Nahverkehr
Neue Berliner Straßenbahnzüge können nicht zufriedenstellen
1. Sep 1995
Die neuen, 3,7 Mio DM teuren AEG-Niederflurwagen haben nach über einjähriger Anlaufzeit ihre technischen "Kinderkrankheiten" übenwunden und müssen sich jetzt im BVG-Alltagsbetrieb bewähren. Aber im Fahrgasteinsatz stellten sich inzwischen einige Nachteile konzeptioneller Art heraus, die umso schwerer wiegen, da sie erstens nicht so einfach behebbar sind wie die Technikfehler, und zweitens die Sympathie der Kunden für die neue Fahrzeuggeneration merklich dämpfen. Wichtigster Kritikpunkt ist dabei die lnnenraumgestaltung.
Festzustellen ist zunächst einmal die geringe Zahl der Sitzplätze: 58 Sitzplätze für ein 27 m langes Einrichtungsfahrzeug sind ein wohl kaum zu unterbietender Minimalwert für ein modernes Fahrzeug. Hinzu kommt, daß von diesen 58 Sitzplätzen vier Klappsitze sind, die im Bereich der Abstellfläche für Kinderwagen oder Rollstühle liegen, und mindestens weitere drei Sitze in den Vierersitzgruppen zumindest für Erwachsene nicht benutzbar sind (s.u.). Es verbleiben also bei wohlwollender Bewertung - 51 Sitzplätze. Damit wird ungefähr das Angebotsniveau eines 18-m-Gelenkbusses erreicht! Ein weiteres Ärgernis: Schon bei mittlerer Fahrzeugbesetzung stellt man fest, daß die Bewegungsfläche auf ein Mindestmaß reduziert ist und insbesondere in den Türbereichen Engpässe entstehen, die wiederum zu verlängerten Haltestellenaufenthalten führen.
Zum Vergleich: Die nur geringfügig längeren Duewag-Zweirichtungsfahrzeuge (Bochum, Halle etc.) haben zwischen 68 und 72 (brauchbare) Sitzplätze und bieten durch die "doppelten" Türräume auch ausreichend Abstellmöglichkeiten für Kinderwagen oder Rollstühle. Daß diese Fahrzeuge nur einen 70%igen Niederfluranteil haben, ist kein Nachteil, hinsichtlich des Anschaffungspreises jedoch ein gravierender Vorteil - sind diese Fahrzeuge doch um über 20% preiswerter als die Berliner Züge!
Gelten Niederflurwagen für Fahrgäste mit Kinderwagen oder in Rollstühlen als besonders vorteilhaft, so kann man dies für die Berliner Fahrzeuge leider nicht behaupten. Die knapp bemessene Abstellfläche an der Wagenspitze ist häufig bereits durch andere (stehende) Fahrgäste belegt, und die Benutzung der hinteren Abstellflächen müssen häufig erst die Fahrgäste von den Klappsitzen vertrieben werden. Die logische Folge: Die Kinderwagen stehen häufig unmittelbar im Türbereich, und Fahrgäste kommen weder rein noch raus. Und schließlich muß im lnteresse eines "Umweltverbundes" grundsätzlich auch die Beförderung von Fahrrädern mit den modernen Straßenbahnen möglich werden. Auch dies ist bei der vorhandenen Innenraurnaufteilung der Berliner Züge nicht möglich.
Die podestfreie Anordnung der Sitzplätze bei den Berliner Fahrzeugen hat sich zwar als Werbewirksam, aber für die Fahrgäste eher negativ erwiesen: Ergebnis sind nicht nur zusätzliche Einschränkungen im Wageninneren durch zahlreiche Einbauten, sondern auch eine besonders nachteilige Anordnung der Sitze auf den Radkästen. Wenn schon kein Raum vorhanden ist, um die Füße nach hinten einzuziehen, so muß wenigstens vorne Platz sein. Die bei den Berliner Wagen gebaute Variante ist derart unglücklich, daß in den Vierersitzgruppen immer einer frei bleibt, weil nicht alle vier Personen ihre Füße unterbringen!
Die Bremer Straßenbahn AG hat nach heftigen Fahrgastbeschwerden Konsequenzen gezogen und baut ihre (zwar vierteiligen, aber ansonsten baugleichen) Niederflurzüge um. Dabei wird die Zahl der Sitzplätze zugunsten verbesserter Abstellflächen und Bewegungsräume deutlich ziert. Umbauten werden wohl auch der BVG nicht erspart bleiben: Die vorhandenen Fahrzeuge müssen zugunsten verbesserter Abstell und vergrößerter Bewegungsflächen in den Türbereichen umgebaut werden. Für die 2. Lieferserie der AEG-Fahrzeuge sind diese Nachteile von vornherein zu vermeiden. Und für die Bestellung weiterer Straßenbahnzüge muß bei der BVG (zusammen mit den Fahrgästen) noch einmal grundsätzlich über die technische Ausstattung, die Fahrgastfreundlichkeit und über das Preis-Leistungs-Verhältnis der zu bestellenden Züge nachgedacht werden. Angesichts der knappen Gelder und der aus Fahrgastsicht erheblichen Mängel an den neuen Fahrzeugen muß die BVG-Einkaufspolitik für neue Straßenbahn-Fahrzeuge grundlegend überprüft werden. Ein gelungenes Beispiel, wie man es besser machen kann, zeigt Rostock, die den attraktiven, im Alltagsbetrieb bewährten Kasseler Straßenbahnzug für ihre Verhältnisse leicht modifizieren ließen und in großen Stückzahlen für je 2,9 Mio DM beschafften!
IGEB
aus SIGNAL 6/1995 (September 1995), Seite 15-16