Aktuell
Der öffentliche Personennahverkehr in den neuen Bundesländern ist in Gefahr. Auch im Land Brandenburg bedroht die Finanznot des Lades, der Kreise und der Gemeinden alle ÖPNV-Angebote, so auch die Straßenbahn zwischen Berlin-Friedrichshagen über Schöneiche nach Rüdersdorf im Kreis Fürstenwalde. Absurderweise gerät hier genau solch ein zeitgemäßer Stadt-Umland-Verkehr in Bedrängnis, den man in den alten Bundesländern gerade mit großem Aufwand und großem Erfolg aufbaut, z.B. in Kassel und vor allem in Karlsruhe. Zugegeben, die Schöneicher Straßenbahn läßt noch einiges von dem vermissen, was westdeutsche Straßenbahnbetriebe den Fahrgästen bieten, aber die Voraussetzungen für eine attraktive Vorortbahn sind gegeben. Deshalb darf auf keinen Fall der Betrieb eingestellt werden und muß sofort mit der Modernisierung begonnen werden, sonst ist diese Strecke verloren, womit auch der fahrgast- und umweltfreundliche Schienenverkehr im Berliner Raum wieder eine Runde verloren hätte.
1. Mär 1991
Wer einmal die ganze Strecke der Schöneicher Straßenbahn vom S-Bahnhof Friedrichshagen in Berlin bis nach Rüdersdorf im Kreis Fürstenwalde abfährt, bekommt die bestehenden technischen Probleme hautnah zu spüren. Zwar ist weniger als ein Drittel der rund 15 km langen Strecke erneuerungsbedürftig, doch fällt der Eindruck vom Streckenzustand je nach gewählter Fahrtrichtung verschieden aus. So sind speziell in zweigleisigen Streckenabschnitten nur die Gleise in Richtung Rüdersdorf in schlechtem Zustand. Hingegen hat der Ausbau des zweiten Gleises über die letzten Jahre hinweg für die Gegenrichtung akzeptable Bedingungen geschaffen.
Mehr noch als vom Streckenzustand hängt das Fahrfefühl von der Fahrzeugart ab, mit der ein Fahrgast die Strecke befährt. Zwischen dem S-Bf. Friedrichshagen und Alt-Rüdersdorf sind fünf Straßenbahnen im Umlauf, wofür der Betrieb insgesamt zehn im Linienbetrieb einsetzbare Fahrzeuge vorhält. Sechs davon sind allerdings sogenannte Reko-Züge, welche dem Betrieb einst vom RAW Schöneweide geliefert wurden, deklariert als Umbauten. De facto sind es aber Neubauten, zum Teil aus Alt-Material. Der Einsatz dieser völlig unzureichend gefederten Fahrzeuge hat arge Folgen: Genau wie der sprichwörtliche Tropfen den Stein höhlt, so fräsen die Radsätze der Reko-Wagen stetig den Schienenkopf, auch bei den neu verlegten Gleisen. Deshalb ist bleibt es unverständlich, weshalb (nach Angaben in: Der Stadtverkehr 2/91) andere Fahrzeuge erst 1993 zur Verfügung stehen sollen. So lange darf es nicht dauern, bis zumindest jene sechs "Gleishobel" ersetzt werden. Übrigens, wer es als Fahrlgast sanfter mag, ist gut beraten, den in aller Regel vorhandenen Beiwagen zu benutzen, in dem wegen des geringeren Eigengewichtes auch weniger Kräfte zwischen Gleis, Rädern und Fahrzeug wirken.
Zwischen Schöneiche und Rüdersdorf ist die Fahrt zu jeder Jahreszeit ein Naturerlebnis. Wenn die Bahn (wie auf den meisten Abschnitten) parallel zur Straße auf eigener Trasse durch die weite Landschaft der Schönebecker Heide fährt, kommt echtes Fahrvergnügen auf - auch ohne modernen Stadtbahn-Standard. Dann aber, etwa zwei Kilometer vor Rüdersdorf, glaubt der gelegen manche Fahrgast seinen Augen nicht zu trauen, wenn die Bahn hier problemlos an einem kilometerlangen Autostau vorbeifahrt. Ursache für den Stau ist die zeitweise Sperrung der Autobahn-Außenringbrücke bei Rüdersdorf, weswegen sich noch lange ein geballter Fahrzeugverkehr durch Teile von Neu-Rüdersdorf quälen wird. Dies bedeutet für die Bahnfahrgäste gegenwärtig Zeitvorteile gegenüber dem Straßenverkehr!
