Aktuell
Nach Monaten des Wartens war es am 26. Februar 1993 soweit. Die bereits seit Dezember 1992 vorliegenden Entwürfe der Architekten Kleihues und von Gerkan für den Lehrter Bahnhof wurden der Öffentlichkeit vorgestellt. Die Verzögerung gab es, weil Berliner Senat und Deutsche Reichsbahn vor einer Veröffentlichung der Bahnhofsentwürfe die Resultate des städtebaulichen Wettbewerbs für das Parlaments- und Regierungsviertel im Spreebogen abwarten wollten. Erstes Fazit der Planung für den Lehrter Bahnhof: Verfahren zweifelhaft, Ergebnis unbefriedigend.
1. Mär 1993
Die Entwürfe aus den Büros der beiden renomierten Architekten Prof. Josef-Paul Kleihues (Berlin) und Prof. Meinhard von Gerkan (Hamburg) wurden am 26. Februar 1993 morgens der Presse und abends interessierten Bürgern im Rahmen der "Architekturgespräche" im Berlin-Pavillion vorgestellt. Das Interesse war groß. Etwa 300 Besucher drängten sich am Abend in dem viel zu kleinen Saal. Das Spektrum der Anwesenden reichte von Vertretern der Berliner Architektur- und Bauszene über Politiker und Verkehrsinitiativen bis zu hin den Betroffenen aus dem Moabiter Kiez. Entsprechend breit Fiel die Diskussion zu den vorgestellten Arbeiten aus. Vor einer Beschreibung und Kritik ist zunächst ein Blick auf die Ziele und Rahmenbedingungen des Planungsverfahrens erforderlich.
Mit der Entscheidung vom Juli 1992 für das sogenannte Pilzkonzept, der 1. Stufe des Achsenkreuz-Modells, erhielt der Bau eines Nord-Süd-Eisenbahntunnels mit einem Umsteigebahnhof zur Stadtbahn am Lehrter Bahnhof oberste Priorität. Seither sind die Bahnplaner in Berlin unter Zeitdruck, denn damit der Umzug von Bundestag und Bundesregierung nicht verzögert wird, soll der Tunnel im Bereich Spreebogen bereits im Jahr 1997 so weit fertig sein, daß darüber gebaut werden kann. Termindruck erzeugt ferner die Bewerbung für die Olympischen Spiele im Jahr 2000, zu deren Ausrichtung der Tunnel fertig sein muß.
Kernstück der Planung und zugleich Schwachpunkt der Terminkette ist der geplante Lehrter Bahnhof. Vor diesem Hintergrund entschieden sich die Senatsverwaltung für Bau- und Wohnungswesen und die Deutsche Reichsbahn für ein ungewöhnliches Planungsverfahren - zumindest für ein Projekt dieser Größenordnung (geschätzte Baukosten: 700 Mio. DM).
Auf einen Wettbewerb mit umfänglicher Vorbereitung wurde verzichtet. Vielmehr wurde eine Projektgruppe aus Mitarbeitern der Senats Verwaltung für Bau- und Wohnungswesen (Federführung bei Senatsbaudirektor Hans Stimmann) und der Deutschen Reichsbahn (Abteilungsleiter Dieter Funk) sowie Mitarbeitern der Senatsverwaltungen für Stadtentwicklung und für Verkehr und des Bezirksamtes Tiergarten gebildet, ergänzt um externe Berater. Mit der Planung des Bahnhofs und des Umfeldes wurden die Architekturbüros Kleihues und Von Gerkan, Marg und Partner beauftragt. Josef-Paul Kleihues ist u.a. als Direktor der Berliner Neubau-IBA bekannt geworden, das Büro GMP entwarf u.a. den Flughafen Tegel.
In einem engen Abstimmungsverfahren sollte in mehreren Schritten eine für alle Seiten akzeptable Planung erarbeitet werden. Ziel des sogenannten diskursiven Verfahrens war es, eine Planung zu entwickeln, die einerseits
Erwartet wird ein Zugaufkommen von täglich 382 Zugpaaren, darunter 84 ICE/IC-Züge und 192 Regionalverkehrszüge sowie unzählige S- und U-Bahn-Züge auf der Stadtbahn, der Nord-Süd-S-Bahn und der verlängerten U5.
Im Rahmen der Vorstellung beider Arbeiten wies Senatsbaudirektor Dr. Stimmann auf die Terminplanung hin: Bereits 1995 soll Baubeginn für den Tunnel sein. Im Herbst 1993 sei deshalb die Einleitung des Planfeststellungsverfahrens für die planungsrechtliche Sicherung von Trassen und Bahnhof erforderlich. Der Bahnhof soll in Etappen zwischen den Jahren 2000 und 2002 in Betrieb gehen.
Beide Architekten haben im Rahmen des Verfahrens mehrere unterschiedliche Entwürfe erarbeitet. Zur Entscheidung standen schließlich zwei Lösungen, die auch umfänglich in der Presse publiziert wurden. Der Entwurf Kleihues hat als wichtigste Elemente:
Der Entwurf von Gerkan zeichnet sich vor allem durch folgende Aspekte aus:
Die Entscheidung für von Gerkan wurde auf der Veranstaltung am 26. Februar 1993 sowohl vom sichtlich enttäuschten Kleihues wie auch von anderen Diskussionsteilnehmern kritisiert. Überzeugen können aber beide Entwürfe nicht. Grundsätzliche Kritik gilt zunächst dem Umgang mit dem alten S-Bahnhof, der erhalten und ggf. um moderne Formen hätte ergänzt werden können. Mit der Entscheidung von Senat und DR, die S-Bahn an den etwas südlicher gelegenen Fernabhnhof heranzuschieben, wird neben dem alten S-Bahnhof auch noch das historische Stadtbahnviadukt zwischen Alt-Moabit und Charitè einschließlich der alten Brücke über den Humboldthafen beseitigt.
