Regionalverkehr

Schienenfahrzeuge in Leipzig

Neues auf der Fachmesse Waggon 95


IGEB

1. Jan 1996

Wer dem Wohlstandsfetisch Automobil huldigen und sich über neueste Trends informieren will, dem steht eine reiche Auswahl von Ausstellungen, Messen und anderen Informationsmöglichkeiten zur Verfügung, die im allgemeinen volksfestartige Ausmaße annehmen. im Bereich des öffentlichen Verkehrs und speziell seiner schienengebundenen Variante ist das Angebot schon etwas spärlicher und wäre kaum der Rede wert, wenn nicht die Verkehrsbetriebe selbst dankenswerter Weise hin und wieder ihre Türen öffnen würden.

GTW 2/6 von Stadler (Schweiz) in Zusammenarbeit mit DWA und ABB - Low-cost-Fahrzeug unter 2,5 Millionen DM ? Foto: I.Köhler

1993 und nun im September 1995 war in Leipzig eine Fachmesse „Waggon 93" bzw. „Waggon 95" zu besichtigen. Über die Eintrittspreise und die Art der Bekanntmachung wird im wesentlichen schon sichergestellt, daß sich kein normaler Bahnkunde hierher verirrt.

Den hartgesottenen „Fans", die sich aus unstillbarer Neugier trotzdem in das Reich der Krawatten und Maßanzüge wagen, wird - nicht ohne Erfolg - das Gefühl vermittelt, hier irgendwie fehl am Platze zu sein.

Dabei sind es die dort vorgestellten innovativen Konzepte für neue Fahrzeuge und Verkehrskonzepte durchaus wert, einem breiteren Publikumskreis nahegebracht und diskutiert zu werden. Wenn den Herstellern und Betreibern öffentlicher Verkehrsmittel tatsächlich daran gelegen ist, ihre Marktchancen und ihre Akzeptanz zu verbessern, sollten sie sich zu mehr Öffentlichkeit bekennen und gerade neue Konzepte offensiver unters Volk bringen. Leider ist an manchen Stellen eine gegenläufige Entwicklung zu beobachten und öffentliche Auftritte werden zuweilen dazu benutzt, um dem interessierten Verkehrs-Kunden klarzumachen, daß er eh keine Ahnung hat und wie schwer wir es doch alle haben, nicht wahr? „Sein’se froh, daß überhaupt was fährt! Und was wolln’se denn nun eigentlich'!" Kaum ein Autohersteller würde angesichts des harten Wettbewerbs auf solche Ideen kommen.

Regiosprinter von DUEWAG - negativ: fährt nicht in Berlin und Brandenburg... Foto: I. Köhler
Regiosprinter von DUEWAG - positive: preiswert durch Tram- und Omnibus-Komponenten. Foto: I. Köhler

Aber zurück nach Leipzig: Neben der traditionell vorherrschenden und auch weiter nötigen Entwicklung von Hochtechnologie waren erstmals greifbare Ergebnisse von Bemühungen um Kostensenkung im Schienenfahrzeugbau sichtbar. Zwei Wege werden angeboten: Modernisierung älterer Technik und „Low-Cost" -Fahrzeuge. Es wurde erkannt, daß unter Verwendung bewährter Komponenten aus anderen Bereichen (Straßenverkehr, Straßenbahnkomponenten in Eisenbahnfahrzeugen) herzustellende „Low-Cost“-Fahrzeuge durchaus ihren Markt finden können und eine notwendige Voraussetzung sind, um dem Schienenverkehr im Zuge der Regionalisierung überhaupt noch eine Chance zu geben.

