Nahverkehr
1. Mai 1992
Die Straßenbahn in Berlin soll modernisiert, ausgebaut und in den Westteil der Stadt verlängert werden. Hierfür wird auch ein neuer Straßenbahnwagen benötigt. Man hat sich für den AEG-Niederflurwagen entschieden, da er sich in anderen Städten bereits im täglichen Einsatz bewährt hat. Dieser Fahrzeugtyp wird sowohl in Ein- als auch in Zweirichtungsbauweise angeboten.
Es gibt einen Gundlegenden Unterschied im Einsatz von Ein- bzw. Zweirichtungswagen. Der Einrichtungswagen braucht zum Wenden eine Wendeschleife. Der Zweirichtungswagen verwendet in der Regel eine sog. Kehranlage. Die Wendeschleife hat bereits im Grundausbau (Schleife mit Ausweiche) eine erheblich höhere Kapazität als eine Kehranlage. Diese läßt im normalen Ausbauzustand (zwei Stumpfgleise) höchstens einen zu. Auf den Neubaustrecken im Westteil der Stadt wird es aber wesentlich kürzere Taktzeiten geben. Bei einer Wendeschleife bereitet das keine Schwierigkeiten. Die Kehranlage dagegen muß mit hohem Aufwand erweitert werden. Damit steigt auch der Platzbedarf für eine Kehre. Sie hätte im Ausbauzustand mit vier Gleisen und zwei Bahnsteigen eine Breite von ca. 20 m. Eine Wendeschleife wäre knapp 40 m breit. Für das Innere der Schleife bieten sich vielfältige Gestaltungsmöglichkeiten an. Schon so manche Straßenbahn-Endstation konnte auf diese Weise zu einem auffälligen und fahrgastfreundlichen Zentrum erhoben werden. Zusätzlich können Bus und Straßenbahn an einer Wendeschleife optimal verknüpft werden. Die Busse durchfahren die Wendeschleife in entgegengesetzter Richtung zur Tram. Sie halten dabei an derselben Haltestelleninsel. Die Fahrgäste können mit einem Fußweg von gerade einmal 3 m schnell und bequem umsteigen.
Es gibt aber auch noch ganz andere Kriterien. Eine Schleife mit Ausweichgleis braucht nur eine steuerbare und eine mechanische Weiche (Schnappweiche). Für eine Kehre mit zwei Stumpfgleisen sind vier Weichen notwendig. Die technische Ausrüstung der Weichen ist teuer und verursacht unnötige Betriebskosten (Weichen müssen intensiv gewartet und im Winter beheizt werden). Deshalb sind Wendeschleifen billiger als Kehranlagen. Die Weichentechnik hat aber auch noch einen anderen Haken: Die Technik streikt nämlich gelegentlich. Bei einem Wendevorgang in der Kehranlage müßten dann die Weichen von Hand gestellt werden - das Chaos wäre vorprogrammiert...
Ein weiterer Unterschied im Betriebseinsatz: Der Zweirichtungswagen kann bei Baustellen im Pendelverkehr oder mit provisorischer Kehranlage auch im normalen Linienbetrieb eingesetzt werden. Baustellenverkehre sind aber nur langfristig organisierbar. Die geringe Bodenfreiheit der Niederflurwagen wird dies auch in manchen Fällen verhindern.
Nach den Gleisanlagen müssen nun die Unterschiede im Aufbau der Fahrzeuge selbst betrachtet werden. Der Bremer Prototyp verfügt über 65 der Augsburger Prototyp, ebenfalls Einrichtungswagen, wird bei gleichem Raumbedarf 59 Plätze haben. Bei der Zweirichtungsversion würde sich die Sitzplatzzahl auf gerade einmal 54 Plätze reduzieren, legt man den Augsburger Wagen zugrunde, sind es sogar nur noch 45. Die Gesamtkapazität des dreiteiligen AEG-Niederflurwagens liegt bei etwa 200 Personen. Beim Zweirichtungswagen würde also nur noch jeder vierten Person ein Sitzplatz zur Verfügung stehen. Das ist eindeutig zu wenig. Auch in anderen Bereichen läßt die Fahrgastfreundlichkeit der Zweirichtungsversion zu wünschen übrig. So wird beim Niederflurwagen damit geworben, daß die neue Tram für Kinderwagen und Rollstühle leicht zugänglich ist. Was nützt dies aber, wenn im Zweirichtungswagen keine Abstellplätze vorhanden sind? Der Türraum kann nicht genutzt werden und zusätzliche Abstellplätze können nicht angebracht werden.
