Nahverkehr

Ein heißer Sommer für die BVG

Das war ein heißer Sommer für Berlin. Vor allem der Wrapped Reichstag, aber auch eine Vielzahl von Großveranstaltungen sorgten von Mitte Juni bis Mitte August für einen in der jüngeren Geschichte Berlins seltenen Besucheransturm, übertroffen wohl nur durch die Zeit nach dem 9. November 1989. Verpackungskünstler Christo lockte mehr als 5 Mio Besucher, die Love-Parade auf dem Ku damm hatte mehr als 400.000 Teilnehmer, der Christopher-Street-­Day mehrere 10.000, und zur Gymnaestrada kamen für eine Woche noch einmal mehr als 20.000 aus 35 Ländern der Welt zuzüglich normaler Touristen. lm August füllten dann der FC Bayern München und der AC Milano sowie die Rolling Stones das Olympiastadion mit nahezu bzw. über 70.000 Fans. Die BVG hatte also mehrmals Gelegenheit zu zeigen, was sie kann, aber so richtig geschafft hat sie es leider in keinem einzigen Fall.


IGEB

1. Sep 1995

DFB-Pokalendspiel

Der Transport der Fußballfans zum Olympiastadion hat sich inzwischen nach jahrelanger Erfahrung halbwegs eingespielt, ärgerlich nur, daß mit Einbruch der Dunkelheit fast sämtliche Omnibuslinien vom Bf Zoologischer Garten im regulären 20­ Minuten-Takt verkehrten, ohne Einsetzer. Dies führte auf dem 145er, aber auch auf anderen Linien, zu oft überfüllten Bussen, da in diesem Jahr zur selben Zeit tausende von Reichstagsbesuchern in der Stadt unterwegs waren.

Wrapped Reichstag

Weil Verkehrssenator Haase während der Reichstagsverhüllung das Brandenburger Tor für den allgemeinen Autoverkehr öffnete, gab es rund um den Reichstag großräumgie Staus. Zügig voran. blieb damit für die Fahrgäste der Buslinie 100 nur ein frommer Wunsch. Foto: I. Schmidt
Auf der Tauentzien. Nicht nur der BVG-Verkehr brach unter der Last des Ansturms zu Love-Parade zusammen. Foto: Matthias Horth

Wer tagsüber am Hardenbergplatz stand, traute seinen Augen nicht, es waren nur noch Busse zu sehen. Der 149er fuhr wegen des erwähnten Pokalendspiels im Minutentakt, und auch beim 100er sah man die Busse zeitweise im Minutentakt Richtung Reichstag abfahren. Oft standen an der Haltestelle drei bis vier Busse hintereinander. Die BVG setzte offensichtlich alles ein, was sie zur Verfügung hat. Möglich wurde dies durch die Bereitschaft vieler Busfahrer, spontan Überstunden zu leisten. So waren Gelenkbusse, teilweise sogar mit ExpressBus-­Beschriftung, zu sehen, ferner Doppel- und Eindecker, selbst Omnibusse von Privatuntemehmen, z.B. dreitürige Eindecker der Fa. BEX, die normalerweise nur auf der SEV-Linie S9 verkehren, und die DenOudsten­Busse, sonst eher im Steglitzer Bereich verkehrend. Obwohl bis zu 90 Busse zusätzlich im Einsatz waren, klappte es leider trotzdem nicht gut. Zum einen ist das Verkehrsmittel Bus bei solchem Verkehrsaufkommen einfach nicht ausreichend leistungsfähig, zum anderen herrschte Chaos nicht nur am Hardenbergplatz, sondern auch rund um den Reichstag. Dauerstau, u.a. verursacht durch Senator Haases vorübergehende Öffnung des Brandenburger Tores für Pkw, bestimmte dort das Bild und bewirkte bis zu 45 Minuten Fahrzeitverlängerung pro Umlauf eines 100ers. Logische Folge war, daß trotz des geplanten teilweise erhebliche Lücken entstanden. Und auch andere Linien waren vom Chaos betroffen, das durch spontane Aktionen der Verkehrslenker noch verschlimmert wurde: So durfte entgegen den Absprachen die Buslinie 248 nicht die Entlastungsstraße befahren.