Als eine der beachtenswerten Neuentwicklungen wäre das „Low-Cost“ -Fahrzeug für den Regionalverkehr von ABB, DWA, Stadler und SLM zu nennen. Der GTW 2/6 setzt sich zusammen aus einem (begehbaren) Mittelwagen, der den Maschinenteil aufnimmt und aufgesattelten Endteilen mit geräumigen Fahrgasträumen, die über niedertfurige Einstiege zu erreichen sind. Die Wagenenden sind über den patentierten Laufdrehgestellen hochflurig, so daß sich ein Nf-Anteil von 70 Prozent ergibt. Der Maschinenwagen des hier vorgestellten Fahrzeuges war mit einem Dieselmotor von Daimler-Benz ausgestattet. Der Vorteil dieses Konzeptes ist, daß der Antrieb beliebig ausgewählt werden kann (Elektro, Diesel usw.), der Fahrgastteil aber immer der gleiche bleibt. Es wird auch an einer Variante für Elektro-/Dieselbetrieb gearbeitet. Die ansprechende Innenausstattung weist ebenfalls auf Bemühungen zur Kostensenkung hin. Leider für Vandalismus anfällig Elemente wie Armlehnen wurden aus entsprechend geformtem Holz hergestellt, was durchaus keine Komforteinbuße darstellt. Im Gegensatz zu anderen Neuentwicklungen auf diesem Gebiet weist der Wagen auch den im Eisenbahnbetrieb geforderten Pufferdruck an den Wagenenden auf. Bestellungen aus Österreich und der Schweiz liegen vor. An dem Ausschreibungen der Deutschen Bahn AG haben sich die deutschen Partner dieses Projektes beteiligt, ohne daß sich über konkrete Ergebnisse schon etwas sagen läßt.

Ebenfalls vertreten war der Regio-Sprinter der DUEW AG, der im Prinzip die Umkehrung des GTW 2/6 darstellt. Das niederflurige Zwischenwägelchen nimmt ein Laufgestell auf, während in den Endteilen die Maschinenanlage untergebracht ist. Die beiden Einstiege sind auch hier niederflurig, der Nf-Anteil beträgt ebenfalls 70 Prozent. Es ist genügend Raum vorhanden für Kinderwagen, Rollstühle, auch an Fahrradhalterungen wurde gedacht. Die ersten Einheiten sind mittlerweile bei der Dürener Kreisbahn im Einsatz.

Der Doppelstock·Schienenbus des ehemaligen DWA-Werkes Dessau durfte nicht fehlen. Bestellungen liegen vor für die Strecke Weimar - Kranichfeld und aus Rheinland-Pfalz. Was aus diesem interessanten Projekt wird, muß angesichts der unsicheren Zukunft des Dessauer Werkes allerdings abgewartet werden. Möglicherweise findet eine Fertigung in Ammendorf statt. Kritisiert wurde in der Vergangenheit der ziemlich leichte Aufbau des Wagens hinsichtlich der Aufprallsicherheit und damit des Schutzes der Insassen vor leider evtl. vorkommenden Unfällen. Man kommt aber nicht umhin. ein angemessenes Verhältnis zwischen der möglichen Sicherheit vor etwaigen Unglücksfällen und dem Aufwand zur Beschaffung eines solchen Fahrzeuges zu hinterfragen. Ausschlaggebend ist dabei vor allem der Konkurrenzdruck anderer Anbieter. Fragt bei einem Linienbus jemand nach Pufferdruck? Die potentielle Gefährdung ist annähemd gleich.

Doppelstock-Steuerwagen - positiv: Niederflureinsteige auch mit Rollstuhlrampe Foto: I. Köhler
Doppelstock-Steuerwagen - negative: Abteil-Glastüren ohne Kantenschutz Foto: I. Köhler

Die DWA Görlitz hat ihren Doppelstocksteuerwagen weiterentwickelt. Er wurde vorgestellt als erste Komponente eines demnächst zu erwartenden Doppelstocktriebzuges für den Vorortverkehr. Die jetzt zu bauenden Steuerwagen werden unter anderem auf der Höllentalbahn eingesetzt. Bemerkenswert ist, daß der 1993 im Signal geäußerte Hinweis auf die generelle Beibehaltung des Niederflureinstiegs der Reichsbahnvariante offenbar ernst genommen wurde und die Fahrzeuge jetzt generell in dieser Version projektiert werden. Dies war verbunden mit einer völligen Umgestaltung der Treppen und des Eingangsbereiches, so daß der Vorteil der Bundesbahn-Version, nämlich die bessere Ausnutzung des Oberdecks, trotzdem gegeben bleibt. An eine Rollstuhlrampe wurde gedacht, wobei der Hersteller über die sehr differenzierten und sich teilweise widersprechenden Forderungen regionaler lnteressenvertretungen der Behinderten klagt, so daß es kaum einem recht zu machen ist. Hier ist mehr Koordination dringend erforderlich. Bei aller persönlichen Tragik für die Betroffenen, die in Geld nicht aufzuwiegen ist: es geht um enorme Aufwendungen für diesen Teil der Bevölkerung, der selbstverständlich weitestgehend in den Alltag integriert werden soll. Wie bei allem, muß aber auch hier ein vemünftiges Maß gefunden werden, so daß zumindest abgestimmte Forderungen vorliegen sollten. Ein Detail des Görlitzer Doppeldeckers sollte vielleicht geprüft werden: die Abteiltüren im Wageninnem sind zum Zwecke des Öffnens mit einem Ausschnitt in der die Tür darstellenden Glasscheibe versehen. Die Möglichkeit, daß die Kanten der Glastür beschädigt werden, besteht immer. Der sich daraus ergebenden Verletzungsgefahr sollte mit einem geeigneten Kantenschutz begegnet werden.

