Regionalverkehr

Ein schönes Wochenende

Auf der Brandenburgerischen Städtebahn unterwegs


Ivo Köhler

1. Jan 1996

Unter besagtem Motto versucht bekanntlich die reformierte Bahn ihre Nahverkehrszüge zu füllen. Das Ergebnis ist bekannt: findige Köpfe haben BiIligstfahrmöglichkeiten durch halb Deutschland entdeckt und sorgen dort, wo die Züge ohnehin gut besucht sind, für Völkerwanderungen biblischen Ausmaßes. Was solI’s, wer "In" sein will, fährt Bahn. Recht so. Doch wie sieht es bei den eigentlichen Auslösern dieses Superangebotes aus, den Nebenbahnen über Land? Machen wir einen Test.

Die Regionalbahn aus Belzig, noch mit einer V180 bespannt, ist in Brandenburg Hbr. angekommen. Foto: I. Köhler

Die Fahrt kann man mit einem verkehrshistorischen Exkurs verbinden. So ist eine Bereisung der einstigen Brandenburgischen Städtebahn, soweit noch verfügbar, eine hübsche Idee. Mittels des 15,- DM-Pauschalscheines ging es eines recht schönen Sonntagmorgens zunächst mit der Regionalbahn von Wannsee nach Belzig. Zu jenem Zeitpunkt nannte sich die Unternehmung noch R6. Jetzt heißt das ganze RB11 und klingt nach mehr. Wonach die chaotische Vergabe von Linienummern für den brandenburgischen Regionalverkehr erfolgte, wird eines der großen Rätsel unserer Zeit bleiben.

Die Kulisse Belzigs, einem Städtchen im Fläming, wird beherrscht durch die bereits vom Zug aus sichtbare Burg Eisenhardt. Die Stadt an sich ist durch die Burg schon ein beachtenswertes Reiseziel. Aber wir wollen ja Eisenbahn fahren, so weit es geht. Also über die Fußgängerbrücke aufden gegenüberliegenden Bahnsteig aus Privatbahnzeiten. Ebenfalls auf der Brücke in Richtung Zug bewegt sich eine Schulklasse, wohl aus der Gegend. Weiter ist da niemand, der den Zug ansteuert. Der Platz reicht also für alle. Zwecks der Abfahrt 7.11 Uhr wartet ein exotisches Gespann: eine der schon zur Rarität gewordenen DDR-Großdieselloks, jetzt als Baureihe 228 der Inbegriff eines Auslaufmodells, früher als V180 Normalität. in den sechziger Jahren als V180 der ganze Stolz ihrer Erbauer und Bediener. Dieses Kraftpaket ist angemessen mit einem (einem!) Reichsbahn-D-Zug wagen behangen. Auch Auslaufmodell. Aber blitzsauber! Die Dampfheizung der 228 sorgt für erfreuliche Wärme. Anfang Mai ist es morgens doch noch ziemlich kühl.

Unser Bähnle setzt sich zur geplanten Zeit in Bewegung. Daß die Lok eigentlich für etwas größere Züge gedacht war, bemerkt man bei der Anfahrt. Die geht derart flott vonstatten, daß die Abteiltür mit Schwung auffliegt. Auflassen ist blöd, weil es im Gang doch recht laut ist. Also: aufstehen und Tür zumachen. Das wiederholt sich aus genanntem Grund an jedem Bahnhof oder auch Bahnübergang. Irrsinn des Nebenbahnbetriebes: jeder unbeschrankte Bahnübergang wird im Schrittempo passiert, um potentielle Selbstmörder, die trotz offensichtlicher Blindheit und mangelndem Orientierungsvermögen einen Führerschein erlangt haben, vor Schaden zu bewahren.

Aber genießen wir den Blick aus dem Fenster. Aus dem Bahnhof Belzig fährt der Zug einen langen Bogen aufwärts. um dann in einem Linksschwenk die Wetzlarer Bahn, auf der wir angereist sind, zu überqueren. Beim Blick rechts aus dem Fenster wird ein Kraftwagen mit Oranienburger Kennzeichen sichtbar, der, mit nur Beifahrerin insitzend, irgendwie in der Gegend steht. - Ich ahne was.

Beim Halt am Bahnhof Fredersdorf steht der Wagen wieder da. Die Ahnung wird Gewißheit. Neben der Karosse steht ein typischer „Fan" und fotografiert hastig, Auch in Dippmannsdorf-Ragösen steht er wieder zuverlässig da. Dazu gesellt hat sich ein roter Wagen aus Berlin. Der Herr mit den zusammengeschraubten zwei Kameras beeilt sich ebenfalls, den zu Ende gehenden Einsatz der 228 zu dokumentieren. Zum Fahrplanwechsel soll ja damit Schluß sein. Die Beisitzerin in dem Oranienburger Selbstfahrer schlägt inzwischen entnervt die Hände vor’s Gesicht. Der Zug setzt sich in Bewegung und auch die „Eisenbahnfreunde" starten auf der staubigen Piste, als gehe es um den Großen Preis von Monte was weiß ich wo.

