Aktuell
Nach einem Jahr öffentlicher Diskussion über das Thema Fahrgastsicherheit muß eine eindeutig negative Bilanz gezogen werden: Ein großer Teil der bereits vor über einem Jahr gerügten Mängel im Sicherheitsbereich bei S- und U-Bahn besteht unverändert, z.T sogar in deutlicherer Form fort. Befragungen von Fahrgästen in den letzten Monaten haben gezeigt, daß trotz einer geringfügigen Verbesserung der objektiven Sicherheit (gemessen in Kennziffern wie Übergriffe pro Tag und Fahrgast) gravierende Vorbehalte der Fahrgäste gegen eine Benutzung von S- und U-Bahn in den Abend- und Nachtstunden bzw. in den Außenbezirken bestehen. Die vom Senat veranlaßten Maßnahmen mit ihrem z.T. kaum verhüllten Showcharakter haben die tiefgehenden Bedenken der Fahrgäste nicht zerstreuen und ihr Sicherheitsgefühl (subjektive Sicherheit) nicht verbessern können. Diese Erfahrung ist auch an der Entwicklung der Fahrgastzahlen ablesbar. Nachstehend werden die wichtigsten Versäumnisse und Forderungen dokumentiert.
1. Jun 1992
Der gegenwärtig amtierende Senat finanziert seine Sicherheitspolitik im Nahverkehr ausschließlich über Fahrgäste und Verkehrsbetriebe. Entgegen den Behauptungen von Verkehrssenator und Innensenator ist bisher nicht eine Mark zur Erhöhung der Sicherheit der Fahrgäste in S- und U-Bahn bereitgestellt worden. Die Kosten in Höhe von mehr als 30 Mio DM pro Jahr muß die BVG selbst tragen (vgl. BVG-Wirtschaftsplan für 1992). Zusätzlich zwingt der Senat die BVG zu weiteren Einsparungen im Betrieb in Höhe von 150 Mio DM pro Jahr. Das Verkehrsunternehmen muß also fast 200 Mio DM pro Jahr an Betriebskosten einsparen. Die daraus resultierenden Belastungen durch eingeschränkte Straßenbahn- und Busfahrpläne, verkürzte Betriebszeiten und eingestellte Linien tragen allein die Fahrgäste.
Erforderlich sind eine Übernahme aller Sicherheitskosten bei der BVG durch das Land Berlin und eine 50%-Beteiligung des Landes Berlin an den Sicherheitskosten im Bereich der DR.
Während die BVG über insgesamt 120 Mitarbeiter im mobilen Ordnungsdienst, zusätzlich etwa 240 private Ordnungskräfte, mehr als 300 Fahrausweiskontrolleure und fast 500 ABM-Kräfte zur Fahrgastinformation verfügt, kann die DR auf ihrem mehr als 170 km langen S-Bahn-Netz mit mehr als 80 Bahnhöfen lediglich 16 private Sicherheitskräfte und kaum mehr als 100 Mitarbeiter von Bundesgrenzschutz/Bahnpolizei einsetzen. Das daraus resultierende extreme Sicherheitsgefälle hat der Berliner Senat bisher tatenlos akzeptiert.
Deshalb muß sofort muß ein Sicherheitskräfte-Pool von BVG, DR, Polizei und BGS gebildet werden. Diese Sicherheitskräfte müssen auf allen S- und U-Bahn-Strecken in ganz Berlin eingesetzt werden, unabhängig von "hoheitlichen Fragen".
Verkehrssenator und Innensenator haben sich trotz vieler Gelegenheiten bisher dem Dialog mit den Fahrgästen verweigert. Daher muß ein "Runder Tisch Fahrgastsicherheit" eingerichtet werden, an dem auch die politisch Verantwortlichen teilnehmen müssen. Die Fahrgastverbände müssen in alle sicherheitsrelevanten Entscheidungen Senatsverwaltungen und Verkehrsbetrieben eingebunden werden.
