Aktuell
Der Wahltermin bestimmt den Baufahrplan
1. Sep 1995
Ohne Wahltermine hätte die Wiederinbetriebnahme der Berliner S-Bahn mit Sicherheit noch länger gedauert. Man denke nur an die Wannseebahn. Trotz Fertigstellung in einem der kältesten Winter des Jahrhunderts konnte der geplante Wiederinbetriebnahmetermin 1. Februar 1985 eingehalten werden - kurze Zeit später wurde gewählt. Auch 1995 beschert uns der Wahltermin einen Fortschritt bei der S-Bahn-Wiederinbetriebnahme: Zur allgemeinen Überraschung und Freude begannen am 14. August die Bauarbeiten auf der Kremmener Bahn, und schon 1996 sollen S-Bahn-Fahrten über Tegel hinaus möglich sein. Ebenso überraschend erleben die Fahrgäste nun aber auch die Kehrseite eines Wahltermines: Die Wiederinbetriebnahmen der U-Bahn zwischen Schlesisches Tor und Warschauer Straße sowie der Tram in den Wedding wurden auf den 14. Oktober verschoben. Daraufhin hat auch die BVG den alljährlichen kleinen Fahrplanwechsel im Herbst auf den 15. Oktober verlegt.
Eigentlich hätte ja alles viel früher fertig sein können. Aber erst die Berliner Wahlen sorgten für den nötigen Druck. Doch damit zwischen dem Wahltermin am 22. Oktober und der Wiederinbetriebnahme der U-Bahn zur Warschauer Straße sowie der Straßenbahn zum Louise-Schroeder-Platz noch ein Anstandsabstand bleibt, sollten die Eröffnungsfeiern am 30. September erfolgen (nachzulesen z.B. noch im Programmheft des Bausenators für die Berliner Bauwochen vom Mai 1995). Aber nun wurde alles auf den 14. Oktober verschoben. Die Senatsbauverwaltung sei im Verzug, heißt es. "Falsch", sagen die Bauplaner, der Bundesverkehrsminister konnte nicht früher, wolle aber persönlich anwesend sein. "Falsch", sagen wiederum andere, der Minister sollte nicht eher kommen, damit der Termin möglichst nah vor den Wahlen liegt. Schließlich habe die CDU beim Verkehr dank Herrn Haase nur Minuspunkte gesammelt, nun wolle sie mit Herrn Wissmann auch ein paar Pluspunkte gewinnen. Unabhängig davon, was der "wahre Grund" ist, bleibt festzuhalten: Selbst zwei sicher scheinende Eröffnungen wurden jetzt nochmals um zwei Wochen nach hinten geschoben, so daß die Fahrgäste diese Angebote erst entsprechend später nutzen können. Doch wen interessiert das schon, wenn es um Wahlen geht?
Als Wähler sind die Fahrgäste natürlich schon begehrt. Und deshalb hat Verkehrssenator Haase am 14. August, als alle aus den Schulferien zurück waren, einen medienwirksamen ersten Spatenstich für die Wiederinbetriebnahme der Bahn nach Hennigsdorf getan. In der Tat ist dies eine kleine Sensation: Die lange vernachlässigte S-Bahn auf der Kremmener Bahn soll nun schon "im Frühiahr" 1996 von Berlin-Tegel bis Heiligensee und im Dezember 1996 nach Hennigsdorf weiterfahren können. Zuletzt war von 1998 die Rede. Daß es nun schneller gehen wird, ist auf eine Initiative der "Planungsgesellschaft Bahnbau Deutsche Einheit" (PBDE) zurückzuführen, die bei der schnellen Wiederherstellung der Hamburger Bahn gerade erst ihre Leistungsfähig. bewiesen hat und nach neuen Aufgaben sucht. Im Falle der S-Bahn nach Hennigsdorf könnte sie sogar noch schneller arbeiten, wenn die planungsrechtlichen Voraussetzungen schon gegeben wären. Bekanntlich ist für eine Teilstrecke nördlich von Tegel neues Planungsrecht nötig, weil auf der alten S-Bahn-Trasse die Fernstraße nach Hamburg gebaut wurde. Daß in den letzten Jahren die planungsrechtlichen Voraussetzungen für die S-Bahn-Wiederinbetriebnahme nicht schon längst geschaffen wurden, dafür ist Verkehrssenator Haase verantwortlich, genau der Senator, der sich am 14. August mit einem symbolischen Spatenstich feiern ließ. Doch wen interessiert das schon, wenn es um Wahlen geht?
Nachtrag: Mit dem vorstehenden Satz sollte der Artikel enden, doch erfreulicherweise muß angefügt werden, daß ein Teil der Journalisten in der Berichterstattung über den 14. August sehr wohl "die Verdienste" von Herrn Haase um die Kremmener Bahn relativierte. Und auch Brandenburgs Verkehrsminister Hartmut Meyer (SPD) ließ es sich nicht nehmen, auf den Zusammenhang von Spatenstich und Berliner Wahlen anzuspielen. Das war er seinen Genossen natürlich auch schuldig, für die der CDU-Senator seit Jahren täglicher Stein des Anstoßes, aber zugleich willkommene Wahlkampfzielscheibe ist. So hatte der Berliner SPD-Fraktionschef Klaus Böger am 30. Mai der BZ erklärt: "Herr Haase ist vor allem eine Belastung für die Stadt, weil er von Verkehrspolitik in einer Metropole keine Ahnung hat." Ohne dem widersprechen zu wollen, muß sich die SPD allerdings nach ihrer Mitverantwortung fragen lassen. Schließlich war sie Mitglied der Großen Koalition, die diesen Senat und diesen Senator getragen hat.
IGEB
aus SIGNAL 6/1995 (September 1995), Seite 4-5