Wir haben Brandenburg erreicht und der rote Wagen ist noch in der Wertung - soll heißen, der Kollege vollzieht mittels aller zur Verfügung stehenden Fototechnik kultische Handlungen am Bahnsteig der Städtebahn. Bis der nächste Zug in Richtung Rathenow abfährt, ist etwas Zeit, so daß man der Stadt, die einem ganzen Bundesland ihren Namen leiht, einige Blicke widmen kann. Die historisch wertvolle Bausubstanz in der Altstadt und auf der Dominsel hat leider sehr gelitten. Trotzdem kann sich der Besucher dem romantischen Hauch der alten Gassen schwer entziehen.

Die Zeit reicht, um die Geschichte der durch uns genutzten Bahn Revue passieren zu lassen. Die Vollendung der Städtebahn ist noch in den Tagen des Kaiserreichs anzusiedeln, die Vorgeschichte reicht natürlich weit zurück. Bis zu Plänen für eine weiträumige Umfahrung Berlins im Jahre 1880. Ernst wurde es, als am Ende des vorigen Jahrhunderts ein „Bahnbaukomitee" der interessierten Landkreise aktiv wurde und die erforderlichen Schritte zur Planung und Genehmigung einleitete. Das Engagement in dieser Hinsicht bedarf für die heutige Zeit vielleicht einer Erklärung: Landwirtschaft und Handwerk waren darauf angewiesen, ihre Produkte mit Pferdewagen oder vielfach zu Fuß in die Städte zu bringen, wo der Absatz der Produkte gesichert war. Die Anlage von Eisenbahnen war in jedem Fall ein die Wirtschaft belebender Faktor. Die Konkurrenz des Kraftwagens auf verbesserten Straßen hat erst in jüngerer Zeit Bedeutung bekommen. Zum Nachteil für die einst die Wirtschaft fördemden Bahnen. Was nicht unbedingt so bleiben muß. Nachdem 1898 ein Staatszuschuß gesichert war. konnte 1901 mit dem Bau begonnen werden. lm März 1904 wurde der Betrieb zwischen Treuenbrietzen und Neustadt/Dosse aufgenommen.

Die Bedeutung der Bahn stieg im Ersten Weltkrieg durch die Anlage von Sprengstoffwerken in Premnitz und Döberitz. In den dreißiger Jahren wurde über eine Elektrifizierung nachgedacht, ohne das konkrete Maßnahmen zu verzeichnen waren. In den sechziger Jahren wurde der Oberbau verstärkt, um die Städtebahn als Umleitung bei Baumaßnahmen oder auch für militärische Zwecke nutzen zu können. Ein hohes Güterverkehrsaufkommen war durch das Brandenburger Stahlwerk und die chemische Industrie in Premnitz zu verzeichnen. Die Gleise zwischen Treuenbrietzen und Belzig werden gegenwärtig nicht befahren.

Blick aus dem Abteilfenster (der Städtebahn) auf das Bahnhofsgelände Rathenow. Foto: I. Köhler

Kehren wir zurück in die Gegenwart. Der nun aus drei Wagen bestehende Zug, der in Brandenburg an dem abseits gelegenen Bahnsteig bereit gestellt wurde, ist schon etwas besser besucht als die "Spielzeigeisenbahn“ in Belzig. Vielleicht fünfzehn Leute entern die Wagen. Der Zug durchfährt zunächst die größtenteils brachliegenden Industrieflächen von Brandenburg. Nach diesem deprimierenden Ausblick auf niedergegangene Wirtschaft entschädigt der Blick über Wiesen und Auen in Richtung Havel. zu der die Bahnstrecke parallel verläuft.

In Premnitz steigen einige jüngere Leute zu, die ihrem Äußeren nach zu dem zählen, was man gemeinhin nichtssagend als „Szene" einstuft. Sie lassen sich im Nebenabteil nieder, um sich vernehmlich um mögliche Gelegenheiten zum Schlagabtausch mit anders orientierten Gruppierungen auszutauschen. Bei der Einfahrt des Zuges in Rathenow fällt die Präsenz einer größeren Zahl von Polizisten und Grenzschützem auf. Es scheint also irgendwas im Gange zu sein. Auf dem Bahnhof bleibt es jedenfalls ruhig. Rathenow selbst lohnt ob seiner mittelalterlichen Bauten zwar einen Abstecher. Da es aber schon nach etwa einer Stunde weitergehen soll, lohnt es sich hier, das Bahnhofsgebäude zu besichtigen.

