Nahverkehr
S-Bahnhof Bornholmer Straße: Drei junge Französinnen kommen in die Eingangshalle des Bahnhofs und sehen sich im leeren Raum um. Plötzlich bleiben sie stehen und schauen nach rechts. Croissanterie steht in glänzenden Fraktur-Lettern über einem Imbiß. Sie schauen sich betreten an, dann gehen sie kichernd weiter. Wie können die Deutschen diesen zierlichen französischen Blätterteighörnchen solche Buchstaben verpassen? Das ist ja schon ein Dicke-Berta-Blätterteighorn! Vielen Bahnbenutzern fallen in Berlin diese Beschriftungen in der sogenannten Tannenberg-Fraktur auf. Gerade auf der Nord-Süd-Bahn, die in den 30er Jahren gebaut wurde, ist sie besonders häufig zu sehen.
1. Jan 1996
Die Tannenberg wurde von Erich Meyer entworfen (Schriftgießerei D. Stempel in Frankurt am Main) und nach der Schlacht im ersten Weltkrieg in Ostpreußen - Hindenburgs größtem militärischen Erfolg - benannt. Nach der Machtübernahme der Nazis wurden die fremdländischen und „nichtarischen“ Antiquaschriften durch die „arteigenen“ gebrochenen Schriften verdrängt, die Frakturschriften sind dabei eine Unterart. In den 30er Jahren entstanden dann Schrift-Neuschöpfungen mit vielsagenden Namen: Gotenburg, Standarte, Deutschmeister, Großdeutsch oder National.
Der Streit um Antiqua und gebrochene Schriften geht auf das 18. Jahrhundert zurück, als immer mehr aufklärerische Literatur aus Frankreich nach Deutschland kam; doch die Fraktur hielt sich hartnäckig. Fraktur-Verfechter behaupten, daß diese Schrift - im Gegensatz zur Antiqua - ein organisches Schriftbild hat und das Wort als „geschlossenes gedankliches Gebilde" erkennen ließe. Goethe äußerte zur Fraktur, daß sie „eine Offenbarung des deutschen Gemüts" sei. Der Schriftenentwerfer Robert Koch sah zwischen der deutschen Sprache und der Schrift „einen seltsamen Zusammenhang, der mehr erfühlt werden muß, als in Worten auszudrücken ist. Es lebt und webt etwas Wildes, Kühnes, Kämpferisches, hartes, Knorriges und auch wieder Zartes, Feines in ihren Zeichen: eine Rosenhecke, deutscher Wald“.
So plötzlich, wie die Frakturschrift nach der „Machtergreifung" 1933 protegiert wurde, so plötzlich war auch ihr verschwinden: Die Nazis selbst verbannten die Fraktur 1941 aus den Setzkästen. Per Führerbefehl wurde nun plötzlich ausschließlich die Antiqua als Normalschrift benutzt.
ln einem nicht zur Veröffentlichung bestimmten Schreiben Martin Bormanns („Der Stellvertreter des Führers, Stabsleiter“) vom 3. Januar 1941 steht: „Die sogenannte gotische Schrift als eine deutsche Schrift anzusehen oder zu bezeichnen ist falsch. In Wirklichkeit besteht die sogenannte gotische Schrift aus Schwabacher Judenlettern. ... Am heutigen Tage hat der Führer in einer Besprechung mit Herrn Reichsleiter Amann und Herrn Buchdruckereibesitzer Adolf Müller entschieden, dass die Antiqua-Schrift künftig als Normalschrift zu bezeichnen sei.“ Zunächst wurden die Druckerzeugnisse mit Auslandsverbreitung umgestellt, später folgten die anderen.
Der Grund für den plötzlichen Wechsel dürfte aber eher gewesen sein, daß man den neuen Untertanen im sich explosionsartig ausdehnenden Reich diese schwer lesbare Schrift nicht zumuten mochte, sollten sie doch auf einem möglichst geringen Bildungsniveau gehalten werden. Also schwenkte man selbst um 180 Grad.
Bei der Deutschen Reichsbahn kam bis zu diesem Zeitpunkt vor allem die Tannenberg in verschiedenen Schriftschnitten zum Einsatz. Ob Nord-Süd-Bahn, Babelsberg, oder bis vor wenigen Jahren auf dem Südring überall bei der Bahn springt diese kantige Schrift sofort in Auge, Ab und zu wird sie bei Renovierungsarbeiten neu angebracht - oftmals leider im falschen Schriftschnitt gesetzt (Zehlendorf) oder, in Unkenntnis der Satzregeln (die in jedem Duden zu finden sindl), einfach falsch geschrieben („Fernsprecher" im Bahnhof Bornholmer Straße).
