Nahverkehr
1. Jun 1992
Der Streit um Masse oder Klasse im Berliner S-Bahn-Bau ist entschieden. Die Senatoren Haase (CDU) und Nagel (SPD) sind sich einig: Weder das eine noch das andere! Dies jedenfalls zeigt der Bericht (Nr. 723) der Verkehrsverwaltung an den Hauptausschuß, der "für jede S- und U-Bahn-Strecke die geplanten Einzelmaßnahmen, insbesondere die Bahnhofsbauten, beratungsfähig erläutern und dafür die Kostenpriorität und Zusammenhänge darstellen" will. Die Kritik im einzelnen:
An zahlreichen S-Bahnhöfen wurden trotz der Erhöhung der Gesamtkosten die geplanten Zugänge am jeweils anderen Ende eines Bahnsteiges zurückgestellt. Damit wird auf eine Vergrößerung des Einzugspotentials eines Bahnhofes um ca. 30% verzichtet, und für die Fahrgäste werden Umwege von bis zu 500 m in Kauf genommen. Dies gilt für die S-Bahnhöfe Westend, Halensee, Hohenzollerndamm, Köllnische Heide und Bornholmer Straße. Im Gegensatz dazu wurde aber weiterhin geklotzt, wenn z.B. durch eine Bahnsteigverlängerung gleichzeitig eine oberirdische Ampelanlage und somit eine Beeinträchtigung für den Autoverkehr vermieden werden konnte. So blieb es am S-Bahnhof Westend dabei, auf beiden Seiten des Spandauer Damms die großzügigste Zugangsanlage mit Aufzug und Fahrtreppen in zweistelliger Millionenhöhe zu finanzieren. Genauso geschah es am S-Bahnhof Bornholmer Straße, wo ebenfalls Aufwendungen in zweistelliger Millionenhöhe aufgebracht werden, um den Autoverkehr auf der Bornholmer Brücke nicht zu stören, während am anderen Ende des Bahnhofes ein Zugang zu den Wohngebieten nicht als notwendig erachtet wurde.
Seit 1984 sind z.B. die "planungsbefangenen" Bahnhöfe Großgörschenstraße und Yorckstraße in Betrieb und erfüllen die pflichtgemäßen Notwendigkeiten. Beim Ausbau des Südringes wird mit den "planungsbefangenen" Bahnhöfen jedoch ganz anders verfahren.
- Am S-Bahnhof Halensee, der wegen der "Überbauung des sogenannten Halenseegrabens noch planungsbefangen ist", wurde für 9 Mio DM (das sind drei neue S-Bahnhöfe in Düsseldorf) eine "begrenzte Bahnsteigsanierung" vorgenommen. Wer sich die Langwierigkeit der Bauarbeiten und das Ergebnis des S-Bahnhofes Halensee einmal anschaut, wird wahrlich große Mühe haben, in dieser Bahnhofsrestaurierung eine "begrenzte Bahnsteigsanierung" zu finden.
- Am S-Bahnhof Papestraße (Ringbahnhof), der ebenfalls "planungsbefangen" ist, kann die Zielplanung (59 Mio DM) "erst nach Vorliegen einer verbindlichen Fernbahnplanung realisiert werden". Für 8 Mio DM erfolgt deshalb "gegenwärtig nur eine Teilinstandsetzung".
- Der S-Bahnhof Papestraße (Vorortbahnsteig) erhält für 34 Mio DM eine "provisorische Lage", die erhalten bleibt, "bis der neue Umsteigebahnhof zwischen der S2/S4 nach Vorliegen einer verbindlichen Fernbahnplanung (sog. Turmlösung) verwirklicht werden kann". Nun ist schon interessant, daß die endgültige S-Bahn-Planung von der Fernbahnplanung und dem geplanten Bahnhof abhängig gemacht wird, während im Straßenbau ohne Rücksicht auf Verluste und weitere Konsequenzen sogar in Doppelschicht und Nachtarbeit geklotzt werden soll. Ein Skandal ist jedoch die Tatsache, daß die Kosten von 93 Mio DM als Folge der Bundesautobahnplanung aus dem S-Bahn-Topf des Haushalts finanziert werden, obwohl sie - zumindest zu erheblichen Teilen - aus Bonner Straßenbaumitteln kommen könnten. Grundlage dafür ist das Eisenbahnkreuzungsgesetz. Demnach muß der Veranlasser für die gesamten Baumaßnahmen am Sachsendamm, also der Straßenbau, zahlen. Berlin hat noch nicht einmal versucht, diese Finanzierung in Bonn einzufordern, obwohl im S-Bahn-Bereich an allen Orten und Enden das Geld fehlt und der Berliner Landeshaushalt ein Defizit von 5,8 Mrd DM aufweist.
