Aktuell
Eine Woche vor Weihnachten wird der S-Bahn-Südring wieder in Betrieb genommen
1. Dez 1993
Mit der Wiederinbetriebnahme des S-Bahn-Südringes zwischen den Stationen Westend und Baumschulenweg ist der 17. Dezember in mehrfacher Hinsicht ein besonderer Tag für Berlin. Die neue - alte - S-Bahn-Strecke schafft eine wichtige Querverbindung im Süden Berlins. Zugleich ist sie aber auch ein politisches Symbol für das weitere Zusammenwachsen der beiden Stadthälften nach fast drei Jahrzehnten der Teilung. Schließlich ist dieser Tag auch ein großer Erfolg für alle, die sich aktiv für eine Verbesserung des Öffentlichen Nahverkehrs in Berlin einsetzen, denn lange Zeit gab es erheblichen Widerstand aus Politik und Verwaltung, bevor endlich im September 1989 mit den Bauarbeiten begonnen wurde. Bei aller Freude über die Wiederinbetriebnahme kann aber nicht unerwähnt bleiben, daß mit der eigentlichen Ring-Schließung zwischen Neukölln und Treptower Park sowie mit der Wiederherstellung des Nordringes noch immer nicht begonnen wurde, so daß auch im Jahr 2000, also zehn Jahre nach dem Fall der Mauer, noch keine Vollring-Züge verkehren können.
Die Ringbahn hat vielfältige Bedeutung für den Verkehr, die Stadtentwicklung und die Politik in dieser Stadt.
Anders als die anderen Eisenbahnstrecken Berlins hat die Ringbahn weder Anfang noch Ende. Sie verbindet all die übrigen Strecken, die radial auf das Zentrum Berlins zulaufen und in den 30er, 50er und 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts separat entstanden waren. So trug (und trägt zukünftig) die Ringbahn zum Kreislauf des Berliner Verkehrs bei.
Die Trasse der Ringbahn, beim Bau in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts weit außerhalb des damaligen Stadtgebiets gelegen, war eine der Voraussetzungen für das großzügige räumliche Wachstum Berlins im Industriezeitalter. Die Ringbahn mit ihrem unmittelbaren Umfeld bietet der Stadt aber auch Potentiale für die aktuelle und für die künftige Entwicklung, z.B. am Messegelände oder am ehemaligen Zentral Viehhof. Unverträgliche Überkonzentrationen an anderer Stelle im Zentrum Berlins ließen sich dadurch verhindern.
Eine Fahrt mit der Ringbahn zeigt die Vielfalt Berlins: Mietskasernen und bürgerliche Wohnquartiere, Fabriken und Verwaltungsbauten, Kraftwerke und Gasanstalten, Zentralviehhof und Fruchthof, Hafen, Flughafen und Messegelände sowie eine ganze Reihe von Ortsteilzentren. Kurz: Sämtliche Elemente, die zusammen die Metropole Berlin ausmachen, huschen am S-Bahn-Fenster vorbei!
Die Ringbahn dokumentiert die Berliner Nachkriegsgeschichte auf drastische Weise: Noch im Früjahr 1945 wurde aus einer "Verteidigungslinie" des untergehenden NS-Staates wieder eine S-Bahn-Strecke. Sie gab den Menschen in der Stadt Rückhalt in schwieriger Zeit - mit Zügen, die fortan alle vier Sektoren Berlins durchfuhren. In dieser Zeit wandelte sich die S-Bahn zunehmend vom verkehrlichem zum politischen Vehikel im Kalten Krieg zwischen Ost und West. Der Streit um den Einsatz von Ost- oder West-Polizei auf Reichsbahn-Flächen, das zeigen der DDR-Flagge im Westteil Berlins der Polit-Parolen an Zügen und auf Bahnsteigen sorgten immer wieder für Schlagzeilen. Abrupt endete die Klammerfunktion zwischen Ost und West am 13. August 1961. Mit der Abriegelung des Ostsektors wurde auch der S-Bahn-Ring zerbrochen.
Parallel zur Ringbahn wurde im Westteil der Stadt seit den 50er Jahren eine Stadtautobahn gebaut, deren dichter Autoverkehr heute Unmengen an Abgasen produziert, die auch die S-Bahn-Fahrgäste belasten werden. Nichts dokumentiert deutlicher die Irrfahrt der Inselstadt in Richtung auf die autogerechte Stadt. Ein aktueller "Erfolg" dieser Politik ist die Verhinderung einer raschen Wiederherstellung der so wichtigen S-Bahn-Verbindung Neukölln - Treptower Park: Wegen Unklarheiten beim geplanten Stadtautobahnbau in diesem Bereich ist der Lückenschluß der S-Bahn nicht vor 1997 möglich.