Sieht sich der aufmerksame Bahnbenutzer einmal auf der Nord-Süd-Bahn um, so stellt er fest, daß die denkmalgerechte Sanierung oft versucht - aber nicht konsequent durchgeführt wurde. Ein paar Beispiele:
Bahnhof Bornholmer Straße: Auf dem Wort Café - in Tannenberg gesetzt - fehlt der Akzent. Wie bei Croissanterie assoziiert man bei einem Wort in dieser Schrift eher einen Kellner mit Stahlhelm als eine freundliche Bedienung. Aber keine Sorge - es hat ohnehin geschlossen ...
Desweiteren findet sich hier ein Hinweis auf nicht vorhandene Fernsprecher - oder vielmehr auf Ferns-precher: Das Wort wurde mit einem „runden s“ versehen; statt dessen hätte hier ein „langes s" hergehört. Dieses „Schluß-s" zeigt das Silbenende und somit die Trennung an.
Nordbahnhof: Der ehemalige Stettiner Bahnhof wurde 1950 umbenannt - die pommersche Stadt lag in Polen und alles, was auf etwaige Besitzansprüche deuten könnte, wurde aus dem Stadtbild getilgt, So wurde die Bahnhofsschilder mit „Nordbahnhof" übermalt natürlich in Tannenberg-Fraktur. Im Rahmen der derzeit stattfindenden Sanierung wurden jetzt erhabene Lettern im gleichen Stil angebracht - die es dort aber nie so gab! Wenn schon denkmalgerecht, dann richtig. Nur so „auf alt machen" ist nicht in diesem Sinne. Die Wegweiser in den Eingängen wurden zu gegeben Anlässen mit neuen Hinweisen überrnalt (in Tannenberg), die alten Richtungen lassen sich trotzdem noch erkennen. Im Schild „Garten- und Bernauerstraße" hat sich bis heute ein Rechtschreibfehler erhalten - Straßennamen werden bei Städten getrennt geschrieben.
Oranienburger Straße: Beschädigte Schilder an den Wänden wurden bei der Sanierung originalgetreu ersetzt. Leider wurden die beiden langen Blechschilder unter den Treppen entfernt - oder hat sie etwa ein „Liebhaber" geklaut?
Die nördliche Einfassung des Eingangs ist erhalten. Der Pylon mit dem „S"-Bahn-Logo ist ebenfalls aufgestellt. Die Beschriftung ist allerdings hier völlig daneben gegangen - Hauptsache es sieht alt aus ... Diese Schrift (Old English) paßt überhaupt nicht hierher. Außerdem hatten die Pylonen der Nord-Süd- Bahnhöfe auch keine beschrifteten und durchleuchteten Glasplatten, sondern erhabene Tannenberg-Lettern wurden auf Metall aufgebracht.
Der südliche Bahnhofseingang entspricht noch weniger dem Original: Die Eingangsumfassung ist modem und schlicht, der Pylon steht frei und die Schrift (wieder auf einer durchleuchteten Glasplatte) ist eine Groteskschrift - paßt also auch nicht hierher (das gleiche gilt auch für den Bahnhof Unter den Linden).
Anhalter Bahnhof: Er wurde in den 80er Jahren umfassend saniert und anschließend wurden auch etliche Schilder in der für diesen Bahnhof typischen Tannenberg-Fraktur angebracht. Die Eingangsbereiche sind vorbildlich wiederhergestellt worden - einschließlich der korrekten Beschriftung der Pylonen am Eingang. Geht man die Treppe in den Bahnhof hinunter, so fällt das Schild „Anhalter Bhf." ins Auge. Diese Abkürzung läßt sofort auf den zwischenzeitlichen Betreiber BVG schließen - bei der Eisenbahn ist sie nicht üblich, hier wird mit „Bf." abgekürzt.
Leider wurde bei der Sanierung ein grundsätzlicher Fehler begangen: Die Bahnhofswände sind mit emailliertem Blech statt weißen Opak-Glasplatten (Schlesische Spiegelglas—Manufaktur) verkleidet worden. Somit ist zwar auf den ersten Blick ein alter Zustand wiederhergestellt worden, aber die gesamten Reflexionen des Lichts sind nicht mehr möglich. Die nicht verfüllten Fugen zwischen den Platten geben den Wänden außerdem ein sehr hartes Raster. Bleibt zu hoffen, daß so etwas beim Bahnhof Potsdamer Platz nichtgeschieht. Hier wäre es wünschenswert, wenn einige der Wegweiser wieder in farbigen, aufgeklebten Glasbuchstaben in Tannenberg-Fraktur gestaltet werden; ein hamronisches Miteinander von Historie und Gegenwart versucht wir.
Mathias Hiller, GVE
Berliner S-Bahn-Museum
aus SIGNAL 9-10/1995 (Januar 1996), Seite 15-16