Planung
Planfeststellungsverfahren endlich begonnen, aber Senatsentwürfe sind unakzeptabel.
1. Dez 1993
Fast vier Jahre nach dem Fall der Mauer hat der Verkehrssenator im Sommer 1993 endlich das Planfeststellungsverfahren für eine der wichtigsten Straßenbahnverlängerungen in den Westteil der Stadt eingeleitet. Verlängert werden soll die Tram-Linie 23 von der heutigen Endhaltestelle S-Bf. Bornholmer Straße über die Bornholmer und Seestraße zum Eckernförder Platz. Aber die im Herbst im Rahmen der Bürgerbeteiligung präsentierten Pläne lassen wenig Hoffnung aufkommen, daß die Senatsplaner ernsthaft am Ausbau der Tram interessiert sind. Als sollte der Beweis angetreten werden, daß eine Straßenbahn nicht nach (West-)Berlin paßt, ist die Strecke mit überzogenen technischen und betrieblichen Vorgaben geplant worden. Würde man stattdessen stadtgestalterische und landschaftsplanerische Aspekte - so wie dies in anderen Städte selbstverständlich ist und dort ganz wesentlich zur Akzeptanz der Straßenbahn beiträgt - auch in Berlin berücksichtigen, müßte z.B. nicht ein einziger Baum für diese Tram-Verlängerung fallen. Jetzt aber ist verständlicher Widerstand von Naturschützern und Anwohnern vorprogrammiert.
Um die dringend benötigte Tram-Verlängerung von Prenzlauer Berg nach Wedding schnell realisieren zu können, sind grundlegende Korrekturen an der Senatsplanung erforderlich. Der Berliner Fahrgastverband IGEB fordert deshalb:
Dann kann der Baumbestand in der Grünanlage am Eckernforder Platz unangetastet bleiben. Ob in Los Angeles, Paris, Manchester oder Istanbul: Bei fast allen neu errichteten großstädtischen Straßenbahn Systemen werden Zweirichtungswagen eingesetzt. Nur in Berlin hält man verbohrt am Einrichtungswagen fest, obwohl auch bei allen anderen Tramverlängerungen Probleme mit den Wendeschleifen zu erwarten sind.
Dann kann der hier besonders wertvolle Baumbestand im Mittelstreifen erhalten bleiben. Mehr als drei Abstellgleise sind für einen effizienten Tram-Betrieb ohnehin nicht erforderlich.
Die geplante Baumfällaktion hat ursächlich nichts mit dem Straßenbahnbau zu tun und ist besonders dreist, denn hier soll die Tram dazu benutzt werden, die Leistungsfähigkeit für den Autoverkehr zu erhöhen, und dies soll auch noch die Tram (auch finanziell) angelastet werden!
Während andernorts seit Jahren positive Erfahrungen mit Rasengleisen gemacht wurden und damit die Akzeptanz von Neubaustrecken wesentlich erhöht wurde, werden in Berlin weiterhin Schottergleise geplant. Lediglich auf einem 60 m langen Abschnitt soll das Wachsen des Rasens in Berlin "erprobt" werden.
Dieses Vorhaben ist genauso beispiellos wie überflüssig und für die Gestaltung des Straßenraumes absolut unverträglich.
Diese und weitere Kritikpunkte hat der Berliner Fahrgastverband IGEB dem Verkehrssenator am 15. September in einer ausführlichen Stellungnahme mitgeteilt. Im Rahmen der Bürgerbeteiligung zum Planfeststellungsverfahren schrieb die IGEB u.a.:
Die IGEB befürwortet ausdrücklich die geplante Verlängerung der Straßenbahn über die Bornholmer, Osloer und Seestraße nach Wedding, da durch sie eine entscheidende Lücke im öffentlichen Verkehrsnetz zwischen den beiden Stadthälften geschlossen werden kann. Die für diese Strecke prognostizierten Fahrgastzahlen belegen die Dringlichkeit dieser Verlängerungsstrecke, so daß die Weiterführung des Planfeststellungsverfahrens ohne weitere Verzögerung erfolgen muß und der Bau der Strecke noch vor 1997 abzuschließen ist. Deshalb fordert die IGEB auch, die im vorliegenden Planfeststellungsverfahren nicht berücksichtigte Planung der notwendigen Gleichrichterwerke unverzüglich nachzuholen bzw. die Realisierung durch Plangenehmigung sicherzustellen.
