Aktuell
Kürzlich versprach Verkehrssenator Haase zum Ende 1995 die Fertigstellung der Verlängerung der Straßenbahnlinie 3 und - ohne Termine - den Bau weiterer acht Streckenverlängerungen mit insgesamt 45 Neubaukilometern (siehe SIGNAL 8/92). Grundlage dieser Ausbauplanung ist das schon seit über einem Jahr versprochene Tramkonzept, dessen inzwischen 6. Entwurfsfassung noch nicht einmal im Senat konsensfähig ist. Betrachtet man sich die einzelnen Ausbauplanungen genauer, so wird deutlich, daß aufgrund konkurrierender Zielstellungen ein Konsens mit diesem autoverliebten Senator entweder gar nicht oder nur zulasten der Tram möglich ist.
1. Dez 1992
Diese Verlängerungsstrecke würde entscheidende Netzverknüpfungen für den gesamten Berliner Norden bringen. Sie ist mit einem Investitionsvolumen von ca. 48 Mio DM für die 4 km lange Strecke eine der vordringlichsten Maßnahmen im Berliner Nahverkehrsnetz, weil die BVG jährlich Beträge in Millionenhöhe beim hier völlig unwirtschaftlichen Busverkehr einsparen könnte. So gehörte diese Strecke auch von Anfang an zu den von allen Verkehrsexperten vorgeschlagenen Verlängerungen, nicht zuletzt weil sie ohne nennenswerte Probleme kurzfristig realisierbar wäre. Folgerichtig kündigte Verkehrssenator Haase im November 1991 an, daß das Planfeststellungsverfahren im Frühjahr 1992 eingeleitet werden soll.
Aber schon frühzeitig ließen sich die Gegner der Tram eine Menge einfallen: Mit Argumentationen wie "die Bösebrücke würde nur eine eingleisige Strecke erlauben" oder "für alle im Mittelstreifen entfallenden Stellplätze müßte in Tiefgaragen Ersatz geschaffen werden" versuchte man, die Kosten der Tramverlängerung künstlich hochzutreiben. Zwischenzeitlich hat die BVG mit ihrer wenig weitsichtigen Entscheidung zur Beschaffung von Einrichtungsfahrzeugen den Tram-Gegnern neues Futter gegeben. Denn während für Zweirichtungsfahrzeuge die Einrichtung einer Endstelle problemlos im 26 m breiten Mittelstreifen der Seestraße möglich wäre, ist eine Endstelle am U-Bf. Seestraße für Einrichtungswagen de facto nur mit einer Blockumfahrung zu bewerkstelligen.
Es überrascht nicht, daß die Senatsverkehrsverwaltung die zwar theoretisch möglichen, politisch jedoch kaum durchsetzbaren Wendeschleifen durch dicht bebaute Wohnquartiere favorisiert. Der Aufschrei der um ihren Stellplatz bangenden Autofahrer kam nicht unerwartet, als im Bezirk Wedding die geplante Umfahrung über die Brüsseler Straße bekannt wurde. Und so verging die Zeit, bis die Verkehrsverwaltung eine genauso heikle Blockumfahrung über Lüderitz-/Kameruner Straße präsentierte. Zu genau weiß man in der Verkehrsverwaltung, daß derartige Blockumfahrungen politisch nicht durchsetzbar sind und damit die gesamte Streckenverlängerung auf Jahre verzögert werden kann. Nur konsequent ist, daß die Alternativ-Vorschläge, die Tram gleich bis zum Eckernförder Platz oder - verkehrlich wohl sinnvoller - zum Augustenburger Platz fahren zu lassen, gar nicht erst geprüft wurden. Und auch die verkehrlich zwar nicht optimale, sich aber wegen der problemlosen Realisierbarkeit geradezu aufdrängende Umfahrung des "Friedhofsblocks" über Müller-, Ungarn- und Indische Straße ist der Senatsverkehrsverwaltung bisher keinen Gedanken wert gewesen.
