Autoverkehr
1. Mär 1993
Erlauben Sie Ihrem Kind doch einfach, die Bahnhofsgleise zu überqueren. - Warum nicht? Es kann ja schließlich acht geben, ob gerade ein Zug kommt oder nicht. Sie finden das zu gefährlich? Dann wünschen wir Ihnen, daß Sie nicht an der Hellersdorfer Straße, dem Brunsbütteler Damm, dem Tempelhofer Damm oder einer der vielen anderen Rennstrecken in dieser Stadt wohnen. Dort hat Ihr Sprößling als einzigen Schutz vor der tödlichen Auto-Gefahr seine eigene Achtsamkeit. Pech für ihn, wenn er aufgrund seiner mangelnden Körpergröße am Straßenrand nicht gesehen wird, wenn er die Geschwindigkeit herannahender Fahrzeuge nicht einschätzen kann, wenn der Autofahrer vielleicht eine rote Ampel übersieht.
Tausende von Eltern müssen dieses Spiel mit dem Tod ihren Kindern täglich zumuten, wenn diese eine Hauptverkehrsstraße überqueren, um ihre Schule, einen Spielplatz oder die Wohnung ihres Freundes jenseits der Straße zu erreichen. Und die Zahl der Kinder, die es nicht schaffen, steigt in Berlin von Jahr zu Jahr. Waren es im vergangenen Jahr zehn Kinder, die auf diese Weise ums Leben kamen, traf es im Januar 1993 bereits drei Kinder!
Den älteren Leuten ergeht es nicht besser. Im Gegenteil: Von den 198 im Jahre 1991 im Berliner Straßenverkehr getöteten Personen waren die Mehrzahl Fußgänger, von diesen wiederum die Mehrzahl ältere Leute - Opfer einer zunehmenden Raserei. Das Dezernat Straßenverkehr der Polizei hat diese Entwicklung dokumentiert und stellt unumwunden fest, mit 14 Radarwagen für die ganze Stadt diesen Krieg nicht gewinnen zu können.
Der Arbeitskreis Auto im Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) ging 1992 vor Ort, sah sich die Unfallstellen an, hielt eine Woche nach dem Unfall jeweils eine Mahnwache für das getötete Kind ab und informierte die Anwohner über Möglichkeiten zur Verkehrsberuhigung. Anwohnerinitiativen bildeten sich, wandten sich - z.T. mit gutem Erfolg - an ihre Bezirksverordnetenversammlungen. Die Gesprächsbereitschaft des Verkehrssenators dagegen mußte erst durch Bürobesetzungen von Anwohnern und BUND-Aktiven geweckt werden.
Für Hauptverkehrsstraßen hat der Senat leider nur eine einzige Verkehrsberuhigungsidee: die Ampel. In der Regel gibt es in Sichtweite, vielleicht 200 bis 300 m entfernt schon eine Ampel, dann sollen die Fußgänger gefälligst diesen Umweg in Kauf nehmen. Ampeln beschleunigen im übrigen den Autoverkehr auch immer noch, und die Gefahr von Rotfahrern steigt, wie die Eltern totgefahrener Kinder leidvoll erfahren müssen.
Für echte verkehrsberuhigende Maßnahmen wie Gehwegnasen, Fahrbahnverengungen und Mittelinseln sind den Bezirken die Gelder vollständig gestrichen worden. Zebrastreifen werden von der Polizei grundsätzlich abgelehnt.
Tempo 30 auf Hauptverkehrsstraßen ist in Verbindung mit Fahrbahnverengungen die einzige Lösung! Der deutsche Städtetag hat eine Geschwindigkeit von etwa 30 km/h in der Stadt als optimal errechnet. Die Autos brauchen eine weniger breite Fahrbahn, der Sicherheitsabstand ist nur halb so lang wie bei Tempo 50, wodurch die meisten Staus von vornherein vermieden werden können, der Schadstoffausstoß wird reduziert, die Lärmbelästigung sinkt um 2/3, unsere Kinder haben bei einem Anhalteweg von 14 bis 15 m eine zehnmal größere Überlebenschance, wie man aus einer Hamburger Untersuchung weiß.
Einen Zeitverlust wird Tempo 30 auf Hauptverkehrsstraßen für viele Autofahrer gar nicht bedeuten - weniger Staus! - und für andere Autofahrer allenfalls Sekunden oder eine Minute am Tag. Von den meisten Autofahrern haben wir gehört, daß sie diesen Preis für das Leben unserer Kinder zu zahlen bereit sind.
Die verantwortlichen Politiker halten dagegen an der Raserei fest. Während die SPD den Wirtschaftsverkehr in Gefahr sieht (absurd, absurd), führen Ingo Schmitt und sein Verkehrssenator die "mangelnde Akzeptanz des Autofahrers" gegen Tempo 30 auf Hauptverkehrsstraßen ins Feld. - Ignoranz oder Gedankenlosigkeit?
Dr. Brigitte Domurath
Sprecherin des AK Auto beim BUND
aus SIGNAL 2/1993 (März 1993), Seite 14