Ein wesentliches Qualitätsmerkmal der Straßenbahn ist ihre Integrierbarkeit in die vorhandene Stadt. Die Renaissance der Straßenbahn ist in vielen Städten nicht zuletzt auf ihre stadträumliche Verträglichkeit zurückzuführen. Dazu sind sowohl unter funktionalen wie auch gestalterisehen Gesichtspunkten in anderen Städten hervorragende Lösungen erarbeitet worden, die jedoch bei den vorliegenden Berliner Plänen insbesondere durch
So liegen bereits seit Ende der 70er Jahre Erfahrungen mit Rasengleisen in zahllosen Städten des In- und Auslandes vor. Die positiven Auswirkungen von Rasengleisen auf die Stadtgestalt und die Schallentwicklung haben überall zu einer erhöhten Akzeptanz von Straßenbahnstrecken geführt, und die von anderen Verkehrsbetrieben als "marginal" bewerteten Mehrkosten machten sich damit bezahlt. Zu der beschriebenen Korrosionsgefahr durch Streuströme bei Rasengleisen wird z.Z. im Auftrag des Bundesverkehrsministeriums ein Forschungsvorhaben durchgeführt, zu dem bereits Zwischenberichte vorliegen. Die sich daraus und aus dem Abschlußbericht ergebenden bautechnischen Empfehlungen sind bei der Anlage von Rasengleisen auch für Berliner Neubaustrecken anzuwenden.
Der Straßenzug Wisbyer, Bornholmer, Osloer, Seestraße weist aufgrund seines breiten Querschnitts und seiner repräsentativen Straßenraumgestaltung einen boulevardähnlichen Charakter auf. Insbesondere durch seine durchgehenden Baumreihen am Fahrbahnrand und im Mittelstreifen stellt er einen homogenen und den Bezirk Wedding prägenden Straßenraum dar, der in seinen Qualitäten weder durch die Straßenbahn noch durch Fahrbahnaufweitungungen gefährdet werden darf - und auch nicht muß. So ist das Abholzen von über 130 Bäumen entlang der geplanten Strecke völlig unnötig: Der Bau der Straßenbahnstrecke wäre auch ohne Baumfällungen möglich, wenn im Entwurf stadtgestalterische und landschaftsplanerische Aspekte hinreichend berücksichtigt worden wären.
Besonders gravierend sind die Eingriffe im Bereich der Abstellanlage am Eckernforder Platz, da hier auf einer Länge von über 150 m beide Baumreihen im Mittelstreifen zugunsten von vier, besonders großem Gleismittenabstand angelegten Abstellgleisen abgeholzt werden sollen. Neben einer Abstellkapazität von vier Zügen in Doppeltraktion (ohne Berücksichtigung der Ankunfts- und Abfahrtsbahnsteige) für zwei Linien wird gleichzeitig dem betrieblichen Sonderfall entsprochen, daß auch bei voller Belegung aller Abstellkapazitäten ein ankommender Zug die pausierenden Züge überholen und sofort wieder zurückfahren kann.
Es muß geprüft werden, ob durch eine Reduzierung des Querschnitts der Gleisanlagen beide Baumreihen erhalten bleiben können. Z.B. dienen die beiden innenliegenden Gleise nur "überholenden" Zügen, so daß keine Ausstiegfläche für Fahrer berücksichtigt werden braucht. Sollte dies nicht möglich sein, muß zugunsten des Erhalts der beiden Baumreihen das vierte Gleis entfallen. Dem oben beschriebenen betrieblichen Sonderfall (Überholen von pausierenden Zügen) kann durch zusätzliche Weichen und entsprechende signaltechnische Ausstattung für einen Zweirichtungsbetrieb des "Ankunftsgleises" entsprochen werden.
Ein erheblicher Teil der Bäume soll zur Steigerung der Leistungsfähigkeit für den Autoverkehr durch Neuanlage von zum Teil doppelten Linksabbiegespuren geopfert werden. Das Fällen dieser Bäume, das nicht im ursächlichen Zusammenhang mit der Straßenbahn-Neubaustrecke steht, wird daher von der IGEB entschieden abgelehnt Bäume sollen auch fallen, weil ohne Rücksicht auf die Örtlichkeit die angestrebte Bahnsteigbreite von 3,5 m zum Dogma erhoben wird: Es würde weder die Fahrgäste noch den Betrieb beeinträchtigen, wenn im Einzelfall unter Rücksichtnahme auf den Baumbestand die Bahnsteigbreite etwas reduziert werden würde. Somit könnten auch alle Baumfallungen im Bereich geplanter Bahnsteige unterbleiben.
Im übrigen weist die IGEB daraufhin, daß bei einer Berücksichtigung von Zweirichtungsfahrzeugen die Errichtung der Wendeschleife in der Grünanlage am Eckernforder Platz entfallen könnte und damit eine höhere Stadtverträglichkeit der Straßenbahn gegeben wäre. Da auch andere geplante Straßenbahn-Verlängerungsstrecken hinsichtlich der Wendeschleifen eine ähnliche Problemlage aufweisen, fordert die IGEB die kurzfristige Beschaffung auch von Zweirichtungsfahrzeugen für die Berliner Straßenbahn, wie sie z.B. in Bochum, Halle oder Frankfurt/Main (hier in vollständiger Niederflurbauweise) bereits verkehren.