Bausenator, BVG und Reichsbahn haben die Instandsetzung von S- und U-Bahnhöfen in Berlin inzwischen weitergeführt, ohne die Sicherheitsbelange der Fahrgäste umfassend zu berücksichtigen. Denkmalschutz rangiert auch weiterhin vor Fahrgastschutz. Lediglich der S-Bahnhof Unter den Linden wurde mit einer Glaskanzel versehen, und lediglich für den Neubau des S-Bfs. Lichterfelde Süd ist eine geplant. Alle anderen S-Bahnhöfe der Ringbahn sowie der Strecken nach Lichterfelde und Potsdam erhalten herkömmliche Unsicherheits-Aufbauten. Eine von der BVG gebildete Kommission zur Ausrüstung von Bahnhöfen mit Glaskanzeln hat ihre Arbeit faktisch bereits wieder eingestellt, da der Senat nicht bereit ist, diese wichtigen Arbeiten finanziell zu unterstützen.
Eine Reihe von S- und U-Bahnhöfen werden oder sind bereits mit Fernsehübertragungsanlagen für die Zugabfertigung ausgestattet, so z.B. die S-Bahnhöfe Marzahn, Springpfuhl und Hohenschönhausen. Diese Video-Überwachung trägt jedoch in keiner Weise zur Erhöhung der objektiven oder subjektiven Sicherheit der Fahrgäste bei. Eine ständige Beobachtung der Monitore durch das Abfertigungspersonal ist nicht möglich, da es gleichzeitig z.B. Züge abfertigen oder Fahrausweise verkaufen muß. Auch die subjektive Sicherheit (das Sicherheitsgefühl) der Fahrgäste wird erheblich eingeschränkt, weil ein Blickkontakt zum Aufsichtspersonal nicht mehr möglich ist.
Es gibt keine oder nur äußerst unzureichende Möglichkeiten für Fahrgäste und für Zug- oder Bahnhofspersonal, bei Übergriffen rechtzeitig Hilfe herbeizuholen oder Maßnahmen zur Ergreifung der Täter zu veranlassen (Alarmknöpfe, Sprechanlagen, Funkverbindungen). Nach Alarmierung der Polizei vergehen bis zu 45 min, bis diese eintrifft. BVB-Mitarbeiter und Reichsbahn-Bedienstete sind überwiegend nicht mit Funkgeräten ausgestattet.
Im gesamten BVG-Bereich besteht nur ein indirektes Notrufsystem. Nur die zentrale Leitstelle der S- oder U-Bahn der BVG ist ermächtigt, Hilfe z.B. bei der Polizei anzufordern. Dadurch verstreicht u.U. wichtige Zeit ungenutzt.
In den Fahrzeugen von S- und U-Bahn gibt es in der Regel keine Sichtverbindung von einem Wagen zum anderen und keine Sicht- und Sprechverbindung zum Fahrer. Ein Durchgang durch die Wagen ist nicht möglich. Zusätzlich wird die Übersichtlichkeit durch unnötig hohe Trennwände zwischen den Fahrgastabteilen beeinträchtigt.
Fabrikneue oder vollständig modernisierte Fahrzeuge der DR werden nach wie vor mit eklatanten Sicherheitsdefiziten in den Verkehr gebracht. Die Züge erhalten kein Notrufsystem; zudem versperren nach wie vor hohe Trennwände zwischen den Sitzgruppen den Durchblick duch den Wagen. Zwischen den Wagen befindet sich auch dort eine massive Wand, wo problemlos ein Fenster den Blick in den nächsten Wagen ermöglichen würde. Es gibt allerdings Hinweise, daß die DR wenigstens diesen Mißstand beseitigen will.
Bisher besteht nur auf wenigen Bahnsteigen die Möglichkeit, aus einer Telefonzelle heraus jemanden anzurufen, z.B. zum Abholen vom Bahnhof. Vorhandene öffentliche Fernsprecher, wie beispielsweise auf dem S-Bf. Marx-Engels-Platz und dem U-Bf. Wittenbergplatz noch vorhanden, werden von der Post ersatzlos abgebaut.