Nahe der Haltestelle Rüdersdorf Busbahnhof befindet sich neben dem Depotgebaude dieser Straßenbahn ein Unterwerk, das zur Zeit noch dafür sorgt, daß die Fahrspannung im östlichen Streckenabschnitt ausreichend bleibt. Aber die Tage dieser Einrichtung zur Fahrstromversorgung sind gezählt, denn es besteht die Absicht, die gesamte Stromversorgung der Schöneicher Straßenbahn umzustellen. Zur Zeit noch leisten zwei Unterwerke, das in Rüdersdorf und eines im Betriebswerk Schöneiche, die Elektrizitätwersorgung. Es existiert aber bereits ein neues Unterwerk, ebenfalls auf dem Betriebsgelände in Schöneiche. Doch dieses konnte den Betrieb bislang noch nicht übernehmen, weil es der Schöneicher Straßenbahn von den Gebietskörperschaften noch nicht ermöglicht wurde, die notwendigen Kabelverlegungen mit den damit verbundenen Erdarbeiten zu den geplanten Einspeigspunkten in die Wege zu leiten. Inzwischen fehlt weniger die Bereitschaft als das Geld dafür, so daß als kleine Lösung von seiten des Betriebes geplant ist, nunmehr drei Einspeisungspunkte im zentralen Streckenabschnitt nahe Schöneiche mit den entsprechenden Zuleitungen dorthin zu installieren. Am Streckenende in Rüdersdorf soll dann ein fahrbares Unterwerk die Stabilisierung der Fahrspannung übernehmen, das beim Betrieb bereits vorhanden ist.
Trotz der großen Schwierigkeiten in der Vergangenheit wie in der Gegenwart ist der Betrieb bemüht, den Fahrgästen ein Höchstmaß an Attraktivität zu bieten:
Die Voraussetzungen für ein Überleben der Schöneicher Straßenbahn sind also eigentlich günstig. Der Karlsruher Schwellenwert von täglich 5.000 Fahrgästen für die Existenzberechtigung einer solchen Strecke wird auf der Schöneicher Straßenbahn zukünftig stets erreicht werden, vorausgesetzt, daß sie jetzt erhalten, kurzfristig instandgesetz und möglichst bald modernisiert wird. Einmal konnte die drohende Betriebseinstellung schon abgewendet werden, und die Tarifanhebung seit 1. Februar auf -,50 bis 1,- DM bringt zusätzliches Geld in die Kassen. Doch die Situation ist unverändert kritisch, und wenn es zu keiner grundsätzlichen Änderung der Haltung von Bund und Land kommt, ist das Ende der Schöneicher Straßenbahn vorprogammiert.
So wie dem Straßenbahnbetrieb Schöneiche geht es zur Zeit fast allen Nahverkehrsbetrieben in den neuen Bundesländern Einerseits sind erhebliche Steigerungen der Personalkosten und damit der Kosten des Betriebes insgesamt unabwendbar, andererseits lassen Einigungsvertrag und soziale Aspekte nur eine begrenzte Fahrpreiserhöhung zu. Der Zuschußbedarf für die umweltfreundlichen Verkehrsmittel steigt, und weder Gemeinden, Kreise noch Länder sind in der Lage, diese Mittel aufzubringen, So drohte Anfang Februar nicht nur der Woltersdorfer und der Schöneicher Straßenbahn, sondern dem gesamten öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) in mehreren Städten des Berliner Umlandes die vollständige Einstellung, da sich die Treuhandanstalt, der ein Großteil der öffentlichen Verkehrsbetriebe zur Privatisierung (!?) unterstellt wurde, und das Land Brandenburg weigerten, Zuschüsse an die Nahverkehrsuntemehmen zu zahlen. Diese aber konnten nicht einmal mehr die Gehälter ihrer Mitarbeiter bezahlen und drohten mit der Betriebseinstellung. Inzwischen hat die Treuhandanstalt zwar für das 1. Quartal “Liquiditätshilfen" zur Verfügung gestellt, die das praktisch zahlungsunfähige Land Brandenburg allerdings bis zum 1.5April 1991 zurükzahlen muß. Wie es weitergehen soll, weiß niemand.
