Nahverkehr
Verlängerte Fahrzeiten machen BVG-Busangebot unattraktiver
IGEB
1. Feb 1991
Mit der Einrichtung der Buslinie 100 im
November des letzten Jahres führte die
BVG bei den Fahrzeiten eine Neuerung
ein: Bei allen Fahrten, die zwischen 15 und
18 Uhr beginnen, wird beim 100er nach einem
besonderen Fahrzeitprofil für die
Hauptverkehrszeit (HVZ) gefahren.
Grundsätzlich begrüßt die IGEB die Einführung
einer solchen besonderen Fahrzeit, wenn
dadurch die Pünktlichkeit der Busse verbessert wird.
Außerdem erhöht sich die Merkbarkeit des Fahrplans dadurch,
daß der
Schnitt zwischen den verschiedenen Fahrzeitprofilen
jetzt ab einer bestimmten Fahrt
und nicht mehr ab einem bestimmten Zeitpunkt vorgenommen wird.
Der gewünschte Effekt - mehr Pünktlichkeit
durch Reserven im Fahrplan - kann jedoch,
wie die Erfahrungen beim 100er zeigen, in
das Gegenteil umschlagen, wenn die Behinderungen,
die Anlaß für die Fahrplanstreckung waren,
nur zu bestimmten Zeiten auftreten, Gravierende Verfrühungen oder
Bummelfahnen zu bestimmten Tageszeiten
sind dann die Folge. Angesichts der Tatsache,
daß schon bisher rund die Hälfte aller
bei der IGEB eingehenden Kummerkarten
Verfrühungen von BVG-Bussen betreffen,
muß es beunruhigen, wenn nun zum 4. Februar
bei - laut Pressemeldungen - rund 30
Linien die Fahrzeiten zu bestimmten Zeiten
fahrplanmäßig verlängert werden sollen.
Abgesehen davon, daß jede Fahrzeitverlängerung
attraktivitätsmindernd wirkt, werden
vor allem die zu erwartenden Verfrühungen
die Attraktivität des BVG-Busnetzes erheblich
reduzieren, weil erstens die Berechenbarkeit
des Verkehrsmittels, eine für den
Fahrgast sehr wichtige Eigenschaft, verloren
geht und weil zweitens von den Kunden des
öffentlichen Nahverkehrs eine Minute Verfrühung
etwa viermal so negativ empfunden
wird wie eine Minute Verspätung. Dies
zeigten empirische Untersuchungen von
Verkehrswissenschaftlern und -psychologen,
u.a. der TU Berlin.
Deshalb fordert die IGEB, daß bei der
Neufestlegung von Fahrzeiten die planmäßig
vorgesehene etwa so lang bemessen sein
muß, wie sie von den schnellsten 75% aller
Fahrten einer Buslinie in einem bestimmten
Zeitabschnitt des Tages eingehalten wird,
Dies hat zwar zur Folge, da die anderen
75% der Fahnen zumindest geringfügig verspätet
sind, schließt aber die anders offensichtlich
nicht zu verhindernden und für
Fahrgäste besonders unangenehmen Verfrühungen weitgehend aus.
Selbstverständlich muß bei diesem Verfahren
darauf geachtet werden, daß durch ausreichende
Pufferzeiten an Umsteigepunkten
die Anschlüsse klappen (z.B. planmäßige
Wartezeiten von zwei Minuten, wie sie z.Z.
an den Umsteigeschwerpunkten im Spätverkehr
realisiert sind) und daß durch ausreichende
Wendezeiten an den Endhaltestellen die
gesetzlichen Pausen für die Fahrer
im praktischen Betriebsablauf gewährleistet
bleiben.
Zur Verdeutlichung der oben angeführten
Anforderungen an fahrgastgerechte Fahrzeitenplanung
sind nachfolgend einige Einzelheiten bzw. Beispiele aufgeführt.
- Das Verkehrsgeschehen im Individualverkehr
in der Stadt verzeichnet von 16 bis 17
Uhr die Stunde mit der stärksten Verkehrsbelastung.
Freitags setzt die Rush-Hour etwas früher ein.