Christopher-Street-Day

U-Bf Wittenbergplatz, Ausgerechnet das Massenverkhersmittel U-Bahn war dem Andrang ub diesem Sommer wiederholt nicht gewachsen. Foto: Matthias Horth
Alexanderplatz, Schlechte Einsatzplanung und fehlende Personalreserven führten mehrfach zu chaotischen Verhältnissen. Die vom Senat zu verantwortenden Fahrplanausdünnung, zynisch als Angebotsoptimierung bezeichnet, haben die Leistungsfähigkeit der BVG enscheidend gemindert. Foto: Marc Heller

Auch bei dem alljährlichen CSD kam es zu Problemen. Betroffen waren U1, U15, U7, U9 und vor allem U2. Auf der U2 gab es lediglich einen 10-Minuten-Takt, der durch Züge zwischen Theodor-Heuss-Platz und Alexanderplatz verstärkt wurde, die ca. zwei Minuten nach dem Regelzug fuhren. Dieses führte aber am Sonnabendnachmittag auf der U2 zum Chaos. Überfüllte Züge in beiden Richtungen beherrschten das Bild, der hätte wegen der Menschenmassen eigentlich gesperrt werden müssen. Vollkommen überfüllte Züge trafen vom Alexanderplatz ein, aber viele Fahrgäste kamen aus den Zügen nicht heraus, weil der Bahnsteig zu voll war. Andere kamen nicht mehr hinein. Die Folge: Bahnsteigaufenthalte von bis zu drei Minuten, und damit eine beträchtliche Reduzierung der Streckenkapazität. Hier zeigte sich wieder einmal eindrucksvoll, daß die vom Senat genannten Beförderungskapazitäten, die stets als Argument für die U-bahn und gegen die Tram angeführt werden, reine Theoriewerte sind.

Love-Parade

Ca. 400.000 Leute wollten zu Ku'damm und Tauentzien, aber die BVG schien ahnungslos zu sein. Im U-Bahn-Bereich bot sie den normalen Samstagnachmittagbetrieb mit 10-Minuten-­Takt. Lediglich die U15 verkehrte ca. alle sechs Minuten, aber nur zwischen Uhlandstraße und Wittenbergplatz! Logische Folge: Alle U-­Bahn-Linien zur West­-City waren hoffnungslos überfüllt - es ging nichts mehr. Nicht einmal die Zuglänge der U1 wurde angepaßt, sie fuhr bis zum Nachmittag größtenteils mit 6-Wagen-Zügen, die erst nach dramatischen Zuständen aut 8-Wagen-Züge verlängert wurden. Auch bei der U15 kam die BVG nicht auf die Idee, die Züge auf acht Wagen zu verlängern. Zwei vollkommen überfüllte Vier-Wagen-Zügen pendelten unter dem Ku'damm, auf dem sich ca. 400.000 Personen befanden und natürlich keiner der Busse verkehren konnte. Offensichtlich hatte die U-Bahn-Betriebsplanung den Andrang zur Love-­Parade völlig unterschätzt. Als erste Sofortmaßnahme wurde auf einigen Bahnhöfen der U1 und U2 angesagt, daß der Bahnhof Wittenbergplatz vollkommen überfüllt sei und man bitte auf andere Bahnhöfe ausweichen solle eine wirkungslose Ansage, die nur die Hilflosigkeit der BVG verdeutlichte. Immerhin wurde die U2 in den Abendstunden noch verstärkt.

