Planung

Verkehrskonzept für das Parlaments- und Regierungsviertel

Am 5. Oktober 1993 hat der Berliner Senat zur Planung des Öffentlichen Nahverkehrs in Berlin einen Beschluß gefaßt, der verhängnisvolle Folgen für die Stadt hat und den Umzug von Parlament und Regierung nach Berlin um Jahre verzögern, wenn nicht sogar ganz verhindern wird. Der Berliner Fahrgastverband IGEB e.V. hat die sachliche Kritik an der katastrophalen Fehlentscheidung des Berliner Senats zusammengefaßt und im Oktober '93 ein Verkehrskonzept für das Parlaments- und Regierungsviertel vorgestellt, das im Gegensatz zu den Senatsplänen bis 1998 vollständig realisierbar und vor allem finanzierbar ist. Nachfolgend dokumentieren wir Auszüge aus diesem Konzept.


IGEB

1. Dez 1993

Der Senatsbeschluß vom 5. Oktober 1993 enthält die folgenden Zielvorgaben:

Der Schienenverkehr zwischen Berlin und dem Umland wird vom Senat als gänzlich unwichtig erachtet. Obwohl dort aufgrund der Teilung der Stadt der größte Nachholbedarf besteht und die größten Zuwächse im Gesamtverkehr erwartet werden, will der Berliner Senat den dringend notwendigen Ausbau zu einem leistungsfähigen Regionalschnellbahnnetz weder fördern noch unterstützen. Dabei wird übersehen, daß die kommende Bahnreform ein Engagement des Landes für diese Strecken fordert. Es ist zu befürchten, daß der Senat bewußt auf die Stillegung nicht modernisierter Regionalbahnstrecken hinarbeitet, um den bisher in der Bevölkerung nicht mehrheitsfähigen massiven Straßenneu- und Ausbau zu forcieren. Auch Modernisierung und Neubau von attraktiven Regionalbahnfahrzeugen will der Senat in den nächsten zehn Jahren nicht fördern.

Bei der Straßenbahn werden Bedeutung und Potential weiterhin ignoriert. Straßenbahn-Neubaumaßnahmen machen nur etwa 5% des Milliarden-Paketes aus. Sogar die Finanzierung der Grundinstandsetzung ist gefährdet. Damit besteht die Gefahr, daß wegen des schlechten Streckenzustandes massive Stillegungen bereits 1994 erfolgen müssen. Den dringend erforderlichen Kauf neuer Niederflur-Straßenbahnen, den die BVG mangels eigener Gelder nicht finanzieren kann, will der Senat ebenfalls nicht unterstützen. Somit stehen einem Bedarf von 600 Neubaufahrzeugen ganze 29 verbindlich bestellte Wagen gegenüber. Die Altbauwagen mit Fahrgestellen aus der Kaiserzeit werden also noch solange weiterfahren, bis die Strecken, auf denen sie eingesetzt sind, stillgelegt werden.

Die dringend erforderliche Beschleunigung des Busverkehrs wird nicht durchgeführt, da der Senat von Berlin für diese Zwecke bis 2002 nicht eine Mark ausgeben will. Somit sind weitere Betriebseinschränkungen und Fahrplanausdünnungen absehbar, da die BVG mit immer stärker steigenden Betriebskosten durch Staus belastet wird.

Nahezu alle verfügbaren Mittel sowie weitere Zuschüsse des Bundes will der Berliner Senat in das ohnehin am besten ausgestattete Verkehrsmittel, die U-Bahn, stecken, obwohl zugunsten der U-Bahn bereits erhebliche Festlegungen in Milliardenhöhe für neue Fahrzeuge und Signalanlagen getroffen wurden. Die Kritik an den U-Bahn-Vorhaben im einzelnen:

U5 Lehrter Bahnhof - Alexanderplatz

Der Netzeffekt durch diese über 1500 Millionen DM teure Strecke ist gering. Es besteht Parallelverkehr zur S-Bahn-Linie 5 über viele Kilometer. Den vorhandenen Umsteigebahnhöfen zwischen S5 und U5, Wuhletal, Lichtenberg und Alexanderplatz, soll nun ein vierter, der Lehrter Bahnhof, hinzugefügt werden.

