Schienenverkehrswochen 1990
Unter diesem Motto holten die Reichsbahndirektion Berlin und der PRO BAHN-Landesverband Berlin die Heidekrautbahn für zwei Wochenenden aus dem Dornröschenschlaf. Die Züge verkehrten zwischen dem Märkischen Viertel (Bahnübergang Wilhelmsruher Damm) im Berliner Bezirk Reinickendorf und dem Bahnhof Wandlitzsee im Kreis Bernau, der unmittelbar am Wandlitzer See liegt. Damit fanden erstmals seit dem Mauerbau vor 29 Jahren wieder Personenzugfahrten auf dem südlichen Abschnitt der Heidekrautbahn statt. Die große Resonanz zeigte, daß ein Bedarf für diese Strecke besteht, der mit einigen Sonderfahrten beim besten Willen nicht befriedigt werden kann.
1. Nov 1990
Die Heidekrautbahn ist eine Kleinbahn mit
einer wechselvollen Geschichte: Im Mai
1901 wurde sie zwischen Reinickendorf-Rosenthal
(heute S-Bahnhof Berlin-Wilhelmsruh) und Groß
Schönebeck (Schorfheide) in
Betrieb genommen. Außerdem gibt es einen
Weitgehend in Vergessenheit geraten wurde die Heidekrautbahn oftmals nur vollständigkeithalber genannt, wenn es um den Berliner Eisenbahnverkehr ging. Die verkehrliche Bedeutung nach dem Fall der Mauer wurde von den wenigsten erkannt. Doch an dem jetzt stillgelegten Stück befinden sich relativ große Ortschaften, die eine Wiederaufnahme des Verkehrs rechtfertigen würden. Überdies würde für eine Vielzahl von Reisenden, die jetzt über Berlin-Karow fahren, ein direkterer und schnellerer Verkehr geboten.
PRO BAHN sah es deshalb als seine Aufgabe an, die Strecke wieder ins Bewußtsein der Bevölkerung zu bringen, gleichzeitig aber auch die Bahn unmittelbar zu fördern. Daher wurden die Fahrten gemeinsam mit der DR im Rahmen der Aktion "Pro BAHN-hof” durchgeführt, bei der Vereine Patenschaften für historisch wertvolle Bahnbauten übemehmen können, um die Bahn zu entlasten und gleichzeitig die Bauten zu erhalten. Der Erlös der Heidekrautbahn-Fahrten geht in den denkmalgeschützten Bahnhof Wandlitzsee.
Vom Einsatz historischen Wagenmaterials wurde bewußt abgesehen, da dies der Strecke einen Museumsbahn-Touch verliehen und damit vor allem “Eisenbahnfreunde" statt der “normalen“ Bevölkerung angesprochen hätte. Die verwendeten DR-Schienenbusse boten neben betrieblichen Vorteilen auch eine wesentlich bessere “Rundumsicht“ im Vergleich zu Abteilwagen mit kleinen Fenstern.
Die ersten drei Fahrten-Paare fanden am 1. September statt. Als der Schienenbus am Wilhelmsruher Damm - in unmittelbarer Nähe des 40.000 Einwohner zählenden Märkischen Viertels - stand, zeigten sich die meisten der zufällig vorbeikommenden Bürger erstaunt über den Bahnbetrieb, wußten sie doch bisher größtenteils nichts mit dem Gleis im ehemaligen Grenzstreifen anzufangen. Zahlreiche Leute entschieden sich spontan mitzufahren. Am nächsten Tag, einem Sonntag, waren alle drei Fahrten schon im Vorverkauf ausverkauft, so daß viele enttäuscht waren, die hofften, noch am Zug eine Fahrkarte ergattern zu können. Bei einer Fahrt mit von der Partie war Verkehrssenator Horst Wagner, der sich den Streckenzustand von den Eisenbahnern erklären ließ und sich sehr interessiert zeigte. Für die Rückfahrt hatte die DR dann noch eine Überraschung parat: Den letzten Zug verstärkte sie um einen Schienenbus auf insgesamt vier Wagen, um die den Tag über in Wandlitzsee gebliebenen Fahrgäste auch zurückbefördern zu können. Da zahlreiche Fahrgäste an der Sonderfahrt mangels Platz nicht teilnehmen konnten, wurde noch am selben Tag von der DR eine Wiederholung in Aussicht gestellt.
Diese ab es dann am 6. und 7. Oktober. Die DR hatte, um nicht während des Tages den Zug verlängern zu müssen, gleich vier Wagen für den Zug bereitgestellt, obwohl nur drei Wagen im Vorverkauf gebucht werden konnten. Doch auch an diesem Wochenende war der Andrang ungewöhnlich stark, so daß am Sonntag bei allen Fahrten ab Märkisches Viertel alle Wagen vollbesetzt abfuhren. Wegen des schönen Wetters fuhren nur wenige Teilnehmer gleich zurück, so daß sich für die letzte Rückfahrt ein Überquellen des Zuges abzeichnete. Doch die DR zeigte sich sehr flexibel: Kurzerhand wurde ein Lokführer vorzeitig aus dem Urlaub geholt, der zwei weitere Wagen zum Zug fuhr, so daß bei der Rückfahrt eine sechsteilige (!) Schienenbus-Garnitur zur Verfügung stand. Die Wagen wurden vom Regelbetrieb einer anderen Strecke abgezweigt, auf der dann lokbespannte Züge fuhren. Insbesondere bei diesem Anlaß, aber auch an allen anderen Tagen zeigten die beteiligten Eisenbahner von der Generaldirektion bis zum Zug- und Lokführer ein ungewöhnlich starkes Engagement, wie es bei manch anderem Verkehrsbetrieb kaum vorstellbar ist. Selbst der aus seinem Urlaub geholte Lokführer erledigte den Dienst wie selbstverständlich.
DR und PRO BAHN stehen in engem Kontakt miteinander, um einen Regelbetrieb auf der Strecke zu ermöglichen. Die eigentlich für den Erhalt des Bahnhofs Wandlitzsee durchgeführten Fahrten haben diese Bahn so populär gemacht, daß die Wiederaufnahme des Regelverkehrs jetzt dringlicher denn je erscheint, zumal diese Bahn im Vergleich zur bestehenden Straßenverbindung konkurrenzlos schnell ist.PRO BAHN-Landesverband Berlin
aus SIGNAL 8/1990 (November 1990), Seite 8-9