Die Fahrt über die ausgedehnten Wiesen und Felder führt uns über Rhinow. Hier ist es angebracht, sich an die Ursprünge einer anderen Fortbewegungsart zu erinnern. Rhinow ist einer der Orte, an denen Otto Lilienthal seine Flugversuche unternahm. Die östlich oder rechts von der Bahn gelegene Hügelkette bot sich als Startpunkt für Gleitflüge an. Doch fand im August 1896 Lilienthal am Göllenberg bei Stölln auch sein tragisches Ende. Ein Gedenkstein erinnert daran. Stölln liegt etwas westlich vom Bahnhof und ist mit kurzem Fußweg zu erreichen.

Wir nähern uns dem Endpunkt der ehemaligen Städtebahn. Neustadt an der Dosse. Das klingt großartig. Wenig Stadt allerdings. Macht nichts. Erfreuen wir uns an der Landschaft. Oder etwas nördlich des Bahnhofs gelegen an dem partout nicht verwesen wollenden Ritter. Der heißt Kahlbutz und liegt noch immer begrabenen Leibes im Ortsteil Kampehl. Was wohl das Geheimnis dieses, gewiß makaberen, Erfolgs sein mag? Die Wissenschaft streitet sich noch. Forschen wir also selber. Eine Spur führt in die Bahnhofsgaststätte von Neustadt (an der Dosse, natürlich). So kennen und lieben wir Bahnhofsgaststätten. Blick nach links: die städtische Kampftrinkergilde hat sich versammelt und tut ihr Werk wider den Teufel Alkohol. Er wird gnadenlos vernichtet. Blick nach rechts: Zwei Spielautomaten. Davor zwei Hocker. Neben den Hockem liegt ein Mann mittleren Alters und schnarcht vemehmlich. Kellnerin: „Der ist vom Stuhl gerutscht. War wohl zuviel." Ist dies das Geheimnis von Kahlbutz? In Alkohol eingelegt vorm Spielautomaten zusammengesunken! Jedoch: Fragen über Fragen. Gab es zu Zeiten des Ritters schon Spielautomaten? Gab es schon die Bahnhofsgaststätte! Der Ritter nahm dieses Wissen mit in sein Grab und liegt nun rum.

Die Preise für das Essen rechtfertigen ein Verweilen in dieser Stätte der Gastlichkeit. Wenige Minuten nach Bestellung verrät der Glockenton aus der Küche: nicht Schmalhans, sondern Kollege Mikrowelle ist Küchenmeister. Schmeckt trotzdem. In den Schläfer vorm Spielautomaten ist Leben eingekehrt: „Haajdie!". Kellnerin (ge- langweilt): „Ja ?!“. Schläfer: „Mmmbrmpfssss ...". Trotz des tosenden Lebens in diesem kulinarischen Tempel drängt es mit Macht ins Freie.

Eine Regionalbahn bringt uns zurück in Richtung Berlin erst einmal nach Nauen. Der vor kurzer Zeit noch die Atmosphäre vergangener Zeiten ausstrahlende Bahnhof wurde inzwischen komplett umgebaut und bietet nun den austauschbaren Einheitslook aller Neu- und Ausbaustrecken der Deutschen Bahn. Mit dem nächstem Regionalzug geht es über satte Wiesen in Richtung Spandau und weiter bis zum Endpunkt Westkreuz.

Kurz zurück zum Anfang: viel hat das "Schöne Wochenende" dieser Art von Nebenbahnen nicht gebracht. Auf den Hauptstrecken ist mit Überfüllung zu rechnen, die Nebenstrecken leiden weiter unter ihren Mängeln: schlechte Umsteigebeziehungen. umständliche Betriebsführung, lange Wege in die Ortskerne. Daran ändern auch Dumpingpreise nichts. Die bewirken nur eines: es wird vergessen, das auch Reisen Teil des allgemeinen Konsums ist. der letzt endlich seinen Preis hat. Strukturelle Verbesserungen auch auf den Nebenbahnen sind nötig und möglich. Genug sinniert, widmen wir uns wieder der Wirklichkeit.

Der Gang von der Regionalbahn zum S-Bahnsteig wird begleitet von hochfrequenten Geräuschen. War heute nicht was? Ja, gewiß, auf der nahen AVUS werden Runden gedreht und Hunderte gucken zu. Die Großstadt hat uns wieder. Schönes Wochenende. Na ja. Jeder auf seine Weise.

Ivo Köhler

aus SIGNAL 9-10/1995 (Januar 1996), Seite 21-23