Dies bedeutet, daß der jetzt
für die Linie 100 gewählte Gültigkeitszeitraum
der HVZ-Fahrzeit mit allen zwischen
15 und 18 Uhr beginnenden Fahnen zu lang
bemessen ist. So würde nach diesem Muster
eine um 17.58 Uhr beginnende Fahrt auf
der Linie 10 nach der HVZ-Fahrzeit verkehren,
obwohl sie erst nach 19 Uhr beendet wird und der
dichte Straßenverkehr
längst vorbei ist. Die Folge wird sein, daß
vor allem Busse, die im Bereich von 17.30
Uhr bis 18.30 Uhr verkehren, extrem zu
früh fahren werden, weil der Fahrer keine
Chance mehr bekommt, die überflüssig
Fahrzeitminuten abzubummeln. Unsere
Forderung lautet daher, daß in die HVZ-Fahrzeit
nur Fahrten einzubeziehen sind,
die nach 15.30 Uhr enden und die vor 17.00
Uhr beginnen. Auch sollte man jede einzelne
Linie genau überprüfen, ob auf dieser
für die HVZ überhaupt ein eigenes Fahrzeitprofil
nötig ist. So wird für viele Linien
in den Außenbezirken sicher keine HVZ-Fahrzeit
erforderlich sein. Dies erleichtert
auf diesen Linien den Fahrgästen gleichzeitig die
Merkbarkeit des Fahrplans.
- Die Fahrzeiten der Linien, die von Berlin
aus in das Umland verkehren, müssen endlich in
Abhängigkeit von der Tageszeit gestaltet werden.
Bisher ist dies nur bei den
Linien 98 und 99 in Ansätzen verwirklicht.
Wohin die Nicht-Anpassung führt, soll folgendes Beispiel
verdeutlichen: Die Linie 92
hat zwischen S-Bf. Falkensee und der Haltestelle
Stadtrandstraße zu jeder Tages- und
Nachtzeit eine Fahrzeit von 14 Minuten.
Selbst wenn diese 14 Minuten jemals erforderlich
sein sollten, an einem Freitag im
Januar 1991 um 18.46 Uhr ab Falkensee
waren sie es jedenfalls nicht: Der Fahrer fuhr
in Falkensee fünf Minuten zu spät ab und
erreichte die Haltestelle Stadtrandstraße
trotz einer gefahrenen Höchstgeschwindigkeit
von 35 km/h zwei Minuten zu früh, d.h.
für diese Fahrt waren mindestens sieben
Minuten zu viel Fahrzeit vorgesehen (und
sind es immer noch).
Diese viel zu großzügig bemessenen Fahrzeiten betreffen
zu bestimmten Zeiten fast
alle BVG-Linien, die das eigentliche Verkehrsgebiet
der BVG verlassen.
- Fast täglich und zu täglich wechselnden
Uhrzeiten sowie mit täglich wechselnder
Dauer sind Staus um den Ernst-Reuter-Platz
und auf dem Stadtautobahnring zu
verzeichnen. Diese beiden Verstopfungen
führen zu einer erheblichen Störung der Linien
54, 65 und 90 zu täglich unterschiedlichen
Zeiten mit täglich verschiedenen Verspätungen.
Die Folge ist eine sehr große
Streuung der tatsächlichen Fahrzeiten auf
diesen Linien, So kann es bei "geschlossener Gesellschaft"
auf dem Ernst-Reuter-Platz vorkommen, daß der eine Bus für den
Kreis 15 Minuten Fahrzeit, der nächste aber
nur drei benötigt, weil die Konstellation der
übrigen Fahrzeuge für ihn günstiger oder
aber der Fahrer des zweiten Busses cleverer
war. Ähnlich verhält es sich auf dem Stadtring.
Derartig große Unterschiede von Wagen zu Wagen bei den
realisierten Fahrzeiten lassen sich nicht mehr durch
Fahrzeitplanung ausgleichen. Hier helfen nur Ausgleichswagen
an den Endstellen, um die
auftretenden Verspätungen nicht auf die
Gegenrichtung zu übertragen und die Gewährung der
gesetzlichen Ruhezeit für das
Fahrpersonal sicherzustellen. Jeder Versuch,
die extremen Verspätungen in die
planmäßige Fahrzeit einfließen zu lassen,
muß scheitern, weil er zu Verfrühungen der
zufällig gut durchkommenden Wagen führt
und somit das Ziel eines zuverlässiger einzuhaltenden
Fahrplans verfehlt und eventuell ins Gegenteil verkehrt.
- Gesicherten Aufschluß darüber, an welchen
Stellen zu welchen Zeiten auf welchen
Linienabschnitten die Fahrzeiten zu lang
oder zu kurz bemessen sind, kann nur ein
Rechnergestütztes Betriebsleitsystem geben,
weshalb die IGEB nachdrücklich die forcierte
Realisierung eines RBL mit fahrgastwirksamer
Einführung zu einem möglichst
frühen Zeitpunkt fordert.
IGEB
aus SIGNAL 1/1991 (Februar 1991), Seite 8-9