Gleich doppelt verantwortlich für diese prekäre Situation ist der heutige Bundesverkehrminster Krause, der bei der Aushandlung des Einigungsvertrages auf DDR-Seite maßgeblich beteiligt war und jetzt den bevorstehenden Zusammenbruch des öffentlichen Verkehrs ignoriert. Er steckt seine ganze Energie in Pläne, durch Autobahntrassierungen per Gesetz die Asphaltierung der neuen Länder möglichst schnell und reibungslos zu ermöglichen. Dafür sind ihm alle Mittel recht, auch die Ausschaltung von tragenden Säulen unseres Rechtssystems, z.B. der Bürgerbeteiligung, der Umweltverträglichkeitsprüfung und der verwaltungsgerichtlichen Überprüfbarkeit von Entscheidungen. Es scheint, als kämen die ehemaligen DDR-Bürger von einem Unrechtsstaat in den nächsten.
Daß der ÖPNV, genau wie andere Bereiche der Infrastruktur, z.B. Schulen oder Krankenhäuser, einen unverzichtbaren Bestandteil der öffentlichen Daseinvorsorge bildet, den man nicht von heute auf morgen einstellen oder “abwickeln" darf, müssen der Herr Bundesverkehrsminister und seine Bonner Kabinettskollegen (allen voran der für die Treuhand zuständige Finanzminister) wohl erst noch lernen. Gefordert sind Lösungen aus Bonn, die ein öffentliches Verkersangebot sowohl in den Städten wie im ländlichen Raum der neuen Länder dauerhaft sicherstellen.
Während die Finanzierung und damit die Aufrechterhaltung des Betriebes bei vielen Verkehrsgesellschaften weiterhin ungewiß ist, können Investitionen in den ÖPNV gemäß Einigungsvertrag bezuschußt werden. So ist es bis 1995 in den fünf neuen Ländern und in Berlin möglich, Mittel aus dem GVFG (Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz) erstmals auch zur Grunderneuerung von ÖPNV-Anlagen einzusetzen, auch von Straßenbahnstrecken, die nicht auf eigenem Bahnkörper verlaufen. Außerdem gilt dabei - wie auch für Neubaumaßnahmen - ein auf 75% erhöhter Förderungssatz. Hiervon aber ist das Land Berlin aus unerfindlichen Gründen ausgenommen, an der Spree muß man sich sowohl bei Grunderneuerungs- wie bei Neubaumaßnahmen weiterhin mit der üblichen 60%-Förderung begnügen. Was jedoch noch schlimmer ist: Die gemäß Einigungsvertrag dafür bereitgestellten Mittel reichen vorne und hinten nicht und stehen in keinem Verhältnis zu dem dringenden Erneuerungsbedarf. Und außerdem: Unter bestimmten Bedingungen ist zwar die Neuanschaffung von Bussen mit bis zu 37,5% der Kosten förderungsfähig - nicht jedoch die Anschaffung von Schienenfahrzeugen.
Der Bundesverkehrsminister ist gefordert, endlich die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß die umweltfreundlichen und stadtverträglichen Straßenbahnen im Osten Deutschlands (einschließlich Berlins) durch geeignete und ausreichende Förderung erhalten und modernisiert werden können. Die Einnahmen aus dem Mineralölsteueraufkommen wären eine mögliche Finanzierungsquelle, doch durch die sogenannte Plafondierung hat Bonn ja rechtzeitig festgelegt, daß nur ein Teil der eigentlich dem ÖPNV daraus zustehenden Investitionsgelder auch ausgezahlt wird. Was über die definierte Obergrenze von in diesem Jahr 3,28 Mrd. DM hinausgeht, steht nicht für ÖPNV-Investitionen zur Verfügung, sondern kann z.B. zur Finanzierung von Autobahnen, Transrapids oder Kriegslasten ausgegeben werden. Wenn Herr Krause wüßte, mit wie geringen Mitteln z.B. bei der Schöneicher Straßenbahn ein attraktiver und zukunftsträchtiger Betrieb einzurichten wäre, mit dem auch - wie das Karlsruher Beispiel zeigt - deutliche Wanderungen vom Auto zum ÖPNV zu erreichen sind, was so manchen teuren Straßenausbau erspart, vielleicht würde er sich dann mehr für den ÖPNV in seiner alten Heimat engagieren. Aber Bonn ist weit weg ...
IGEB
aus SIGNAL 2/1991 (März 1991), Seite 4-6