Diese Streckenverlängerung stellt die unter Kosten-Nutzen-Gesichtspunkten sinnvollste Nahverkehrsinvestition vielleicht der ganzen Bundesrepublik dar: Mit täglich über 100.000 Fahrgästen kann man auf diesem Abschnitt rechnen, deutlich mehr als z.B. auf der parallel geplanten U5-Verlängerungsstrecke. Daß ausgerechnet die Tram den Straßenverkehrsplanern als Vehikel für die Verbreiterung der Leipziger Straße dienen soll, ist in den Tageszeitungen schon ausführlich dargestellt worden. Aber auch die von Stadtentwicklungssenator Hassemer prämierte städtebauliche Konzeption für die Leipziger Straße bietet mindestens für die Haltestellen der Tram keine realisierbaren Lösungen an.
Weit weniger im Bewußtsein der Öffentlichkeit ist die Problematik der geplanten Verlängerungsstrecke am Alexanderplatz. Für mehr als 3/4 der Tram-Fahrgäste (nämlich die aus den Radialen Greifswalder Straße und Landsberger Allee) würde die geplante Verlängerung über Karl-Liebknecht- und Gontardstraße einen völlig sinnlosen Umweg bedeuten. Und Fahrgästen aus allen drei Radialen würden am Alex unnötig lange Umsteigewege zu den U-Bahn-Linien 2, 5 und 8 zugemutet werden. Eine zwischenzeitliche Eröffnung der Teilstrecke Mollstraße - Alexanderplatz (die angesichts der sich im Bereich Potsdamer Platz anbahnenden Probleme, welche eine weitere Verzögerung erwarten lassen, sinnvoll erscheint) läßt die Problematik dieser Planung noch deutlicher werden: Für diesen Fall plant man eine Schleife Karl-Liebknecht-, Gontard-, Rathaus-, Spandauer, Karl-Liebknecht-Straße. Dies würde für die zu den drei U-Bahn-Linien umsteigenden Fahrgäste mindestens in einer Fahrtrichtung zu Fußwegen von z.T. über 400 m Führen.
All diese Nachteile wären bei einer Verlängerung über Hans-Beimler-Straße geradlinig in die Rathausstraße nicht gegeben. Täglich 100.000 Fahrgästen könnte eine Umwegfahrt erspart bleiben, oder/und sie würden von kürzeren Umsteigewegen profitieren, wenn die Verknüpfung der drei Radial-Tramstrecken geradlinig über Hans-Beimler- und Rathausstraße erfolgen würde. Unbegreiflich, daß eine Verlängerung über Karl-Liebknecht-Straße Priorität genießen soll.
Darf man schon anhand der Verknüpfung am Alex gewisse Zweifel an der Ernsthaftigkeit des Senatswillens zur Tramverlängerung hegen, so werden diese durch die geplante Endstelle am Kulturforum bestätigt. In ganz Berlin gibt es wohl nur wenige städtebaulich so sensible Bereiche wie das bereits seit Jahrzehnten unter Architekten und Stadtplanern heftig diskutierte Kulturforum nahe des Potsdamer Platzes. Die Vorgabe zur Errichtung einer Wendeschleife im Bereich zwischen Kammermusiksaal, Neue Nationalgalerie und Matthäikirche zeugt nicht nur vom städtebaulichen Unverständnis der Senatsverkehrsplaner, sondern sie gibt dem Verdacht weitere Nahrung, daß man der Tram auch weiterhin alle nur möglichen Erschwernisse in den Weg legen will. Denn selbst wenn das Kulturforum schon als Endstelle dienen muß. gäbe es hier städtebaulich weniger heikle Bereiche wie z.B. auf der Nordseite der Philharmonie im Bereich der jetzigen Busendstelle.