- Auch der U-Bahnhof Schwartzkopffstraße ist "planungsbefangen", weshalb die Bahnsteigverlängerung dieses Bahnhofs wegen Olympia zurückgestellt wird. Dies verhindert jedoch nicht die Prioritätensetzung der gesamten Bahnsteigverlängerungen der U-Bahn-Linie 6, deren Kosten schon jetzt im Stadium der Planung von 120 auf 134 Mio DM, also um mehr als 10% gestiegen sind. Weshalb die Bahnsteigverlängerungen der U-Bahn-Linie 6 nach wie vor Priorität haben, obwohl der angestrebte 6-Wagen-Zugverkehr erst dann realisiert werden kann, wenn auch der letzte von 8 Bahnsteigen verlängert worden ist, bleibt ein Rätsel. Insbesondere deshalb, weil dadurch andere, wichtigere Maßnahmen wie der Ringschluß in Neukölln oder die Verlängerung nach Jungfernheide zurückgestellt werden müssen.
Die Kosten für die U8-Verlängerung (Süd) sind von ursprünglich 65 auf 95 und jetzt sogar auf 100 Mio DM gestiegen. Sie werden nach aller Erfahrung noch weiter in die Höhe steigen. Eine der Ursachen dafür ist, daß am U-Bahnhof Hermannstraße "hinter dem neu zu bauenden Verknüpfungsbahnhof (S-Bahn) eine viergleisige Aufstellanlage" vorgesehen ist. Darauf könnte verzichtet werden, wenn vor dem Bahnsteig gekehrt würde. Die Einsparungen lägen bei ca. 50 Mio DM. Eine Kehranlage vor dem Bahnsteig war unter rot-grün beschlossen, unter rot-schwarz wird - Berlin hat's ja - die teurere Variante bevorzugt, obwohl ein Kehren vor dem Bahnsteig am U-Bahnhof Schlesischen Tor, in Alt-Mariendorf oder in Krumme Lanke tagtägliche Praxis ist.
Warum das Baulos A 11 bei der Verlängerung der U2 (Nord) in Pankow, Vinetastraße, für 26,4 Mio DM (Rohbau) so wichtig ist, obwohl die angestrebte Verknüpfung mit dem S-Bahnhof dennoch nicht erreicht werden kann, ist auch nicht nachvollziehbar. Für diese 26,4 Mio DM könnte neben den gestrichenen Zugängen z.B. auch die Verschiebung des S-Bahnhofes Charlottenburg zum U-Bahnhof Wilmersdorfer Straße finanziert werden. Dort steigen nämlich ca. 100.000 Fahrgäste pro Tag ein und aus, und die Gleise werden dort ohnehin erneuert. Wenigstens die Ausrichtung der Gleise in die Lage nach der Bahnsteigverlängerung des S-Bahnhofs Charlottenburg sollte bei der Sanierung des Stadtbahnstrecke berücksichtigt werden. Aber auch dazu ist die Bauverwaltung nicht in der Lage und wird wohl in wenigen Jahren die jetzt neu gelegten Gleise wieder verlegen müssen.
