Planung

Stadtbahn-Spange statt Zentralbahnhof


Konrad Koschinski
Manfred Verhoolen

1. Aug 1991

Der Streit um die Gestalt des künftigen Eisenbahnfernverkehrs von und nach Berlin scheint zumindest für Stadtentwicklungssenator Hassemer beigelegt. Er äußerte Anfang Juli, daß das “Problempaket" der Schienenwege auf der Grundlage der geführten Diskussion - vor allem auf dem von ihm angeregten Stadtforum - gelöst sei. Unterdessen betonte Verkehrssenator Haase die Notwendigkeit einer neuen Nord-Süd-Verbindung, die am Lehrter Bahnhof mit der vorhandenen Ost-West-Strecke (Stadtbahn) verknüpft werden solle.

Also nach monatelangem Hin und Her nun endlich ein klares Konzept? Bei genauerem Hinhören kommen Zweifel auf. Zwar soll Berlin laut Volker Hassemer nun keinen “Zentralbahnhof" mehr erhalten, sondern lediglich eine zusätzliche Station in der Innenstadt, ergänzt um vorhandene und darüber hinaus neu zu schaffende Bahnhöfe für die Nord-Süd-Richtung. Andererseits erklärte er, daß die künftigen Hochgeschwindigkeitszüge “InterCityExpress“ (ICE) nur an einem einzigen Punkt in der Stadt halten sollen. Hat Hassemer dabei bedacht, daß die ICE-Züge nach den Vorstellungen der Bundesbahn im Jahr 2000 das Rückgrat des Verkehrs bilden mit einem Anteil von rund 50 Prozent am gesamten Schienenfernverkehr? Wenn die ICE-Halte auf einen einzigen Bahnhof konzentriert werden, wäre dieser aber faktisch dann doch ein Zentralbahnhof.

Drei bisher bekannte Vorschläge

Erinnern wir uns: in der öffentlichen Diskussion, vor allem dann während der Veranstaltungen des Stadtforums, haben sich drei Konzepte in den Vordergrund geschoben:

l. Das sogenannten Achsenkreuzmodell der DB-Tochtergesellschaft "Deutsche Eisenbahnconsult" (DE-Consult). Diese vom Senat in Auftrag gegebene Studie favorisiert eine Verknüpfung der vorhandenen Ost-West-Linie (Stadtbahn) mit einer neu zu bauenden Nord-Süd-Tunnelstrecke in zentraler Lage am Lehrter Bahnhof. Die dort projektierte Kreuzungsstation ist wegen ihrer herausragenden Bedeutung in den Medien als “Zentralbahnhof" tituliert worden.

2. Das “Ringmodell 720" der Bürgerinitiative Westtangente. Danach sollen entlang des inneren S-Bahn-Rings mehrere dezentrale Bahnhöfe für den Fernreiseverkehr entstehen. Dagegen wird ein Eisenbahntunnel durch den Tiergarten strikt abgelehnt. Das BIW-Konzept soll täglich bis zu 720 (!) Züge ermöglichen, die verschiedene Teilabschnitte des Rings in einer Weise befahren würden, daß zwischen den Hauptrelationen jeweils direkt umgestiegen werden könnte.

3. Die Variante “Y-Modell" des “Fördervereins Anhalter und Lehrter Bahnhof Berlin" (F.A.L.B.). Dabei soll der “Anhalter" wieder erstehen, und zwar als Durchgangsbahnhof, in dem die von Süden kommende Zulaufstrecke in zwei Äste geteilt werden soll: einen nach Nordwesten Richtung Lehrter Bf. - Spandau, und einen nach Osten zum jetzigen Hauptbahnhof. In der Innenstadt würden die Strecken unterirdisch verlaufen.

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Auf dem Stadtforum sammelten die Kritiker des Zentralbahnhof-Gedankens Pluspunkte. Sie warnten vor der “irreparablen Schädigung des inneren Stadtbereiches" (so der Planer Urs Kohlbrenner) durch den Bau eines Nord-Süd-Fernbahntunnels. Zum einen würde ein riesiger Fernbahnhof am Nordrand des Tiergartens die dortige Struktur nachhaltig verändern. Wohnungen und Grünflächen müßten Büro- und Geschäftsbauten, Hotels und Gaststätten weichen. Zum anderen wären Straßen wie auch das Netz von S- und U-Bahnen auf den neuen Verkehrsknoten auszurichten. Dabei läge dieser eigentlich gar nicht in einem der gewachsenen Zentren, sondern würde vielmehr erst ein neues entstehen lassen.

Mit der Bahn ins Herz der Stadt

Nun ist es unbestritten einer der wichtigsten Systemvorteile der Eisenbahn, direkt “ins Herz der Stadt" (DB-Slogan) zu gelangen. Berlin besitzt - einmal abgesehen von den zahlreichen Unterzentren - allerdings vier innerstädtische Schwerpunkte, nämlich am Zoo, an der Friedrichstraße, am Alexanderplatz und künftig auch wieder am Potsdamer Platz. Weder ein Zentralbahnhof noch das Ringmodell der BIW werden dem gerecht. In beiden Fällen wären die Hauptzentren nur durch Umsteigen in Nahverkehrsmittel erreichbar.