Auch im Busbereich klappte nicht viel: Sämtliche Buslinien zum Zoo wurden weiträumig zurückgezogen, weil der Hardenbergplatz nicht mehr anzufahren war. Aber diese Maßnahme war unüberlegt, denn der BVG­-Parkplatz in der Hertzallee war anfahrbar, wie auch, bis auf wenige Ausnahmen, die Jebensstraße. Der 109er, der bis S-Bf Charlottenburg fuhr, wie auch die Omnibuslinien 145, 149, 245 und X9 hätten z.B. an die Rückseite vom Bf Zoo herangeführt werden können, der 109er und 149er über Kant-, Leibniz- und Bisrnarckstraße, Straße des 17. Juni, Müller- und Fasanenstraße zur Hertzallee. Eine Ersatzhaltestelle zum Aussteigen in der Hertzallee, zum Einsteigen die Haltestelle des SEV in der Jebensstraße, ein paar große Hinweisschilder am Hardenbergplatz - schon wäre das Problem gelöst gewesen. Auch die Information der Busfahrgäste war unzumutbar: A4-PapptafeIn, mit Filzschreiber im wahrsten Sinne des Wortes bekrakelt, baumelten an einer Schnur auf halb acht über der Mülltonne. Das war alles. Hinweise Für Nachtlinien gab es gar nicht. Dafür standen nachts vier BVGer am Hardenbergplatz vor ihren Dienstautos und unterhielten sich angeregt. Daß die Nachtlinien, die über Wittenbergplatz fahren, erst ab Nollendorfplatz abfuhren, bekam man erst auf Nachfragen heraus. Auf die Frage, wieso das nìrgends dransteht und warum die Herren nicht wenigstens die ca. 200 wartenden Personen auf dem Platz per Lautsprecher oder persönlich informieren könnten, kam die Gegenfrage: "Ja wissen Sie denn, wer hier Fahrgast ist und wer nicht?" Und weiter gings mit dem Privatgespräch unter BVG-Männern.

Auch spät in der Nacht, als die Love-­Parade zu Ende und der Ku'damm halbwegs sauber waren` gab es keinerlei Hinweise, daß hier weiterhin nichts fuhr, daß der Ku'damm "BVG-frei" blieb. Aber das merkten die Fahrgäste ja von selbst, meist schon nach 30 Minuten Wartezeit. Warum war hier kein in der Lage, nach Beendigung der Love Parade mündlich zu informieren oder besser noch Hinweistafeln an den Haltestellen anzubringen? Eine Zumutung für die Fahrgäste!

Welt-Gymnaestrada

Hier hatte sich die BVG mehr Mühe gegeben. Es verkehrten zwei Sonderbuslinien vom U-Bf Kaiserdamm zur Jafféstraße und vom S.Bf Grunewald auch zur Jafféstraße bzw. zum Olympiastadion. Zu bemängeln gab es hier nicht viel, nur beim U-Bahn-Verkehr zwischen Olympiastadion und Alexanderplatz kam es speziell in den Abendstunden zu teilweise überfüllten Zügen, weil zum Alexanderplatz die U2 größtenteils nur im 10-Minuten-Takt fuhr. Hier wurde anscheinend die Menge der Menschen unterschätzt, die abends von den Veranstaltungen noch zum Alexanderplatz fuhren, um sich dort auf der "Turnermeile" teilweise bis in die frühen Morgenstunden zu amüsieren. Speziell am letzten Tag der Gymnaestrada, einem Sonnabend, kam es zu Problemen, weil fast sämtliche Besucher und Teilnehmer der Abschlußveranstaltung im Olympiastadion noch zum Alexanderplatz fuhren, wo ebenfalls eine Abschlußveranstaltung stattfand. Hier fuhren zwar auch Einsatzzüge vom Olympiastadion, aber diese nur "nach Bedarf" und meistens nur bis Zoo oder Nollendorfplatz. Leider bestand zwischen dem Bedarf, den die BVG sah und dem tatsächlichen Bedarf eine erhebliche Lücke, was dazu führte, daß nur etwa alle zehn Minuten ein Zug von Zoo am Alexanderplatz eintraf - vollkommen überfüllt.