Im Ostteil Berlins blieb die Ringbahn auch nach 1961 eine sehr bedeutende Strecke des Nahverkehrs, wenn auch mit veränderter Funktion: Als Tangente zwischen Schönhauser Allee und Treptower Park und als Radiale ins Zentrum, unter Nutzung der Gleisverbindungen am Ostkreuz. Die Verbindungen zum Westen wurden jedoch versperrt, abgebaut, mit Stacheldraht und Wachtürmen besetzt.
Im Westteil Berlins führten der Verlust der Vorortstrecken durch den Mauerbau und der S-Bahn-Boykott nach dem Mauerbau zu einem massiven Rückgang der S-Bahn-Fahrgäste. Schrittweise Einschränkungen des Verkehrsangebots, ein fehlender Verbund mit der BVG und mangelhafte Instandhaltung von Bahnhöfen und Fahrzeugen machten die S-Bahn zunehmend weniger attraktiv. Schließlich - nach dem Streik der West-Berliner Eisenbahner im September 1980 - kam mit der Stillegung das (vorläufige) "Aus" für den westlichen Halbring. Es folgten Verfall und Vandalismus, glücklicherweise aber auch ein zunehmender Bürgerdruck. Senat und BVG wurden aufgefordert, das umweltfreundliche Verkehrsmittel S-Bahn nicht länger zu ignorieren, sondern wiederherzustellen und in das West-Berliner Nahverkehrsnetz zu integrieren.
Mit dem Fall der Mauer am 9. November 1989 boten sich neue Perspektiven für den S-Bahn-Ring. Unter West-Berliner Bedingungen war zunächst eine Teilinbetriebnahme zwischen Westend und Schöneberg Für 1992 geplant. Dieses Konzept wurde korrigiert zugunsten einer um ein Jahr verzögerten Wiederinbetriebnahme "über die Grenze" bis Baumschulenweg. Betrachtet man die Verzögerungen bei den Bauarbeiten an den S-Bahn-Strecken nach Tegel und Lichterfelde Ost sowie den U-Bahn-Linien 2 und 8, so kann man beim Südring durchaus zufrieden sein. Getrübt wird diese Freude allerdings beim Blick in die Zukunft. Zwar besteht die Hoffnung, daß die Verlängerung von Westend bis Jungfernheide "schon" 1995 fertig wird, aber für alle anderen stilliegenden Ringbahnabschnitte gibt es noch keine glaubwürdigen Wiederinbetriebnahmedaten.
Die Wiederinbetriebnahme der Südringes ist ein wichtiger Erfolg für eine umweltfreundliche Verkehrspolitik. Sie steht beispielhaft dafür, was Bürger gegenüber den etablierten Politikern durchsetzen können. So gelang es 1988 durch vielfältige Aktivitäten, deren Höhepunkt ein erfolgreiches Bürgerbegehren im Bezirk Charlottenburg war, die S-Bahn insgesamt und die Ringbahn im besonderen zu einem wichtigen Wahlkampfthema für die Abgeordnetenhaus-Wahlen im Januar 1989 zu machen. Die Politiker der damaligen CDU/F.D.P.-Koalition sahen sich unter zunehmendem Druck von Bürgern, Presse und schließlich auch Teilen der Verwaltung. Vollmundig wurde der Beginn der Baumaßnahmen für 1990 versprochen. Doch nach der Wahl wurde in der letzten Sitzung des abgewählten (!) Senats beschlossen, das Versprechen zurückzunehmen und die insgeheim stets favorisierte U-Bahn-Linie 9 vorzuziehen. Erst der SPD/AL-Senat setzte dann den Bürgerwillen und die verkehrlich richtige Entscheidung zur Wiederinbetriebnahme des Südringes um. Nur so war nach dem Fall der Mauer die gemeinsam von Senat und Deutscher Reichsbahn getroffene Entscheidung zur Verlängerung der Strecke bis zum S-Bahnhof Baumschulenweg möglich.
Wenn nach der Jahrhundertwende endlich wieder der Vollring befahren wird, soll die Ringbahn nicht nur ihre Nahverkehrsfunktion für Berlin und seine wichtigen Siedlungs- und Wirtschaftszentren zurückerhalten, sondern sie soll auch neue Aufgaben im Regional- und Fernverkehr übernehmen. An den Bahnhöfen Gesundbrunnen, Papestraße und Ostkreuz sind wichtige Umsteigebahnhöfe vom Reiseverkehr zum S-Bahn-Nahverkehr geplant. Weitere Stationen für den Regionalverkehr sollen z.B. in Hermannstraße und Jungfernheide entstehen. Doch das ist noch Zukunftsmusik. Sehr viel schneller (und doch längst nicht schnell genug) werden beide Bahnhöfe neue Umsteigemöglichkeiten zwischen S- und U-Bahn bieten: in Jungfernheide 1995 nach der S-Bahn-Verlängerung, in Hermannstraße 1995 oder 96 nach der U-Bahn-Verlängerung.
IGEB
aus SIGNAL 9-10/1993 (Dezember 1993), Seite 4-7