Im Planungsgebiet ist dagegen die Flächenerschließung dringend verbesserungsbedürftig. Dies kann durch Straßenbahnstrecken viel besser geleistet werden, weil bei den typischerweise kurzen Wegen in der Innenstadt die vermeintlich höhere Geschwindigkeit der U-Bahn wegen der langen Fußwege durch Tunnel, über Treppen und durch Gänge zu den Bahnsteigen wieder aufgewogen wird. In die Straßenbahn ist es nur ein Schritt!

Das Vorhaben der U5 konnte in der standardisierten Bewertung nur deshalb positive Kosten-/Nutzen-Werte erzielen, weil der Senat das derzeit vorhandene Straßenbahnnetz fast ohne Verlängerungen zugrundegelegt hat. So wurde eine Verlängerung der Straßenbahn nur bis zum Zentralbahnhof angegeben. Hätte der Senat, wie bisher geplant, eine Verlängerung bis U-Bhf. Turmstraße eingegeben, hätte die U5 eine wesentlich schlechtere Bewertung erhalten.

Bei Verlängerung der U5 ergeben sich für die BVG eine Reihe betrieblicher Probleme, die, wie heute bei der U7, zu ständigen Unregelmäßigkeiten im Zugverkehr führen würden. Daher hat auch die BVG bereits alternative Lösungen, die eine Verlängerung der U5 vermeiden, erarbeitet.

U3-Vorleistungen Potsdamer Platz/Leipziger Straße

Hierbei handelt es sich um pure Geldverschwendung für ein Bauvorhaben, das nie realisiert wird. Die Strecke Wittenbergplatz - Malchow soll etwa 3000 Millionen DM kosten. Auf 80% der Strecke fährt bereits eine stark frequentierte Straßenbahn, die mit 2% dieser Summe auf Stadtbahnstandard umgebaut werden könnte.

Tram vor dem österreichischen Bundesparlament. In der Hauptstadt Wien verbinden die Tramlinien auf dem Ring Parlament, Kanzleramt und zahlreiche Ministerien. Foto: Jonas Ziegler

Aufgrund solcher Vorsorgeplanungen, die sich bisher stets als Fehlplanungen des Berliner Senats erwiesen haben, gibt es bereits fast ein Dutzend Investitionsruinen für angefangene U-Bahn-Tunnel im Berliner Untergrund, die niemals mehr benutzt werden. Die jüngste, gerade abgeschlossene Fehlplanung ist die 100 Millionen DM teure Ausfädelung der U2 am U-Bhf. Vinetastraße zu einer Betriebswerkstatt, die wohl nie gebaut werden wird.

Der U-Bahn-Tunnel unter der Leipziger Straße wird zudem nur geplant, weil der Senat beschlossen hat, auf der ganzen Länge der Leipziger Straße vier durchgehende Fahrspuren und zwei durchgehende Parkspuren für den motorisierten Gelegenheits-Individualverkehr zu bauen. Bei dieser Maximalplanung bleibt für die Straßenbahn kein Platz mehr. Im Endeffekt kosten die 60 kostenlosen Parkplätze, die dort die oberirdische Führung der Straßenbahn verhindern, pro Stück 8,3 Mio DM.

U7 Rudow - Flughafen Schönefeld

Am Flughafen Schönefeld ist ein IC-, IR-, R- und S-Bf. bereits vorhanden und stark frequentiert. Die S-Bahn von Lehrter Bahnhof - Friedrichstraße nach Schönefeld ist bereits in Betrieb. Die S-Bahn von Westend - Schöneberg - Papestraße nach Schönefeld wird in Kürze in Betrieb sein. 300 m Weg zwischen Bahnhof und Terminal rechtfertigen ein Laufband, aber keine 4,7 Kilometer U-Bahn.