Die vorgesehene beidseitige Einzäunung der Strecke durch "Schutzzäune" läßt die Straßenbahnstrecke unnötig zu einer stadträumlichen Barriere für Fußgänger werden und reduziert zusammen mit den geplanten Schottergleisen die stadtgestalterische Verträglichkeit der Neubaustrecke. Sie widerspricht den in anderen Städten vorliegenden Erfahrungen über die Notwendigkeit von Streckeneinzäunungen. So weist keine der in den letzten Jahren gebauten städtischen Straßenbahn-Neubaustrecken im In- und Ausland eine durchgehende Einzäunung auf.
Mit ca. 450 m ist der durchschnittliche Haltestellenabstand ungewöhnlich kurz, was zu einer niedrigen Reisegeschwindigkeit führen wird, wegen der dichten Bebauung und aufgrund der lokalen Gegebenheiten aber vertretbar scheint. Unverständlich ist die Lage der Bahnsteige am U-Bf. Seestraße westlich der Müllerstraße, da somit zur Haltestelle Antwerpener Straße ein Haltestellenabstand von lediglich 267 m, zur Haltestelle Indische Straße aber ein Haltestellenabstand von 625 m (Plan) bzw. 725 m (Erläuterungsbericht) und damit eine unnötige Erschließungslücke entstehen würde. Da sich aus der Umsteigesituation zur U-Bahn keine Präferenz für die Lage der Straßenbahnhaltestellen ergibt, sollten die Bahnsteige zugunsten einer besseren Flächenerschließung auf die Nordostseite der Kreuzung See-/Müllerstraße verlegt werden.
Die Lage des Bahnsteiges Bösebrücke Ost ist nicht sinnvoll, da zukünftig in diesem Bereich kein Zugang zur S-Bahn verbleibt. Vom im Bau befindlichen östlichen S-Bahnsteig Bornholmer Straße wäre auch weiterhin die Straßenbahn-Haltestelle Bösebrücke West die nächstgelegene. Durch die beabsichtigte Auflassung der Haltestelle Björnsenstraße würden sich vielmehr aus den angrenzenden Wohnblöcken unnötig verlängerte Fußwege ergeben. Die IGEB schlägt deshalb die Beibehaltung der jetzigen Bahnsteige unmittelbar östlich der Kreuzung Bornholmer/Bjorsen-/Malmöer Straße vor.
Um den Umsteigeweg zwischen S-Bahn und Straßenbahn zu verkürzen, sollten der Bahnsteig Bösebrücke West und der ampelgeregelte Zugang um mindestens 20 m weiter nach Osten verlegt werden. Zugunsten eines kürzeren Umsteigeweges sollte die hier geplante Kfz-Wendespur ersatzlos entfallen.
Generell sollten alle Bahnsteige von beiden Bahnsteigenden her zugänglich sein. Dadurch erweitern sich nicht nur die Einzugsbereiche der Haltestellen, sondern den Fahrgästen, die in ihrer Mehrzahl ohnehin den kürzesten Weg wählen werden, bleibt das Übersteigen von Zäunen und Schottergleisen erspart. In Frankfurt/Main führte das Bestreben, Fahrgästen und Fußgängern das Überqueren der Gleisanlagen durch Zäune zu verbieten, nach mehreren, nur durch die Zäune verursachten Unfällen inzwischen dazu, daß nachträglich zusätzliche Zugänge an Stadtbahnhaltestellen eingerichtet werden. Ein zweiter Zugang, der übrigens bei Straßenbahnhaltestellen mit keinerlei zusätzlichen Unterhaltskosten verbunden ist, ist daher auch an den Haltestellen Bösebrücke West, Koloniestraße, Reinickendorfer Straße, Antwerpener Straße, Amrumer Straße und Klinikum Rudolf Virchow vorzusehen.
Ferner ist für alle Tram-Haltestellen ein einheitlicher Ausstattungsstandard erforderlich. Dazu gehören z.B. an allen Haltestellen (und nicht nur im "Bedarfsfall") Lautsprecheranlagen, über die die Fahrgäste bei Betriebsstörungen informiert werden können.
Zu der vom Verkehrssenator geplanten Trassierung muß festgestellt werden, daß offenbar vor Kurven keine Übergangsbögen berücksichtigt worden sind. Zugunsten eines höheren Fahrkomforts Ist die Verwendung von Übergangsbögen auch bei der Trassierung von Straßenbahnstrecken üblich und sollte auch in Berlin Standard werden.
IGEB
aus SIGNAL 9-10/1993 (Dezember 1993), Seite 22-25