Nahverkehr
1. Mai 1993
Im Juni 1992 legte Verkehrssenator Herwig Haase endlich das vom Abgeordnetenhaus geforderte Beschleunigungskonzept für Tram und Bus vor. Neben der Auflistung von zahlreichen Beschleunigungsmaßnahmen im Busnetz, deren kurzfristige (!) Realisierung seitdem zwar immer wieder angekündigt, aber mit Ausnahme von wenigen Busspurmetern noch nicht umgesetzt wurde, sind darin auch Maßnahmen zur Tram-Beschleunigung benannt. In der Stufe I des Konzeptes findet man für die Tram u.a. Fahrbahnabmarkierungen sowie die Beeinflussung von Ampelanlagen mit "konventioneller" Anforderungstechnik, also ohne kompliziertes rechnergestütztes Betriebsleitssystem, das wohl erst im nächsten Jahrhundert für die Tram zur Verfügung steht. Dazu wörtlich: "ÖPNV-Beschleunigung hat im Konfliktfall Priorität vor der Bevorrechtigung anderer Verkehrsteilnehmer." Soweit die schönen Ankündigungen des Senators.
Die tatsächliche Politik sieht anders aus: Zahlreiche aus DDR-Zeiten vorhandene Vorrangschaltungen, die über Oberleitungskontakte betätigt wurden, sind außer Betrieb genommen worden und sollen erst nach Entwicklung und Inbetriebnahme eines rechnergestützten Betriebsleitsystems wieder eingerichtet werden. Viele neue Ampelanlagen behindern systematisch den ÖPNV, indem die Tram nur wenige Sekunden "Grün", der parallele Autoverkehr aber minutenlang freie Fahrt hat, z.B. an der Kreuzung Müggelheimer Damm Ecke Wendenschloßstraße.
Neu installiert werden jetzt jedoch Ampelanlagen, bei denen die Tram eine "Anforderungsschaltung" bekommt. Dies ist aber nicht mit einer "Vorrangschaltung" gleichzusetzen - ganz im Gegenteil. Zwei Beispiele: An der neu installierten Ampel Treskowallee Ecke Hegemeisterweg verkehrt sich der Sinn der Anforderungsschaltung in ihr Gegenteil, wenn von der Anforderung bis zum Erscheinen des entsprechenden Signalbildes mehr als eine Minute vergeht. An der Treskowallee Ecke Ehrlichstraße muß die Bahn fast bis zum Stillstand abbremsen, obwohl in derselben Richtung verkehrende Kraftfahrzeuge "Grün" haben.
Ein beeindruckendes Beispiel, wie man die Tram und ihre Fahrgäste schikanieren kann, gibt es auch in der Oranienburger Straße am S-Bahnhof. Zwar ist positiv zu vermerken, daß hier in beiden Fahrtrichtungen mit Hilfe zusätzlicher Ampeln jeweils vor der Kreuzung "Zeitinseln" zum gefahrlosen Ein- und Aussteigen eingerichtet worden sind. Reine Schikane aber ist es, wenn die Tram, bevor sie in den Haltestellenbereich einfahren kann, unbegründet "Rot" hat und gleichzeitig der parallele Autoverkehr "Grün" erhält. Die Tram steht somit dank der Ampelschaltung unmittelbar vor dem Haltestellenbereich, ohne daß ein Fahrgastwechsel stattfinden kann!
Aber auch die "normalen" Ampelanlagen ohne Straßenbahnbeeinflussung werden zum Verkehrshindernis, wenn sich linksabbiegende Fahrzeuge vor der Tram auf dem Gleiskörper einordnen dürfen. Am Mandrellaplatz in Köpenick, wo eine Ampel neu aufgestellt wurde, können pro Umlauf höchstens drei Linksabbieger die Kreuzung passieren, so daß im Berufsverkehr jetzt Wartezeiten für die Tram von bis zu fünf Ampelumläufen entstehen! Hier - wie auch an vielen anderen Stellen - könnte problemlos durch Abmarkieren des Gleiskörpers Abhilfe geschaffen werden. Natürlich müssen solche Abmarkierungen in ausreichender Dicke und durchgehend schraffiert erfolgen, damit sie von den Autofahrern auch wahrgenommen werden. Tatsächlich aber werden in Berlin selbst bestehende Gleisabmarkierungen nicht mehr erneuert, geschweige denn neue eingerichtet.
Entgegen den Ankündigungen des Verkehrssenators wird in der Realität die Tram also nicht beschleunigt, sondern weiterhin und sogar noch zusätzlich behindert.
IGEB
aus SIGNAL 4/1993 (Mai 1993), Seite 7-8