Eine weitere Verlängerung der U-Bahn-Linie 7, die schon jetzt eine der längsten Linien Europas ist (mehr als 30 km), würde chaotische Betriebszustände, wie sie wegen der großen Länge bereits jetzt zeitweise vorkommen, zum Dauerzustand machen. Daher ist auch die BVG gegen jede weitere Verlängerung dieser Linie.

U2 nach Pankow, Kirche

Die Verkehrsbeziehung Alex - Pankow wird nur vermeintlich verbessert, da heute bereits für fast alle U2-Bahnhöfe eine direkte umsteigefreie Straßenbahnführung nach Pankow besteht. Die Geschäftsleute in der Schönhauser Allee fordern vehement - wie in anderen Geschäfts- und Einkaufsstraßen auch - den Ausbau der Straßenbahn. Sie bringt den Einkaufsverkehr in die Schönhauser Allee, während die U-Bahn ihn abzieht.

Fahrgäste aus den drei Nordrichtungen Rosenthal, Niederschönhausen und Buchholz können in Pankow in die Nord-Süd-S-Bahn, an der Vinetastraße in die U-Bahn und an der Schönhauser Allee in den Ring umsteigen. S-Bahn-Fahrgäste aus Blankenburg und Karow können ihre Ziele in der Schönhauser Allee mit der Straßenbahn erreichen. Weiterer Bedarf besteht nicht.

Dennoch wird vermehrt eine kurzfristige Realisierung dieser wegen der S-Bahn-Unterquerung besonders teuren U-Bahn-Verlängerung gefordert, vor allem aus den Reihen von PDS und SPD. Hierbei geht es ganz offensichtlich weniger um richtige Prioritäten beim Ausbau des öffentlichen Verkehrs, sondern um die Stimmen der Pankower Wähler.

U5 Jungfernheide - Flughafen Tegel

Der Senat behauptete bisher stets, Tegel solle geschlossen werden, wenn der Großflughafen Berlin-Brandenburg-International fertiggestellt ist. Bahnt sich hier eine neue Senatslüge an? Die extrem hohen Kosten stehen im krassen Mißverhältnis zu den Fahrgastzahlen, da der Hauptverkehr zwischen Reinickendorf und Charlottenburg nicht im geringsten von der Stichstrecke profitiert. Die Stummellinie mit zwei neuen Stationen ist betrieblich kaum in das Schnellbahnnetz zu integrieren. Selbst die Senatsverkehrsverwaltung hat dazu festgestellt, daß "diese Anbindung für den Fluggast unattraktiv ist, da er die City nur durch mehrmaliges Umsteigen erreicht".

Fazit der Senatsplanung

Mit Milliardenbeträgen werden nur minimale Verbesserungen des Öffentlichen Nahverkehrs erzielt. 80% der Verkehrsträger bleiben unberücksichtigt. Das Zusammenwachsen von Ost und West findet bisher und auch weiterhin nur auf der Straße statt. Den weit über 100 Straßenverbindungen stehen weniger als zehn Schienenverbindungen gegenüber. Im Öffentlichen Nahverkehr hält der Senat Honeckers Mauer weiter aufrecht. Bürger und Investoren werden nach wie vor über Absichten der Verkehrsplanung getäuscht. Z.B. sind die Investoren am Potsdamer Platz, insbesondere Daimler Benz, sehr irritiert, daß aus heiterem Himmel auf eine fest eingeplante S-Bahn-Linie (S 21) verzichtet wird, weil plötzlich kein Geld mehr da war und eine scheinbar unumstößliche Planung über Nacht gekippt wurde. Z.B. wurde den Investoren an der Friedrichstraße die Verlängerung der Straßenbahn durch die Friedrichstraße für 1995 versprochen. Dabei ist dies erst nach Neubau des Bahnhofs Französische Straße (U6/U5) möglich. Somit verzögert sich diese Straßenbahnlinie bis nach 2000.