In einem Punkt sind sich die Fachleute offenbar einig: Die bestehende Fernhahnstrecke im Innenstadtbereich, also die von Charlottenburg zum Hauptbahnhof führende Stadtbahn, gilt für den Schienenverkehr von morgen als völlig unzureichend. Aber wird die 12 Kilometer lange, kultur- und technikgeschichtlich bedeutende Viaduktbahn damit nicht vorschnell als veraltet und wenig leistungsfähig abgetan? Ihr großes Plus ist es schließlich noch immer, daß sie mit den Bahnhöfen Zoologischer Garten, Friedrichstraße und Alexanderplatz in idealer Weise die Hauptzentren der Stadt erschließt und miteinander verbindet. Zugleich ist sie ein Bauwerk von hohem Identifikationswert. Von ihr aus wird Berlin in seiner Ausdehnung und Struktur vom Bahnreisenden noch am ehesten erlebbar. Wie immer die Züge morgen auch fahren, die vier genannten innerstädtischen Schwerpunkte werden für die Entwicklung Berlins in den kommenden Jahren eine herausragende Rolle spielen:

Drei der vier genannten Hauptzentren werden von vorhandenen Bahnhöfen der Stadtbahn unmittelbar erschlossen, und selbst der Potsdamer Platz kann zum weiteren Einzugsbereich des Bahnhofs Friedrichstraße gezählt werden, ist er doch von diesem mit der Nord-Süd-S-Bahn in drei Minuten erreichbar.

Zur Station am Alexanderplatz ist anzumerken, daß diese bereits über einen Fernbahnsteig verfügt, der gegenwärtig für den S-Bahn-Verkehr genutzt wird. Wenn - wie bis 1961 der Fall - alle S-Bahnen konsequent über die gesamte Stadtbahn gefürht werden, entfällt hier das Ein- und Aussetzen von Zügen, so daß dem Fernbahnsteig wieder seine ursprüngliche Funktion zukommen könnte. Wie am vergleichbaren Hamburger Dammtor-Bahnhof wäre hier sogar ein Systemhalt für InterCity-Züge einzurichten. Wenn Hamburg sich insgesamt vier IC-Bahnhöfe leistet, ist nicht einzusehen, weshalb im doppelt so goßen Berlin seltener gehalten werden soll.

Die Bahnhöfe Zoologischer Garten, Friedrichstraße und Alexanderplatz sind zum einen mit allen in Nord-Süd-Richtung verlaufenden U-Bahn-Linien verknüpft, zum anderen mit allen sich auf der Stadtbahn bündelnden Ost-West-S-Bahn-Linien verbunden. Die Zubringerfunktion zum Fernverkehr verteilt sich somit auf zahlreiche Linien und mehrere Umsteigepunkte.

Eine leistungsfähige Stadtbahn als Lösung

Im folgenden wird ein Konzept vorgestellt, mit dem es möglich ist, den gesamten hochwertigen Eisenbahn-Fernverkehr - EuroCity-, InterCity- und InterRegio-Züge - über die Stadtbahn zu führen.

Gliedert man die Stadtbahn in zwei unabhängig voneinander zu befahrende Abschnitte auf, läßt sich ihre Leistungsfähigkeit auf ca. 200 Zugpaare täglich erhöhen. Das heißt, selbst bei dem von Fachleuten geschätzten Bedarf von 160 täglichen Zugpaaren im Jahre 2010 bliebe ihr noch eine Kapazitätsreserve von rund 25 Prozent.

Teilen läßt sich die Stadtbahn, ohne viel vorhandene Bebauung zu zerstören, nur im Bereich des Lehrter Stadtbahnhofs, wo sie die Trasse zwischen dem ehemaligen Güterbahnhof Spreeufer und dem Hamburger und Lehrter Güterbahnhof überquert. Nur dort ist auch eine Verbindung zum nördlichen Innenring möglich.

Wie soll die neue Gleisführung aussehen?

a) Die Nordstrecke von Rostock und Stralsund wird in Gesundbrunnen an den Nordring herangeführt, folgt diesem auf einer Länge von etwa 2 Kilometern und gelangt von dort auf das Gelände des Hamburger und Lehrter Güterbahnhofs. Im weiteren Verlauf unterquert die Trasse am Lehrter S-Bahnhof die Stadtbahn und wird etwas weiter westlich in diese eingefädelt. Das geschieht mittels eines kreuzungsfreien Abzweigs an der Paulstraße. Über den Bahnhof Zoo geht es nach Charlottenburg, wo eine Verbindungskurve zum Südring herzustellen ist. Im Bereich Schöneberg schwenkt die Strecke dann auf die Trasse der ehemaligen Anhalter Bahn in Richtung Halle/Leipzig.

b) Die Linie aus Hamburg sowie die projektierte Schnellbahn aus Hannover - Stendal kommen über Staaken und Spandau ins Berliner Stadtgebiet. Von Spandau aus gibt es zwei Möglichkeiten, zum Zentrum zu gelangen: entweder auf dem bestehenden Schienenstrang nach Charlottenburg oder auf der Trasse der ehemaligen Lehrter Bahn über Siemensstadt-Fürstenbrunn.