Dieser Abschnitt verläuft im Zuge des von der Senatsverkehrsverwaltung geplanten inneren Straßenringes. Infolgedessen gibt es eine Vielzahl von Vorgaben für die Tramplanung, die ausschließlich aus der Straßenplanung resultieren. Dazu zählt z.B. die Verlegung der Trasse aus der Bernauer Straße in den parallel laufenden - als Grünzug vorgesehenen - Mauerstreifen. An der Invalidenstraße sind u.a. der Abriß eines unter Denkmalschutz stehenden Hauses und eine "Teilinanspruchnahme von Vorgärten auf der nördlichen Straßenseite erforderlich". Sind diese schwerwiegenden Eingriffe nicht durchsetzbar (was wahrscheinlich ist), dann wird nicht der Straßenausbau reduziert, sondern diese Tramplanung aufgegeben werden. Ein Indiz dafür ist die im Entwurf zum neuen Flächennutzungsplan dargestellte U-Bahn-Strecke unter der Invalidenstraße zum Lehrter Bahnhof.
Nicht aufgeben wird der Senat dagegen seine Pläne für eine Tram in der Scharnhorststraße. Diese zur Erschließung der geplanten Olympiahalle durchaus sinnvolle Strecke soll dazu mißbraucht werden, die Tram aus der Chausseestraße herauszubekommen, nicht weil sie überflüssig wäre, sondern weil man mehr Platz für den Autoverkehr haben möchte.
Der Lehrter Bahnhof, der ja nach den Zielen der Senatsverkehrsverwaltung zur geplanten Inbetriebnahme des Fernbahntunnels bis zum Jahr 2000 aus seiner peripheren Lage im Nahverkehrsnetz befreit werden soll, soll von der Invalidenstraße über das Friedrich-List-Ufer erschlossen werden. Für eine - jetzt allerdings auf den St. Nimmerleinstag verschobene - Verlängerung nach Moabit würde sich damit für Fotos: Frank Brunner und Matthias Horth Fahrgäste von Mitte nach Moabit eine kurze Linienführung über Invalidenstraße, Friedrich-List-Ufer, Alt-Moabit ergeben, obwohl der geplante Fernbahnhof natürlich auch direkt von der Invalidenstraße zugänglich sein wird.
Die Berücksichtigung dieser Neubaustrecke als Strecke mit hoher Priorität überrascht. So sinnvoll sie im Zusammenhang mit anderen von der BVG und der AG Straßenbahn geforderten Netzergänzungen (z.B. über Fischerinsel zur Köpenicker Straße und über Lindenstraße zum Halleschen Tor) wäre, ohne diese Verknüpfungen hat sie verkehrlich nur nachgeordnete Bedeutung. Warum sie aber dennoch im "Sparnetz" verbleibt, wird einem erst beim genaueren Hinsehen deutlich. Dem geplanten Hauptverkehrstraßenzug Oranienburger - Spandauer/Stralauer Straße ist nämlich nicht nur die Tram in der Oranienburger Straße im Wege (weshalb sie hier auch folgerichtig eingestellt werden soll), sondern auch die heutige Straßenführung im Bereich S-Bf. Hackescher Markt. Und so soll denn hier auch die Planung der Tram-Neubaustrecke dazu dienen, das gesamte (verkehrliche) Umfeld des S-Bahnhofs neuzuordnen und, quasi als Abfallprodukt des für die neue Tramstrecke angeblich erforderlichen Bebauungsplanes, einen neuen innerstädtischen Straßendurchbruch zu erreichen.
Auch wenn sich Verkehrssenator Haase und seine Verwaltung inzwischen regelmäßig zur Tram und zu ihrem Ausbau bekennen, die reale Politik sieht anders aus:
Der Berliner Fahrgastverband IGEB fordert daher den Berliner Senat auf, endlich ein seriöses Konzept Für die Zukunft der Tram vorzulegen. Hierzu gehört auch eine solide Finanzierung der Tram, die im Umschichten der Bundeszuschüsse zu Lasten der gigantischen U- und S-Bahn-Tunnel- sowie der zahllosen Straßenbauprojekte zugunsten der viel effizienteren Tram besteht.
IGEB
aus SIGNAL 9-10/1992 (Dezember 1992), Seite 5-7