Keiner der beiden Architekten hat die Aufgabe, einen repräsentativen Bahnhof in unmittelbarer Nähe zum Sitz von Parlament und Regierung zu schaffen, gelöst. Ebenso wenig gelang eine überzeugende Darstellung der Funktion "Turmbahnhof mit sich kreuzenden oberirdischen und unterirdischen Bahnsteigen". Stattdessen dominiert die von der DR geforderte Mantelnutzung - ein eindeutiger Fehler in der Programm vorgäbe! Der Entwurf von Kleihues macht dies besonders deutlich. Sein Empfangsgebäude ist in Wahrheit ein Bürogebäude, in dem sich zufällig ein Bahnhof befindet. Die ankommenden Reisenden erleben keine großzügige Bahnsteighalle, sondern bewegen sich unter einfachen Bahnsteigdächern, den Bürobauten und der gläsernen Kuppel. Ein einheitlicher Raumeindruck entsteht nicht. Das Ziel, dem Bahnhof eine städtebaulich besondere Wirkung zu geben, wird nicht erreicht. Ein Anknüpfen an die Berliner Bahnhofsarchitektur findet nicht statt, eher schon an die Berliner Kaufhäuser. Kubus und Kuppel erinnern entfernt an die "Groschenmoschee" der Bilka-Filiale am Bahnhof Zoo.
Der städtebauliche Entwurf von Kleihues hat räumliche und funktionale Qualitäten, ignoriert aber viele historisch wertvollen Bauten und Strukturen und entwirft ein gigantisches Straßennetz. So stehen z.B. die Wohnbauten Lehrter Straße 1-4 bei Kleihues plötzlich wie auf dem Mittelstreifen einer Hauptverkehrsstraße.
Der ausgewählte Entwurf von Gerkans zeigt deutlicher die Funktion des Bahnhofs. Er schafft zwischen den beiden Quergebäuden eine großzügige Empfangshalle und bringt relativ viel Tageslicht in die unterirdischen Bahnhofsebenen. Seine Bahnsteighalle über der Stadtbahn fällt allerdings, soweit Modell und Zeichnungen eine Beurteilung erlauben, zu niedrig aus. Unmöglich sind die Ausfahrten vom Autotunnel. Sie liegen zwischen dem Empfangsgebäude und an den angegliederten Mantelnutzungen. Die im Modell unscheinbar wirkenden Rampen stellen in der Realität eine massive, durch Lärm und Abgase unwirtlich geprägte Schneise dar. Die breite Unterführung unter dem Bahnhof wird düster und bedrükkend wirken.
Völlig vermissen läßt der Entwurf eine glaubwürdige städtebauliche Einbindung. Die dargestellten Gewerbe- und Wohnbauten erscheinen zufällig, ihre Qualität liegt in der Möglichkeit, durch jeden Investor beliebig veränderbar zu sein. Damit kommen sie allerdings der beabsichtigten Kommerzialisierung der gesamten Planung entgegen. Ob unter diesen Vorzeichen die baulich aufwendigen Quergebäude über der Stadtbahn, das einzig originelle am Entwurf, Bestand haben werden, muß bezweifelt werden. Jüngste Äußerungen von sehen der Bahn zeigen, daß sie selbst an dieser herausragenden Stelle der Stadt das Modell "Kaufhaus mit Gleisanschluß" verfolgt. Nicht zu Unrecht hat Senatsbaudirektor Hans Stimmann die Sorge, daß Bahnreisende nicht in einem repräsentativen Lehrter Bahnhof, sondern "in der Unterhosenabteilung von Berlin-Kaufhaus" ankommen.
Wenn man das Pilzkonzept für richtig hält und realisieren will, dann besteht tatsächlich ein erheblicher Zeitdruck für den Bau des Lehrter Bahnhofes. Langwierige Planungsverfahren mußten deshalb ausscheiden. Dies gilt umso mehr, als die Senatsverwaltung für Bau- und Wohnungswesen die DR erst von der Notwendigkeit einer qualifizierten städtebaulichen Lösung überzeugen mußte. Dennoch muß bezweifelt werden, ob nicht doch mehr Planungskultur möglich gewesen wäre. Ein eingeladener Wettbewerb mit qualifizierten Büros, eine intensive Information der Teilnehmer und ggf. mehrere Rückfragekolloqien und vor allem ein Preisgericht, dessen Entscheidungen nachvollziehbar sind, hätten der Planung gut getan und viele von den bei der Vorstellung der Arbeit erhobenen Vorwürfen entkräftet. So muß als Fazit die Feststellung gelten: Gut gemeint ist lange noch nicht gut gemacht. Es bleibt zu hoffen, daß das Büro Von Gerkan, Marg und Partner in der Lage sein wird, die Entwürfe nicht nur nach wirtschaftlichen Anforderungen zu überarbeiten. Gute Architektur an dieser herausragenden Stelle der Stadt ist mehr wert als viele vermietbare Büroflächen - mehr wert für das Ansehen Berlins und für das der Bahn.
IGEB
aus SIGNAL 3/1993 (April 1993), Seite 4-6