Die BVG beabsichtigt, in neue Straßenbahnwagen Fahrkartenautomaten einzubauen. Potsdam hat seine Tatra-Kurzgelenkwagen teilweise bereits mit Automaten ausgerüstet. Sie befinden sich hinter dem Fahrer, gegenüber der ersten Tür. Auch bei den Niederfurwagen in Einrichtungsversion könnte er dort angeordnet werden. Beim Zweirichtungswagen dagegen hat man hier kein Glück. Der Platz hinter dem Fahrer ist nämlich Türraum. Auch die Suche nach einem anderen Standort ist vergeblich. Egal, wo der Automat angebracht würde, es müßten Sitzplätze geopfert werden. Außerdem bräuchte man im Zweirichtungswagen zwei Automaten. Direkt in Fahrzeugmitte kann er nicht angebracht werden, weil es dort keine Tür gibt. Ist er aber nicht in der Mitte, sondern wird er in Richtung eines Wagenendes versetzt, sind zwei Automaten notwendig. Sie müssen nämlich immer an der gleichen Stelle zu finden sein, egal, ob der Eweirichtungswagen mit dem A- oder mit dem B-Teil nach vorn fährt.
Ein weiterer wichtiger Punkt im Vergleich von Ein- und Zweirichtungswagen ist die Wirtschaftlichkeit. Die Betriebskosten des Einrichtungswagens sind deutlich geringer als beim Zweirichtungswagen: Das Zweirichtungsfahrzeug hat einen höheren Stromverbrauch, da es drei bis vier Tonnen schwerer ist. Dies liegt an der technischen Ausrüstung des zweiten Führerstandes und den vier weiteren Türen. Die zusätzliche technische Ausrüstung bedingt zu allem Überfluß auch noch höhere Wartungskosten und macht das Fahrzeug störanfälliger. Die Anschaffungskosten für einen Niederflurwagen in Einrichtungsversion liegen nach Herstellerangaben bei 3,7 Mio DM. Bei der Zweirichtunsversion kommen noch einmal 500.000 DM für den Führerstand und weitere Kosten für die Türen hinzu. Ein Zweirichtungswagen ist also 20% teurer als ein Einrichtungswagen. Die BVG will als erste Serie eine Zahl von rund 20 Fahrzeugen beschaffen. 20 Einrichtungswagen kosten 74 Mio. DM, 20 Zweirichtungswagen dagegen fast 90 Mio. DM.
Ein Blick in andere Städte: Die AEG-Niederflurwagen wurde bisher an Bremen und München geliefert. Augsburg, Braunschweig, Erfurt, Erlangen und Nürnberg wollen den Wagen bestellen oder haben ihn bereits bestellt. Alle diese Betriebe haben die Einrichtungsversion gewählt, an der Zweirichtungsvariante bestand kein Interresse. Auch Betriebe, die längere Zeit Zweirichtungswagen gekauft haben, setzen heute wieder auf den Einrichtungswagen. Als Beispiele kann man hier Augsburg, Düsseldorf, Kassel oder Nürnberg nennen. Auch dort in Deutschland, wo neue Straßenbahnnetze geplant werden (Erlangen, Saarbrücken), sind selbstverständlich, Eínrichtungswagen vorgesehen.
Es fällt nicht schwer, ein Fazit zu ziehen. Warum sollen in Berlin zum jetzigen Zeitpunkt Zweirichtungswagen bestellt werden? Weil auf ein oder zwei der diskutierten Neubaustrecken Zweirichtungswagen sinnvoll wären? Sie sind hier vielleicht sinnvoll, aber nicht zwingend notwendig. Oder weil man die Möglichkeit hätte “überflüssige” Strecken per “Salamitaktik” stillzulegen? Die Straßenbahn muß in Berlin endlich wieder den Stellenwert im Verkehr bekommen, der ihr zusteht. Deshalb ist es entscheidend, wie sie in der Öffentlichkeit Anklang findet. Sollte man die Öffentlichkeit denn ausgerechnet jetzt vor die Frage stellen, warum ein Zweirichtungswagen 700.000 oder 800.000 DM mehr kostet, ein Betrag, für den man auch schon einen Gelenkbus kaufen könnte?
Martin Bunz
Arbeitsgemeinschaft Fahrzeugtechnik
aus SIGNAL 5/1992 (Juli 1992), Seite 16