Erfahrungen aus anderen Städten haben gezeigt, daß klare Handlungsanweisungen, veranschaulicht durch eine entsprechende Gestaltung von Bahnhöfen und Zügen, das Sicherheitsempfinden der Fahrgäste deutlich erhöhen können. Daher sollten auf allen Bahnsteigen besonders hell erleuchtete und entsprechend markierte Sicherheitszonen in unmittelbarer Nähe und mit Sichtkontakt zur Bahnsteigaufsicht ausgewiesen werden.
Im Berliner S- und U-Bahn-Netz treten in den Spätstunden unterschiedliche Nachfragesituationen auf: Während in den City-Bereichen die Züge sehr gut gefüllt sind, verlieren sich in den Außenbezirken die wenigen Fahrgäste in den langen Zügen. BVG und DR lösen dieses Problem unterschiedlich: Während die DR die Zuglängen nach dem größten Fahrgastandrang bemißt, kürzt die BVG die Züge in den Abendstunden rücksichtslos zusammen. Eine Lösung dieses Problems bestünde darin, die Zugtrennung nach Hamburger und Münchner Vorbild einzuführen, z.B. auf den Bahnhöfen Blankenburg, Lichtenberg, Schöneweide und Charlottenburg. Der hintere Halbzug bleibt stehen, der vordere Halbzug fährt bis zur Endstation.
Auch in der Nacht treffen aus allen Teilen Deutschlands Fernzüge in Berlin ein. Es kann den Reisenden jedoch nicht zugemutet werden, von entfernt liegenden Bahnhöfen wie Lichtenberg oder Schönefeld ohne Anschluß an ein dichtes Nachtliniennetz nach Hause fahren zu müssen. Zum Nachtknotenpunkt für den Eisenbahnverkehr muß daher der Bahnhof Berlin Hauptbahnhof werden.
Die Fahrgäste von BVG und DR werden über Sicherheitsprobleme und deren Lösung völlig im unklaren gelassen. So erfolgte lediglich in einer Ausgabe der BVG-Kundenzeitschrift "BVG-aktuell" ein kleiner Hinweis auf die nach 20 Uhr bei fast allen Bahnhöfen bestehende Taxi-Rufmöglichkeit. Plakate oder dauerhafte Informationen, die auf diese Verbesserung hinweisen, wurden nicht angebracht. Auch über den tatsächlichen Umfang der Straftaten im Bahnbereich werden die Fahrgäste nicht informiert. Beispielsweise passieren nur 3% aller Körperverletzungen im Bahnbereich, die anderen 97% auf öffentlichem Straßenland. Durch Nichtinformation wird das Sicherheitsgefühl demzufolge nicht erhöht.
Verkaufsschalter der BVG oder DR, an denen Fahrausweise und Wertmarken verkauft werden, befinden sich in der Regel im Bereich der Zugänge zu Bahnhöfen bzw. Bahnsteigen. Im Rahmen ihrer Strategie "Flucht vor dem Kunden" schließt die BVG immer mehr dieser Verkaufseinrichtungen. Hierdurch entstehen zusätzliche ungesicherte Wege, Gänge und Treppen. Durch das Personal von Zeitungs- und Getränkekiosken wird ebenfalls ein Beitrag zur Verbesserung der Sicherheit auf den Bahnsteigen geleistet. Diese Kioske schließen jedoch mit wenigen Ausnahmen bereits um 18 Uhr.
Das vollständige Konzept (Kennwort "Sicherheit") ist erhältlich durch Überweisung von 5.- DM (incl. Versand) auf das Postgirokonto 582605-102 der IGEB (BLZ 10010010). Bitte geben Sie auf der Überweisung Ihre Adresse gut lesbar an, damit unsere Post Sie erreicht.
IGEB
aus SIGNAL 4/1992 (Juni 1992), Seite 4-6