Schienenverkehrswochen 1990
1. Nov 1990
Unter diesem Titel informierten und diskutierten Dipl.-Ing. H. Aschenbrenner von den (Ost-) Berliner Verkehrsbetrieben (BVB) und Dipl.-Ing. Jürgen Roß von den (West) Berliner Verkehrs-Betrieben am 4. September 1990 im Bahnhof Charlottenburg. Wie groß das Interesse an der zukünftigen Entwicklung des öffentlichen Nahverkehrs ist, machte der überaus starke Besucherandrang deutlich - kaum ein Stehplatz war noch zu finden, man fühlte sich so richtig als Fahrgast.
Zunächst gab Herr Aschenbrenner einige Grundlageninformationen über die BVB, die etwa 10.000 Mitarbeiter haben. Zum Fahrzeugbestand gehören ca. 1000 Straßenbahnen, 600 Busse und 500 U-Bahn-Wagen. Hauptverkehrsträger ist die Straßenbahn, was auch nach der Vereinigung so bleiben soll. In diesem Zusammenhang wurden auch die Pläne zur Ausdehnung des Straßenbahnnetzes in den Westteil der Stadt vorgestellt. Oberste Priorität habe dabei die Verlängerung der Linie 3 über die Bornholmer Straße zum U-Bf. Osloer Straße. In Zukunft beabsichtigt man, keine weiteren Fahrzeuge der Tatrawerke mehr zu beschaffen, sondern auf westliche Anbieter zurückzugreifen, da deren Fahrzeuge in jeder Hinsicht moderner, leiser und fahrgastfreundlicher seien. Das Schienennetz soll mit westlicher Technologie auf modernen Stand gebracht werden, wobei man besonders auf Städte wie Freiburg und Karlsruhe schaut. Bei der U-Bahn werden im Augenblick der Zusammenschluß der Linien A und 2 sowie die Verlängerung dieser Linie im Raum Pankow angestrebt, nach Möglichkeit bis zum Ossietzkyplatz in Niederschönhausen. Weitere U-Bahn-Linien nach Weißensee und Marzahn werden von den BVB befürwortet, wobei aus Kostengründen eventuell auch Stadtbahnlinien denkbar seien.
Herr Roß von der BVG bestätigte die nunmehr für Juni 1991 vorgesehene Einführung des neuen Buslinienkonzeples - mit geringen Änderungen im "Grenzbereich", Neu eingerichtet wird die Buslinie 100, die zwischen Zoo und Reichstag die BVG-Buslinie 69 ersetzen und über Clara-Zetkin-Straße und Unter den Linden zum Alexanderplatz/Mollstraße verkehren soll. Bei der U-Bahn sind z.Z. nur die Verlängerungen der U-Bahn-Linie 8 im Süden zum S-Bf. Hermannstraße und im Norden zum S-Bf. Wittenau (Nordbahn) gesichert. Weitere Neubauten werden momentan nicht verfolgt, da die Gelder beim Ausbau der S-Bahn dringender benötigt werden. Das Publikum kritisierte, daß trotz dieser richtigen Prioritätensetzung die Wiederinbetriebnahme der stillgelegten S-Bahn-Strecken viel zu lange dauert.
Verdeutlicht wurde die Notwendigkeit zur schnellen Wiederinbetriebnahme der S-Bahn, gerade auch der ins Berliner Umland führenden Verbindungen, dann von Herrn Roß anhand der ersten Ergebnisse einer beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) im Auftrag der BVG erarbeiteten Studie zur künftigen Bevölkerungs- und Verkehrsentwicklung im Großraum Berlin. Das DIW entwarf zwei Szenarien: Zersiedelung und Gestaltung. Die Ergebnisse des Szenarios Zersiedelung liegen inzwischen vor. Danach wird als Folge einer erheblichen Motorisienıng und Zersiedelung des Großraumes Berlin der motorisierte Individualverkehr bis zum Jahre 2010 im Vergleich zu 1988/89 um 74% zunehmen, während die Verkehrsleistung der umweltfreundlichen Fortbewegung zu Fuß und per Rad nur um 21% wächst und die der öffentlichen Verkehrsmittel sogar um 7% zurückgeht. Ursache dafür ist vor allem die Entwicklung auf dem Gebiet der bisherigen DDR, gerade auch in Ost-Berlin. Für den ÖV in West-Berlin wird demgegenüber selbst bei diesem negativen Szenario “Zersiedelung" immerhin noch ein Wachstum der Verkehrsleistung um 10% erwartet (s. Abb).
Im zweiten Teil der Veranstaltung fand dann eine rege Diskussion über das Gehörte und die Zukunftsaussichten des ÖPNV statt. Natürlich wurde dabei immer wieder der schnellere S~Bahn-Ausbau gefordert und auf die in diesem Punkte vorbildlichen Aktivitäten von Reichsbahn und Bundesbahn beim schnellen Wiederherstellen der Bahnverbindung zwischen Eichenberg und Arenshausen verwiesen, Übersehen wurde dabei gelegentlich, daß ein erheblicher Teil der Verantwortung für den schleppenden S-Bahn-Ausbau in West-Berlin nicht bei der BVG, sondern beim Senat bzw. den Senatsverwaltungen lag und - bis zur Abgabe der S-Bahn an die vereinigte Deutsche Eisenbahn - auch noch liegt.
IGEB
aus SIGNAL 8/1990 (November 1990), Seite 9-10