Es ist beileibe keine DDR-Erfindung: Umbau von älteren Fahrzeugen. Weiterverwendung hochwertiger Baugruppen wie Rahmenteile und Fahrwerk, im Osten als „Rekonstruktion“ bekannt geworden. In den zwanziger Jahren gab es so etwas schon und auch westdeutsche Verkehrsbetriebe und Bundesbahn hatten ihre „Aufbau"- und „Umbau“- Wagen. Was heute als Ausdruck einer gewissen Notsituation verstanden wird, kann als durchaus sinnvoller Umgang mit Rohstoffen und vorgegenständlichter Arbeit angesehen werden und sollte auch in heutigen Tagen fortgesetzt werden. Die PFA Weiden versucht, den Eisenbahnen eine Entscheidung in diese Richtung leicht zu machen: mit dem „Puma“-Wagen. Einer der in den siebziger und achtziger Jahren vom RAW Halberstadt hergestellten 26,4-Meter-Nahverkehrswagen wurde zerlegt bis auf Drehgestelle und Bodenrahmen. Auf den gut erhaltenen Rahmen wurde ein neuer Aufbau aus vollständiggeschraubten Aluminium-Profilen aufgebaut. Die Inneneinrichtung wurde selbstverständlich neu gestaltet, der Einstieg erfolgt jetzt durch Schwenkschiebetüren. Wer diese klassischen Eisenbahntüren kennt, wird das als Wohltat empfinden. Ein Vorteil dieses Konzeptes besteht auch darin, daß Änderungen des Aufbaues hinsichtlich veränderter Kundenwünsche aufgrund des leicht zerlegbaren Aufbaues mit geringem Aufwand möglich sind. Vielleicht sollten die Designer aber einen Weg finden, die Gestaltung des Wagens so hinzubekommen, daß das optische Verhältnis zwischen dem Aufbau und den übergroß wirkenden Drehgestellen etwas günstiger ausfällt. Im Augenblick besteht hier eine Disproportion. Um es in Abwandlung eines alten Spruchs zu sagen: Das Auge fährt mit!

Im Straßenbahnsektor waren mit originalen Exponaten GEC Alstholm/LHB mit dem Darmstädter Niederflurbeiwagen und CKD mit dem schon länger in Erprobung befindlichen Niederflurwagen RT6-N vertreten. Der Darmstädter Beiwagen hat sich nach Anlaufschwierigkeiten im Betrieb bewährt. Dadurch, daß er an alle dortigen Fahrzeugtypen angehangen werden kann, konnte innerhalb kurzer Zeit zwar nur ein teilweises Niederflurangebot installiert werden, das aber im ganzen Netz! Die Akzeptanz in Darmstadt ist beachtlich. Es gibt mittlerweile berechtigte Hoffnungen, diese Fahrzeugbauart auf weiteren Gleisnetzen zu sehen. Leipzig, Düsseldorf und Rostock haben bereits Interesse angemeldet. Hier würde eine Zugbildung mit bereits vorhandenen bzw. im Bau befindlichen 70% Niederflurwagen vorgenommen werden. Man fährt wieder Straßenbahn!

Beim tschechischen Niederflurwagen handelt es sich um eine hoffnungsvolle Entwicklung, da hier vor allem hinsichtlich des Einkaufspreises eine Alternative zu anderen „Markenprodukten" bestehen könnte. Allerdings ist der Anblick in natura vor allem hinsichtlich des Innenraumes eine Enttäuschung. Daß ein Prototyp nicht die handwerkliche Vollendung eines am Fließband gefertigten Serienwagens aufweist, mag noch einleuchten. Ob man sich in Prag allerdings tatsächlich Chancen auf dem deutschen Markt ausrechnet, wenn abgewetzte Plastesitze zu sehen sind, die Türöffner lieblos in irgendeiner gerade passenden Ecke versteckt werden und der offenbar für Massentransport konzipierte Nf-Teil gerade einmal 20 Sitzplätze aufweist, bleibt wohl das Geheimnis des Prager Herstellers. Interessant sein könnte möglicherweise eine Option auf Herstellung des mechanischen Teils in Prag und Endausbau in Deutschland. So könnte man preiswerte Anschaffung mit hiesigen Komfortansprüchen verknüpfen.

