Aktuell

Fahrgast-Kummer 1991

Seit mehreren Jahren nimmt sich der Berliner Fahrgastverband IGEB neben der kritischen Begleitung der Verkehrsplanung in Berlin auch der alltäglichen Probleme der Fahrgäste an. Mit speziellen Hilfsmitteln, den sogenannten Kummerkarten, können die Bahnreisenden und ÖPNV-Benutzer sowohl ihre Sorgen los werden als auch Anregungen für Verbesserungen des Nah- und Fernverkehrs geben. Die Fahrgast-Abteilung der IGEB nutzt diese immer zahlreicher eingehenden Eingaben und Anregungen, um auf Mängel und Verbesserungsmöglichkeiten hinzuweisen. Im abgelaufenen Jahr 1991 gab es mit etwas über 1.300 Eingaben nicht nur einen neuen Rekord, sondern die beharrliche und ausdauernde Arbeit der IGEB zahlte sich erstmals in größerem Umfang aus: Nahezu bei allen Verkehrsträgern konnten für den Fahrgast erkennbare Verbesserungen durchgesetzt werden.


IGEB

1. Feb 1992

Bevor ein Rückblick auf Erfolge und Mißerfolge vorgenommen wird, sei kurz erläutert, wie die Fahrgastbeschwerden bearbeitet werden. Alle Beschwerden werden erfaßt und nach verschiedenen Kriterien klassifiziert. So ist es später möglich, sehr schnell Zugriff auf eine ständig wachsende Sammlung von Fahrgasteingaben zu erhalten. Anschließend wird entschieden, wie mit der Eingabe verfahren wird. In Abstimmung mit den Fachabteilungen der IGEB werden Stellungnahmen von Verkehrsbetrieben und Verwaltungen eingeholt und Lösungsvorschläge ausgearbeitet. Der Einsender erhält in der Regel nach einer gewissen Zeit einen Zwischenbescheid. Ortsbesichtigungen können in einigen Fällen erforderlich sein. Dazu werden Skizzen angefertigt, die als Grundlage für die weitere Arbeit dienen. An offene Antworten wird in regelmäßigen Abständen erinnert. Kommt trotz mehrmaligem Briefwechsel oder Gespräch keine für den Fahrgast akzeptable Lösung zustande, wird die Öffentlichkeit informiert. Gegebenenfalls werden die Aufsichtsbehörde oder weitere politische Stellen eingeschaltet. Eine Beschwerde wird erst dann endgültig abgelegt, wenn sie im Sinne des Fahrgastes erledigt wurde.

Verteilung der Eingaben

Etwa 90% der Eingaben entfielen 1991 auf den Nahverkehr in Berlin und seinem Umland. Dabei machten BVB und BVG mit etwa 55% den größten Teil aus. Innerhalb der Nahverkehrsmittel stand der Bus mit etwa 40% an der Spitze, gefolgt von der S-Bahn mit etwa 25%. Der Rest der Eingaben verteilte sich gleichmäßig auf Straßenbahn und U-Bahn.

Bus

Eine der wenig spektakulären und doch so wichtigen Verbesserungen: 1991 erreichte die IGEB u.a. die Einrichtung dieser Haltestelle für den Bus 257 am S-Bf. Alexanderplatz, womit der Fußweg für Umsteiger zur S-Bahn verkürzt wurde. Foto: N. Gronau

Im Juni und Oktober 1991 wurden endlich einige der Linienverknüpfungen im Busnetz durchgeführt, deren Fehlen die Fahrgäste seit Öffnung der Mauer beklagten. Doch noch immer gibt es erhebliche Lücken, z.B. zwischen Britz/Buckow/Rudow einerseits und Johannisthal/Schöneweide andererseits.

Ein gravierendes, von vielen Einsendern immer wieder angesprochenes Thema ist die Lage von Bushaltestellen. Hier konnte die IGEB zwei wichtige Verbesserungen erzielen, die aber auch zeigen, wie aufwendig es ist, selbst nahezu kostenlose Verbesserungen für den Busverkehr durchzusetzen: Die von der IGEB für den Bus 257 (früher BVB-Linie 9) geforderte Einrichtung einer Haltestelle Richtung John-Schehr-Straße möglichst unmittelbar am Alexanderplatz (Grunerstraße, hinter Dircksenstraße, unmittelbar am Fußgängerüberweg) wurde zunächst von der BVG abgelehnt, da die auf dieser Linie eingesetzten Gelenkbusse dann in einer (minimalen) Linkskurve stehen würden und der Fahrer die letzte Tür nicht einsehen könnte. Als Kompromiß kam dann eine Haltestelle unter der Bahnbrücke zustande, die zwar nicht optimal ist, aber den Fußweg z.B. zur S-Bahn deutlich verkürzt. Ganz anders am Platz der Luftbrücke: Dort lehnte das Bezirksamt Kreuzberg bei der Linie 104 Richtung Brixplatz eine Zurückverlegung der Haltestelle zur Kreuzung zunächst ab, da am gegenwärtigen Standort eine Betonfahrbahn sei, am für die Fahrgäste günstigeren Standort jedoch nicht. Erst als die Abteilung Verkehr Oberfläche (VO 21) der BVG nochmals deutlich darauf hinwies, daß mit dem von der IGEB vorgeschlagenen Standort auch eine größere Verkehrssicherheit für die Fahrgäste verbunden sei, willigte das Bezirksamt ein. Bemerkenswert ist, daß in beiden Fällen der Polizeipräsident als untere Verkehrsbehörde gegen die neue Haltestellenlage nichts einzuwenden hatte.