FC Bayern München - AC Milano

Wer gehofft hatte, daß die BVG aus den Erfahrungen im Juni und Juli gelernt hätte, wurde am 7. August enttäuscht. Zwar wurden, als am Abend fast 70.000 zum Fußballfest im Olympiastadion anreisten, auf allen wichtigen U-Bahn-Linien mehr Züge eingesetzt, und auf der U2 wurde der 2 1/2- Minuten-Takt gefahren, aber über die Rückfahrt hatte man sich bei der BVG offensichtlich wenig Gedanken gemacht. Dabei ware die Probleme vorhersehbar. Das Fußballspiel begann erst um 21 Uhr und war folglich erst rund eine Viertelstunde vor 23 Uhr beendet. Wie stets bei einem fast vollen Olympiastadion zog sich der Abtransport über mehr als eine Stunde hin, da die leistungsfähigere S-Bahn neben dem Stadion bekanntlich noch immer stillgelegt ist. So konnten die letzten Fußballfans erst gegen Mitternacht am Olympiastadion (Ost) abfahren. Damit war vorprogrammiert, daß viele Umsteiger im U-Bahn-Netz nicht mehr nach Hause kamen, weil die BVG es versäumt hatte, daß U-Bahn-­Angebot an diesem Abend generell zu verlängern. Früher wäre ein solch relativ spätes Fußballspiel in Berlin kein Problem gewesen. Aber mit Einführung der provinziellen Spätfahrpläne, die trotz gegenteiliger Versprechungen mit dem letzten Fahrplanwechsel nicht besser wurden, muß man in Berlin zumeist vor Mitternacht aufbrechen, um noch mit der U-Bahn nach Hause zu kommen - ein skandalöser Zustand, den die Berliner Fußballfans und ihre Gäste am Abend des 7. August eindrucksvoll vorgeführt bekamen.

Rolling Stones

Zur Vervollständigung sei angefügt, daß es auch diesem Konzertabend wieder Ärger gab. Nur wer sein Rückfahrziel zwischen Ruhleben und Alex hatte, wurde dank des guten U2-Angebotesv angemessen bedient. Umsteiger ins übrige U-Bahn- und Busnetz blieben wieder zu einem erhblichen Teil auf der Strecke. Freude daran nur Berlins Taxifahrer.

Fazit

Die Erfahrungen aus dem Sommer 1995 veranschaulichten die zwei großen Probleme der BVG. Erstens agiert das Unternehmen auch nach allen Umstrukturierungen und objektiven Verbesserungen noch allzu oft wie ein recht schwerfälliger Saurier, der nicht schnell und flexibel genug auf außergewöhnlichen Kundenandrang reagieren kann. Dies gilt besonders für den U-Bahn-Bereich. Zweitens ist nach fünf Jahren Senatsknebelpolitik die Fahrzeug- und Personaldecke so dünn geworden, daß der BVG die Möglichkeit genommen wurde, große Zusatzleistungen zu erbringen. Das wird sich spätestens im nächsten strengen Winter erneut zeigen. Fünf Jahre zuschußkürzungen und daraus folgende Fahrplanausdünnungen, die den Fahrgästen zynischerweise wiederholt als "Fahrplanoptimierun­gen" verkauft wurden, haben bei der BVG unübersehbare Spuren hinterlassen. Dennoch besitzt unser Verkehrssenator die Frechheit zu behaupten, der Senat strebe eine Änderung der Verkehrsmittelwahl für die Berliner Innenstadt auf 60:40 bzw. 80:20 zugunsten des ÖPNV an. Für wie dumm hält der Herr Professor die Berliner eigentlich?

IGEB

aus SIGNAL 6/1995 (September 1995), Seite 20-23