Verkehrskonzept für das Parlaments- und Regierungsviertel

Ein glaubwürdiges Verkehrskonzept muß folgende Voraussetzungen erfüllen: Es muß preiswert sein. Die Finanzierung muß aus den Berlin ohnehin zustehenden Geldern ohne weitere Bettelei in Bonn möglich sein. Bis 1998 müssen alle Projekte fertiggestellt sein. Es ist für Berliner, Bundestagsabgeordnete und Regierungsangestellte unzumutbar, weitere zehn Jahre auf einer Baustelle zu leben. Das Parlaments- und Regierungsviertel muß in allen Richtungen auf der Schiene an Fernverkehrsmittel, Wohnungen und Einkaufsstraßen angebunden werden. Dabei muß modernste umweltfreundliche und sichere Nahverkehrstechnik (elektrisch, oberirdisch, schnell, leise, stufenloser Einstieg) als Vorbild für Deutschland genutzt werden. Im einzelnen werden folgende Linien für das Parlaments- und Regierungsviertel vorgeschlagen:

Parlamentslinie

Linienführung: (Buchholz Nord) - Bahnhof Friedrichstraße - Spreeufer - Reichstag - Potsdamer Platz - Bülowstraße - Kleistpark - Innsbrucker Platz - Schloßstraße - Steglitz. Diese Linie verbindet das Parlament mit Wohngebieten im Norden und Süden; sie ersetzt den Zentralbahnhof durch eine kurze Schienenanbindung des Parlaments- und Regierungsviertel an den Fernbf. Friedrichstraße. Länge 9 km, Kosten 72 Mio DM, Fahrzeit Reichstag - Steglitz 14 min.

Kanzlerlinie

Linienführung: Alexanderplatz - Palast der Republik - Unter den Linden - Kanzleramt - Tumstraße - Mierendorffplatz - Kaserne Napoleon (Außenministerium) - Kurt-Schumacher-Platz - Wittenau - Rosenthal mit Stichlinie zum Flugfeld Tegel. Diese Linie verbindet das Zentrum und wichtige Ministerien mit Wohngebieten im Norden und dem derzeitigen Flughafen. Bei der Straßenbahn ist eine flexible Nachnutzung zur Erschließung des Wohngebietes nach Schließung des Flughafens im Gegensatz zur U-Bahn ohne Probleme möglich. Länge 20,75 km, Kosten 166 Mio DM, Fahrzeit Kanzleramt - Flugfeld Tegel 16 min.

Präsidentenlinie

(Vorhandenes Netz) - Invalidenstraße - Moabiter Werder - Schloß Bellevue - Wittenbergplatz - Zoo. Diese Linie verbindet in Ost-West-Richtung Regierungsbauten; sie verknüpft Beamtenwohnungen mit Einkaufsmöglichkeiten und dem Fernbahnhof Zoologischer Garten. Länge 5,5 km, Kosten 44 Mio DM, Fahrzeit Moabiter Werder - Wittenbergplatz 9 min.

Ministerlinie

Prenzlauer Tor - Alexanderplatz - Leipziger Straße - Haus der Ministerien - Potsdamer Platz - Lützowstraße - Budapester Straße - Zoo. Diese Linie stellt die zweite große Ost-West-Achse dar. Zusammen mit der Präsidentenlinie macht sie die Verlängerung der U5 überflüssig. Sie verknüpft Ministerien mit Hotels und Verwaltungen und erschließt wichtige Innenstadtwohnbereiche. Länge 6,5 km, Kosten 52 Mio DM, Fahrzeit Wirtschaftsministerium - Bahnhof Zoo 12 min.

Die Gesamtkosten für alle Linien betragen mit ca. 450 Mio. DM weniger als ein Viertel der Senatsplanungen. Zugleich wird das Berliner Straßenbahnnetz um mehr als 50 Kilometer erweitert.

IGEB

aus SIGNAL 9-10/1993 (Dezember 1993), Seite 26-27