Zur Ausstattung der Fahrzeuge gab es verhältnismäßig wenig Beschwerden. Interessant ist, wie der von der IGEB erreichte Ausbau behindernder Bügel im Mitteleinstieg neuerer "behindertengerechter" Eindecker zustandekam. Mehrere an die BVG gerichtete Schreiben blieben nämlich unbeantwortet, was die IGEB veranlaßte, eine Presseerklärung vorzubereiten. Die entsprechenden Fotos, die zeigen, wie sich z.B. Fahrgäste mit Kinderwagen in die Busse quälen, wurden anläßlich eines Gesprächstermins einem zufällig anwesenden Mitarbeiter der Abteilung FWA (Fahrzeuge Werkstätten Autobus) der BVG gezeigt, der noch am selben Nachmittag der IGEB mitteilte, daß nunmehr ein Ausbau dieser Bügel erfolge (s. auch SIGNAL 9/91 , S.24).

Beschwerden über unpünktliche, insbesondere verfrühte Busse sind gegenüber den Vorjahren weniger häufig geworden. Allerdings nimmt die BVG offenbar auch krasse Fälle nicht zum Anlaß für Veränderungen. Beispielhaft sei der - mehrfach bestätigte - Fall einer Frau aus Strausberg Nord genannt, die nach Geschäftsschluß an der Haltestelle Breite/Berkaer Straße um 18.11 die Linie 186 zum S-Bf. Grunewald benutzen muß, um den Anschluß zur S5 nach Strausberg Nord zu schaffen. Regelmäßig, dies haben auch Beobachtungen der IGEB bestätigt, kommt dieser Wagen bereits um 18.08, was für die Frau zu früh ist, so daß sie den nur alle 40 Minuten verkehrenden Zug nach Strausberg Nord verpaßt und erst nach 20 Uhr zuhause ist.

Schließlich führte die Praxis der BVG, zahlreiche Busfahrpläne im Osten wie im Westen mehrfach ohne Information der Fahrgaste zu andern, zu zahlreichen Beschwerden. Da hier auch das Personenbeförderungsgesetz verletzt wird, ist die Aufsichtsbehörde gefragt (s. auch nachfolgenden Beitrag ).

Straßenbahn

Sie verkehrt bis heute nur im Ostteil der Stadt, aber sie hat viele geduldige Freunde: die Straßenbahn. Ein sehr großer Teil der aus den östlichen Bezirken stammenden Beschwerden befaßt sich mit der Tram. Fast alle Einsendungen und Gespräche enthalten nicht nur deutliche Kritik, z.B. an unverständlichen Überfüllungen der häufig nur mit Solotriebwagen befahrenen Linien, sondern auch detaillierte Verbesserungsvorschläge für Haltestellen, Ampelschaltungen und Linienführungen, die von der IGEB Zug um Zug bei den zuständigen Stellen eingereicht werden.

Ein Mangel allerdings muß von der BVG selbst unverzüglich beseitigt werden: die rundum unleserliche Fahrgastinformation am und im Straßenbahnwagen sowie an den Haltestellen. Geklagt wird hier nicht nur über wellige und zu kleine Zielschilder der Tatrawagen, sondern auch über die wenig Informativen Fahrplanstreifen, die als Relikt aus DDR-Zeiten empfunden werden.

Hoffnungen auf eine Lösung gibt es nach neuesten Informationen für ein Dauerproblem, das 1991 viele Fahrgäste beschäftigte: Das Fehlen von Straßenbahnhaltestellen am S-Bf. Nordbahnhof. Diese sollen nun endlich zur Wiederinbetriebnahme des Nord-Süd-Tunnels der S-Bahn am 29. Februar eingerichtet werden. Zugleich wird die wenig östlich davon an der Bergstraße gelegene Haltestelle zum Pappelplatz verlegt.