Für das Konzept der zweigeteilten Stadtbahn ist die frühere Lehrter Bahn die wichtigere. Auf ihr erreicht man östlich des S-Bahnhofs Putlitzstraße (Nordring) den Hamburger und Lehrter Güterbahnhof. Anschließend muß die unter Punkt a) beschriebene Verbindungskurve Nordring - westliche Stadtbahn unterfahren werden. Über eine Rampe wird der Bahnhof Friedrichstraße erreicht, und auf vorhandenen Gleisen geht es über den Alexanderplatz weiter Richtung Hauptbahnhof (siehe Skizze 2 auf Seite 14).

Für die Verbindungskurven zwischen Hamburger und Lehrter Güterbahnhof und dem Nordring liegen bereits Machbarkeitsstudien vor, weil sie im Falle einer neuen Nord-Süd-Tunnelstrecke ebenfalls zu realisieren wären. Entwürfe gibt es außerdem für den unter a) genannten Abzweig an der Paulstraße. Die Art der Anbindung des Bahnhofs Friedrichstraße an den Nordring ist noch zu prüfen. Doch selbst wenn mit Rücksicht auf die Durchfahrtshöhe der Schiffe der Humboldthafen unterquert werden muß, ist der Platz für die nötige Rampe vorhanden. Der zu überwindende Höhenunterschied beträgt dann ca. 20 Meter auf etwa einem Kilometer Streckenlänge.

Die beiden Abschnitte "Stadtbahn Ost" und “Stadtbahn West" sind also über ein spangenförmig ausgebildetes System von Gleisverbindungen vom Nordring her erreichbar. Natürlich bliebe auch die direkte Trasse zwischen Friedrichstraße und Zoologscher Garten erhalten. In der “klassischen" Ost-West-Richtung könnte die Stadtbahn somit weiterhin in voller Länge befahren werden.

Für den Regionalverkehr eignen sich auf der Stadtbahn der Hauptbf. (von Osten) und Charlottenburg (von Westen) als Endpunkte. Die weitere Verteilung kann von hier aus die S-Bahn übernehmen. Zudem könnten die Ferngleise des Innenrings von Regional- und Regionalschnellbahnzügen genutzt werden.

An dieser Stelle ein Wort zum Reisendenpotential: Der von der bald vier Millionen Einwohner zahlenden Hauptstadt Berlin ausgehende Verkehr auf der Schiene kann als überwiegend “hausgemacht" angesehen werden, d. h. selbst bei durchlaufenden Zugverbindungen - etwa Rostock - Leipzig - Süddeutschland - findet hier ein weitgehender Fahrgastaustausch statt, zwischen Mecklenburgern mit Ziel Berlin und eben Berlinern mit Zielen im Süden. Im internationalen Verkehr wird es zwar einige Langstrecken-Züge geben, z. B. Moskau - Paris oder Kopenhagen - Prag, die aber am Gesamtaufkommen keinen goßen Anteil haben. Wie die DE-Consult und andere Experten darauf kommen, daß 50 Prozent der Reisenden in Berlin bloß durchfahren oder umsteigen, bleibt unerfindlich.

Abschließend eine Zusammenfassung der wesentlichen Vorteile des “Stadtbahn-Konzepts" gegenüber der Zentralbahnhofsvariante:

  1. Behutsamerer Umgang mit der Infrastruktur Berlins, da es im wesentlichen mit den schon vorhandenen Fernbahnhöfen auskommt.
  2. Optimale Nutzung des vorhandenen ÖPNV-Netzes, das nicht mit einem Milliarden-Aufwand auf den Zentralbahnhof “umgebogen" werden müßte.
  3. Direkte Bedienung der verschiedenen Hauptzentren ohne unnötige Umsteige zwänge oder längere Anfahrtswege auf der Straße.

Ein Nachteil soll hier durchaus genannt sein: Die gegenüber einer neuen Nord-Süd-Tunneltrasse in Richtung Leipzig und Dreden entstehenden Umwege betragen 9 bzw. 12 Kilometer ab Standon Lehrter Bahnhof. Dieses Manko relativiert sich aber, wenn man bedenkt, daß die bestehenden Zentren ohnehin woanders liegen. Zum Beispiel ergibt sich ab Zoo über den Südring und Schöneberg im Vergleich zum Tunnel durch den Tiergarten kein Umweg mehr.

Fraglos erfordern die Baumaßnahmen zur Realisierung des dargestellten Konzepts einen Zeitraum von vier bis fünf Jahren und erhebliche Investitionen. Verglichen mit den anderen bisher vorgeschlagenen Varianten ist der Aufwand dennoch wesentlich bescheidener. Im Hinblick auf ihre baldige Funktionsfähigkeit als Regierungssitz und die Bewerbung für "Olympia 2000" sollte die Stadt eine Lösung wählen, die zum Ende dieses Jahrzehnts auch fertigestellt sein kann.

Konrad Koschinski
Manfred Verhoolen

aus SIGNAL 6/1991 (August 1991), Seite 15-16