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Der Reichsbahn-Report 1945-1993


Konrad Koschinski

1. Dez 1993

Von verklärter Dampflokherrlichkeit ist nicht die Rede. Nee, es geht um die "real existierende" Staatsbahn der DDR und kurz um die nun ebenfalls abgeschlossene Episode als Sondervermögen des Bundes. Gut, Lokomotiven kommen vor, aber das ihnen gewidmete Kapitel ist nüchtern mit "Die Traktionswechsel" überschrieben. Wobei der Plural durchaus bedeutsam ist, denn schließlich setzte die SED-Führung je nach Energieversorgungslage mal auf Diesel, mal auf Dampf, mal auf Elektrokraft.

Fehlentscheidungen der Planbürokratie werden deutlich, die bisweilen sogar zu Lasten der Betriebssicherheit gingen. Auch Groteskes schildert der Autor - zum Beispiel die Anstrengungen, zuverlässige Fahrscheinentwerter bei der S-Bahn einzuführen. Tragikomisch mutet der Abschnitt über sowjetische Neuerermethoden und Kampfprogramme an, die banale Pflichten wie die Bahnsteigreinigung zu "sozialistischen Wettbewerben" aufbliesen. Leserinnen und Leser erfahren, was der Dispatcherdienst war, wie Kaderfragen zu Machtfragen wurden, die Politverwaltung der DR Parteidisziplin höher bewertete als Arbeitsleistung, während "in Bahnbetriebswerken Ehrenhaine mit Fahnenwäldern den Lokomotivschuppen verdeckten, der wegen Einsturzgefahr nicht betreten werden durfte."

Unter den insgesamt zehn Kapiteln findet sich eines über die besondere Situation der Eisenbahner in West-Berlin. Kurz vorgestellt sind ferner alle DR-Generaldirektoren von Willi Besener bis Hans Klemm und schließlich der Vorstandsvorsitzer Heinz Dürr. Wußten Sie, daß ihm seine scheinbar naiven Fragen, aber scharfsinnigen Schlußfolgerungen den Spitznamen "Colombo" eintrugen?

Erich Preuß, Eisenbahner von der Pieke auf und insgesamt 38 Jahre im Dienst der DR - zuletzt als Redakteur der Mitarbeiterzeitung "Fahrt Frei", schöpft aus seinem Insiderwissen. Eine umfassende Chronik der Reichsbahn nach dem Krieg hat er freilich nicht vorgelegt, auch gar nicht beabsichtigt. Da wiegen ein paar Fehler im Detail (widersprüchliche Zeitangaben, unkorrekte Loktypenbezeichnungen etc.) weniger schwer. Preuß kommentiert zuweilen äußerst bissig, dabei aber humorvoll. Eine kritische Rückschau auf die Nachkriegsära der Deutschen Reichsbahn - trotz aller Mißstände letztlich ein Unternehmen, das auch europäische Spitzenleistungen erbrachte!

Erich Preuß: Der Reichsbahn-Report 1945-1993. Tatsachen, Legenden, Hintergründe. 240 Seiten, 203 Abbildungen (davon 34 farbig). Format 170 x 240 mm, gebunden; Transpress Verlagsgesellschaft mbH, Berlin 1993; 59.00 DM.

Konrad Koschinski

aus SIGNAL 9-10/1993 (Dezember 1993), Seite 17