitere Strecken scheint die Stadt aber nicht mehr die Tram, sondern ein Bussystem namens Valway zu favorisieren. Dabei handelt es sich nach ersten Bekanntmachungen um eine Art O-Bus auf Eigentrasse – im Grunde also „konventioneller Wein“ mit neuem Etikett. Dass es sinnvoll ist, ein solches „Patchwork“ nicht kompatibler Systeme in einer Stadt mit lediglich 350 000 Einwohnern zu schaffen, darf bezweifelt werden.
Zudem muss bei allen diesen Plänen berücksichtigt werden, dass Frankreich in den ersten drei Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg (und auch vorher schon) unzählige Eisenbahn-, Straßenbahn- und O-Busnetze aufgegeben hat. Dadurch und infolge des umfassenden Trends zur Autonutzung sank die Inanspruchnahme des Öffentlichen Personennahverkehrs außerordentlich, vielerorts bis fast zur Bedeutungslosigkeit – die Region Île de France mit Paris einmal ausgenommen.
Eine wahrnehmbare Umkehr dieses Trends setzte erst ab 1985 mit der Wiedereinführung der Straßenbahn in verschiedenen Städten Frankreichs ein. Die aktuellen Maßnahmen zur Förderung des ÖPNV in Frankreich zielen folglich darauf ab, die Nachfrage nach Bahnen und Bussen erst einmal im Grundsatz weiter zu verbessern. Einen vergleichbaren Kahlschlag beim Angebot öffentlicher Verkehrsmittel hat es in Deutschland bislang nicht gegeben, daher geht es hierzulande heute oftmals eher darum, prinzipiell gute ÖPNV-Angebote auch in schrumpfenden Städten zu erhalten.
Von Schrumpfung kann in der Hauptstadt Frankreichs allerdings keine Rede sein. Präsident Sarkozy stellte am 29. April 2009 das Projekt „Grand Paris“ vor. Der Ballungsraum Paris mit seinen 11 bis 12 Millionen Einwohnern soll wesentlich „grüner“ werden und viel weniger Energie verbrauchen als bisher. Erwartungsgemäß wurden auch großzügige Pläne zum Ausbau öffentlicher Verkehrsmittel vorgelegt. Neben verschiedenen Schnellbahnstrecken ist derzeit zusätzlich ein automatisches Metrosystem mit einer 130 Kilometer umfassenden Ringlinie geplant. Geradezu bescheiden nehmen sich im Verhältnis dazu die ebenfalls durchaus ambitionierten Erweiterungspläne für die Pariser Straßenbahn aus.
Inwieweit alle diese Pläne in Frankreich im Allgemeinen und in Paris im Besonderen praktikabel und finanzierbar sind, bleibt abzuwarten.
Was den Eisenbahnverkehr betrifft, so beziehen sich viele Ausbauvorhaben wie in der Vergangenheit stark auf den Hochgeschwindigkeitsverkehr (Lignes à grande vitesse). Projekte für Schnellfahrstrecken gibt es zur besseren Erreichbarkeit der Bretagne, des Loire- Gebietes, des Burgunds, des Elsasses, der Alpen, der Provence und der Côte d’Azur. Eine wichtige Rolle spielt bei Eisenbahnprojekten die Ausweitung des Schienengüterverkehrs, wofür auch derzeit stillgelegte Strecken herangezogen werden könnten. Hingegen soll dem Lkw-Verkehr eine Emissionssteuer auferlegt werden. Umweltschützer kritisieren diese Steuer jedoch als zu niedrig, um echte Verlagerungseffekte auszulösen.
Im Bereich des regionalen Eisenbahnverkehrs sind im Zusammenhang der Grenelle de l’environnement ebenfalls Vorhaben entwickelt worden, Strecken(netze) zu erhalten bzw. zu erneuern, z. B. in der Auvergne.
Gleichwohl gibt es außerhalb der Ballungsräume bzw. Großstädte noch weitreichenden Handlungsbedarf bei der Förderung des Schienenverkehrs. Stellvertretend sei die seit 1988 stillgelegte Bahnstrecke nach Gérardmer in den Hohen Vogesen genannt. Seit 2004 müht sich der Verein TG2V vor Ort um die Wiederinbetriebnahme dieser unter anderem für den Wintersport-Verkehr bedeutsamen Strecke (http://www.tg2v.org ).
Folgen den hehren Worten Sarkozys nun auch konkrete Taten, was die Förderung solcher kommunaler Bahnprojekte angeht? Wo ein Wille ist, findet sich auch ein Weg. Das zeigt jedenfalls das Beispiel der Stadt Grasse – von Gérardmer aus betrachtet gewissermaßen am anderen Ende Frankreichs gelegen, nämlich in der Region Provence-Alpes-Côte d’Azur – und ebenso wie Gérardmer ein Ort, der traditionell viele Touristen anzieht. Nach jahrzehntelanger Abstinenz fahren seit 2005 wieder Reisezüge bis in die Parfumstadt Grasse, Endpunkt einer Strecke, die für die Reaktivierung nicht nur modernisiert, sondern auch (wieder) elektrifiziert wurde.
Insgesamt scheint die Verkehrspolitik Frankreichs aus Fahrgastsicht eine vielversprechende Wendung zu nehmen, mag die Entwicklung auch im einen oder anderen Fall Anlass zur Kritik geben. Es wäre wünschenswert, wenn auch in Deutschland öffentliche Verkehrsmittel weniger als Kostgänger oder als Objekt fragwürdiger Börsenträume betrachtet würden, sondern als das, was sie eigentlich sind: vorteilhaft und unerlässlich für eine ebenso ökologisch wie sozialverträglich ausgerichtete Gesellschaft. (hjb)
Berliner Fahrgastverband IGEB
aus SIGNAL 4/2009 (September 2009), Seite 25-26