U-Bahn

Die Probleme der U-Bahn sind seit Jahren bekannt und werden seit Jahren von der BVG offenbar ignoriert. Immer mehr Fahrgäste beklagen sich über unzumutbar überfüllte Züge auch außerhalb der Hauptverkehrszeiten, über mangelnde Fahrgastinformation auf den Bahnhöfen und in den Zügen sowie über schlechte Fahrplanabstimmung mit dem Straßenbahn- und Busverkehr , insbesondere in den späten Abendstunden. Auch ein hartnäckig und ausdauernd arbeitender Fahrgastverband stößt dann an seine Grenzen, wenn sich der Verkehrsbetrieb Verbesserungsvorschlägen ebenso hartnäckig und ausdauernd verweigert. Im gesamten Jahr 1991 hat die IGEB auf kein einziges der an den Bereich U-Bahn der BVG gerichteten Schreiben eine Antwort erhalten. Dies ist nicht nur ein einsamer Rekord an Ignoranz, sondern hat auch Konsequenzen: Der Fahrgastverband wird die Anfragen und Beschwerden der Fahrgäste zur U-Bahn wohl nunmehr über politische Instanzen an die BVG leiten müssen.

S-Bahn

Ein häufiger Fahrgastkummer waren die S-Bahn-Pendelverkehre, die ein unzumutbares Ausmaß erreichten. Foto: M. Heller

Die Zweiteilung der S-Bahn schlägt sich auch in den Beschwerden und Anregungen der Fahrgäste nieder: Während im Westen, z.B. auf der Stadtbahn, Überfüllung, unzureichende Fahrgastinformation und zeitraubende Pendelverkehre beklagt werden, stehen konstruktive Kritikpunkte im Ostteil des S-Bahn-Netzes an der Spitze. Zahlreiche Fahrgäste hatten Verbesserungsvorschläge zum Nachtverkehr auf der Stadtbahn gemacht, die die IGEB bei der D e u t s c h e n Reichsbahn einreichte. Zum Fahrplanwechsel am 31. Mai 1992 sollen die meisten Fahrgastwünsche umgesetzt werden. Im Bereich der Fahrgastinformation, die bei der DR ohnehin wesentlich besser ist als bei der BVG, greifen weitere von der IGEB vorgeschlagene Verbesserungsvorschläge: So erhält der S-Bf. Warschauer Straße zusätzliche Hinweise "Zug fährt zuerst" auf den Bahnsteigen Richtung Westen. Auch andere Hinweise von S-Bahn-Fahrgästen werden von der Reichsbahn ernst genommen, prompt beantwortet und umgehend umgesetzt. So sollen z.B. zunächst auf dem S-Bf. Wuhlheide am Ausgang zum Freizeit- und Erholungspark Fahrradrinnen angebracht werden, die den Transport von Rädern über diese Treppen erheblich erleichtern. Die BVG lehnt diese kostengünstige Maßnahme auch weiterhin mit dem Verweis auf angebliche Sicherheitsrisiken ab.

Fernbahn

Bei der Reichsbahn konnte die IGEB nicht nur die Verbesserung einiger Anschlüsse durchsetzen, sondern auch erreichen, daß ab dem kommenden Fahrplanwechsel Ende Mai auch alle Binnenzüge der DR, für die Plätze reserviert werden können, mit Reservierungszetteln am Sitzplatz ausgerüstet werden. In der Vergangenheit kam es hier häufig zu Beschwerden von Fahrgästen mit Platzkarte, die ihren Platz nicht oder besetzt fanden, während Reisende ohne Platzkarte nicht wissen konnten, welcher Platz noch frei ist.

Den insgesamt deutlichsten Protest im Bahnreiseverkehr gab es bei der Abschaffung der Tourenkarte durch die DB. Die dafür genannten Gründe überzeugten weder die Fahrgäste noch die IGEB. Nach einigen Briefwechseln wird nun in Zusammenarbeit mit PRO BAHN der politische Weg beschritten, um die Bundesbahn zur Wiedereinführung dieses attraktiven Angebotes zu bewegen.

Ausblick

Die von Bahnreisenden und Fahrgästen eingesandten oder persönlich vorgetragenen Beschwerden und Anregungen sind inzwischen für die IGEB zum unverzichtbaren Bestandteil der Arbeit als Fahrgastverband geworden. Die beiden deutschen Bahnen, aber auch die Berliner Senatsdienststellen nehmen diese Art der Fahrgastvertretung sehr ernst, was auch durch die Qualität der Antworten deutlich wird. Bei der BVG allerdings ist derzeit der Wandel von der bürokratie- orientierten Verwaltung zum fahrgast- orientierten Dienstleistungsunternehmen noch nicht erkennbar. Kommen trotzdem Verbesserungen für die Fahrgäste in bestimmten Bereichen zustande, so ist dies auf das besondere Engagement einzelner und nicht auf ein verändertes Unternehmensziel zurückzuführen.

Alle Fahrgäste und Bahnreisenden sind aufgefordert, auch in Zukunft durch zahlreiche "Kummerkarten" an der Verbesserung des Öffentlichen Personenverkehrs mitzuwirken.

IGEB

aus SIGNAL 1/1992 (Februar 1992), Seite 4-5