Am S-Bahnhof Waidmannslust ist die Bauverwaltung seit nunmehr 5 Jahren nicht in der Lage, am südlichen Bahnsteigende eine Treppe einzubauen, obwohl dort ein Tunnel die gesamten Gleisanlagen unterquert. Ebenso am S-Bahnhof Tiergarten, wo zwar mitgeteilt wird, daß der Umbau des S-Bahnhofs zurückgestellt wird, aber als Konsequenz daraus nicht die kleine Lösung, nämlich die Instandsetzung dieses Aufganges wie z.B. am S-Bahnhof Bellevue, in Angriff genommen wird. Kaum überraschen kann es noch, daß auch am S-Bahnhof Köllnische Heide das östliche Bahnsteigende nicht durch einen Zugang direkt erschlossen wird, obwohl im ehemaligen Grenzstreifen eine Unterführung der gesamten Bahnanlagen vorhanden ist und als Unterfahrung genutzt werden soll. Eine Treppe von diesem Unterführungstunnel und ein kurzer Weg zum Bahnsteigende würden das Erschließungspotential für diesen Bahnhof erheblich vergrößern, zumal auch die Groß-Siedlung um den Dammweg besser angeschlossen würde. Noch nicht einmal am westlichen Bahnsteigende wird der Durchgang zum Krebsgang realisiert.
Auch auf den Bau neuer Haltepunkte wie z.B. die S-Bahnhöfe Dudenstraße, Kamenzer Damm und Oderstraße wird weiterhin verzichtet. Auch eine provisorische Anlage ist dort nicht vorgesehen, weil man sich offensichtlich Bahnhofsneubauten unter 20 Mio DM in Berlin nicht vorstellen kann. Weder Beispiele aus Düsseldorf (Neubau für 2,9 Mio DM) noch provisorische Anlagen von Haltepunkten in einfachen, aber efeffektiven Holzkonstruktionen für ein paar hunderttausend DM sind in Berlin machbar.
Warum die zweigleisige Verlängerung der S-Bahn-Strecke von wartenberg bis Sellheimbrücke (S75) Priorität in der Senatsplanung erhält, ist überhaupt nicht nachvollziehbar, da diese Strecke weder durch Wohngebiete führt noch ein nennenswertes Fahrgastpotential erreicht wird. Auch die einzig logische Erklärung, nämlich die Verlängerung bis zum Kreuzungspunkt der S-Bahn-Linie nach Bernau und damit die Weiterführung der Linie von Wartenberg bis Oranienburg, wird nicht weiter angedacht. So bleibt als Erklärung einzig und allein, daß mit der vorgesehenen zweigleisigen S-Bahn-Verlängerung die Straßenbrücken der Dorfstraße (B2) und der Blankenburger Chaussee (Seilheimbrücke) erneuert werden sollen. Nach dem Eisenbahnkreuzungsgesetz ist in diesem Fall die S-Bahn die Veranlasserin, weshalb die erweiterten Straßenbrückenbauwerke aus S-Bahn-Mitteln finanziert werden und als angenehmer Begleiteffekt für den Autoverkehr die Engpässe auf diesen Brücken entfallen. Auch der Hinweis, daß für diese Planung die Deutsche Reichsbahn verantwortlich ist, kann nicht überzeugen, denn für diese Planung muß der Berliner Senat sein Plazet ebenso geben, wie umgekehrt die Deutsche Reichsbahn jeder Ausbaumaßnahme bei der S-Bahn auf West-Berliner Gebiet zustimmen muß.
Natürlich ist es skandalös, daß diese Strecke im Bericht an den Hauptausschuß noch nicht einmal erwähnt wird, und ebenfalls skandalös ist es, daß hier die ÖPNV-Gelder nach dem Veranlasserprinzip dem Straßenbau zufließen. Eine Regelung, die man im umgekehrten Fall beim Projekt Sachsendamm (siehe oben) noch nicht einmal in Erwägung zieht.
Auch dieser Bericht belegt eindeutig, daß der Senat die Zeichen der Zeit noch nicht erkannt hat, nämlich mit geringen Mitteln in kürzester Zeit die größte Effizienz im Schienenwesen zu erzielen. Während einerseits in alter Subventionsmentalität nach dem Motto "weiter so" in überdimensionierter Luxusweise geklotzt wird, werden andererseits wesentliche Maßnahmen zur Steigerung des Fahrgastkomforts und der Erweiterung des Fahrgastpotentials der Bahnhöfe zurückgestellt.
Michael Cramer, MdA
Verkehrspolitischer Sprecher der Fraktion Bündnis 90/Grüne
aus SIGNAL 4/1992 (Juni 1992), Seite 12-13