PUMA - Umbaukonzept mit Alu-Aufbau und Verwendung von Altkomponenten. Foto: I. Köhler
NF-Beiwagen aus Darmstadt - noch nicht kostengünstig, weil Kleinserie! Foto: I. Köhler

Verbesserungsbedürftig hinsichtlich der Wagenkastenkonstruktion ist auf jeden Fall noch der Übergang zwischen dem Niederflurbereich und der „Aussichtsplattform“ über den Drehgestellen. Laut Prospekt ist der Wagen lieferbar in Breiten von 2,20 m, 2,30 m und 2,44 m. Mit 4 x 102,5 kW ist der Wagen ausreichend motorisiert, die Steuerung mittels GTO-Thyristoren und die Anfahrbeschleunigung von 1,2 m/s² entsprechen den üblichen Normen, Die Luftfederung ermöglicht laut Werksangaben die ständige Einhaltung einer gleichbleibenden Einstiegshöhe (350 mm) unabhängig von der Belastung des Wagens und von der Radreifenabnutzung. Man sollte diesen Wagen auf jeden Fall weiter im Auge behalten.

Als Modell waren die Vario-Bahn für die Oberrheinische Eisenbahn (Mannheim—Heidelberg) sowie deren Unterart für Dresden zu sehen.

Abgesehen von den eingangs erwähnten prinzipiellen Überlegungen zu Ausstellungen solcher Art bliebe als Resümee noch festzuhalten: Es kann nicht befriedigen, wenn dem in einem nie gekannten Umbruch befindlichen Schienen- und Nahverkehrsmarkt nur ewige Prototypen, Kleinserien und Nischenprodukte zur Verfügung stehen. Vor allem versuchen wenige regionale Hersteller einer Entwicklung hinterherzulaufen, die in einem anderen Sektor, nämlich der Autoherstellung, mit mehr Erfolg, mehr Popularität und mehr lnternationalisierung offenbar nicht aufzuhalten ist, aller ökologischen und irgendwann auch ökonomischen Folgen zum Trotz, Gerade beginnen die einschlägigen Konzerne in Asien einen riesigen Markt auszumachen, nachdem Europa in der Blechlawine und in Abgasen zu ersticken droht. Wo bleiben die preiswerten Angebote für robuste Großserien (Leichttriebwagen, Straßenbahnen, Obusse, Omnibusse), mit denen man die noch funktionierenden Nahverkehre nicht nur in Deutschland, sondern auch in den östlichen Staaten erhalten, ausbauen und modernisieren kann? Abgesehen von den Milliardenprojekten, mit denen einige „Systemanbieter" in wenigen Städten unter Einkassieren riesiger Summen von Fördergeldern in ansonsten armen Ländern hochgezüchtete Technik installieren, passiert da nicht viel. Wenn ein Konzentrationsprozeß stattfindet, wie jüngst für die Schienenfahrzeugbereiche von ABB und AEG angekündigt, dann mit der (eine Dreistigkeit darstellenden) Behauptung, einem „Preisverfall" entgegen wirken zu wollen. Zu Erinnerung: moderne Niederflurwagen, die in beachtenswerter Vielfalt für einige Straßenbahnen hergestellt werden und sich zuweilen durch eine bemerkenswerte Häufung technischer Pannen auszeichnen, kosten ab Werk zwischen 3 und 4 Mio. DM. Die jüngst ins Feld geführten „kaufmännischen Randbedingungen" usw. ändern nichts an der Tatsache, daß solche Fahrzeuge erst einmal beschafft und bezahlt werden müssen. Es geht offenbar weiter darum, die Kommunen und letztlich den Steuerzahler maximal auszunehmen, wozu natürlich in zunehmend nachlassendem Maße die Bereitschaft fehlen wird, Was damit langfristig aus den in den europäischen Wettbewerb entlassenen Verkehrsbetrieben wird, kann man sich leicht ausrechnen.

IGEB

aus SIGNAL 9-10/1995 (Januar 1996), Seite 23-25