Nahverkehr
Straßenbahn für ganz Berlin - daran glaubten bis vor kurzem sicherlich nur wenige. Daß die Straßenbahn mit all ihren Vorzügen in Charlottenburg wieder genauso selbstverständlich wird wie in Köpenick - das zeigen Holger Orb und Tilo Schütz mit ihrem integrierten Nahverkehrskonzept, das erstmals seit der Wende ein gesamtberliner Straßenbahnnetz entwickelt. Die weit vorausschauende Vision dient vor allem dazu, Politik, Planung und BVG eine Perspektive für den Aufbau eines integrierten Verkehrsnetzes aufzuzeigen.
1. Mai 1999
Das Konzept „Straßenbahn für ganz Berlin" ist im Rahmen des Studiengangs Stadt- und Regionalplanung an der TU-Berlin als selbstbestimmtes Studienprojekt von Holger Orb und Tilo Schütz erarbeitet worden. Ziel ist es, ein integriertes, auf die Gesamtstadt bezogenes Nahverkehrskonzept zu entwickeln, das sich nicht nur in schematischen Aussagen über erwünschte Streckenverlängerungen erschöpft, sondern in städtebaulicher, netztechnischer und betrieblicher Hinsicht ein zunächst in sich geschlossenes System ergibt, um daraus dann sinnvolle Entwicklungsstufen ableiten zu können.
Netztechnische Planung und städtebauliche Gestaltung hängen in vielerlei Hinsicht voneinander ab und sollten nicht isoliert betrachtet werden. Die Straßenbahn prägt mit ihren baulichen Anlagen nachhaltig das Straßenbild. Dies sehen wir als Chance, in vielen Stadtbereichen die Zerstückelung der öffentlichen Räume aufzuheben, die Stadtstruktur wieder erleb- und erfahrbar zu machen und somit eine Reurbanisierung von Stadträumen einzuleiten.
Ein erster Blick auf den Linienplan zeigt, daß Berlin in netztechnischer Hinsicht immer noch geteilt ist. Während im Westen die Farben blau und violett dominieren, sind es im Osten rot und grün. Wie so vieles ist dies Ergebnis der teilungsbedingten Nachkriegspolitik. Bis in die 50er Jahre verfügte Berlin über ein flächendeckendes Straßenbahnnetz. In den 50er Jahren entschloß man sich jedoch, Autostraßen- und U-Bahnbau zu forcieren. Die Straßenbahn wurde - ohne einen demokratischen Beschluß zu fassen - abgeschafft. Eine technokratische Verkehrsplanung nahm auf den Ort und seine jeweilige Gegebenheit keine Rücksicht mehr, die Folge war eine nachhaltige Zerstörung der Stadtstruktur. Der Vergleich von Karten und Bildern aus den 50er und 60er Jahren mit dem heutigen Zustand dokumentiert den Verlust der stadträumlichen Qualitäten und die Vorherrschaft des Autos. Er lieferte Anregungen für die städtebauliche Detailierung. Dabei gilt es, auf den jeweiligen Ort und seine Qualitäten Rücksicht zu nehmen und genau abzuwägen, wie die Straßenbahn an die vorhandene Stadt angepaßt werden kann. „Straßenbahn für ganz Berlin" aber auch deshalb, weil es so wie es ist, nicht weitergehen kann. Der in den 50er und 60er Jahren in West-Berlin aufgeblähte Busverkehr überschreitet in vielen Bereichen die Grenzen eines wirtschaftlich vertretbaren Angebots, allein vom Fahrgastaufkommen sind die Hälfte der West-Berliner Buslinien straßenbahnwürdig. Somit entspricht das heutige Verkehrsnetz oftmals noch den Zuständen zu Zeiten der Teilung. Oberirdische, umsteigefreie Verbindungen sucht man oftmals vergebens, in der Innenstadt läuft man lieber gleich zu Fuß.
Die Ableitung des Straßenbahnnetzes ergab sich aus der Stadtstruktur, der polyzentralen Gliederung Berlins. So gibt es, analog zur Stadtstruktur, neun Netzbereiche, die vielfach ineinandergreifen. Sie erschließen die Stadtteile in sich selbst und überlappen sich in wichtigen Straßenzügen, so daß dichte Takte entstehen. Die zahlreichen Teilzentren werden so mit ihrem Einzugsbereich und auch untereinander verbunden. Die Teilnetze bedingen auch betriebliche Notwendigkeiten, da die einzelnen Linien bestimmte Längen nicht überschreiten sollten.
Die Frage der Streckenführung ergab sich im wesentlichen ebenfalls aus der Stadt, nämlich aus dem Netz der öffentlichen Räume bzw. aus der Nutzung der städtischen Teilbereiche und Straßenzüge. Die verkehrliche Bedeutung übergeordneter Straßen wie des Generalszuges oder der Heerstraße ist offensichtlich, sie verbinden städtische Orte untereinander. Andere Straßen, wie z.B. die Spandauer Altstadt, sind auch Ziele des Verkehrs, sie wollen erreicht (also erschlossen) werden, solche Straßen sind straßenbahnwürdig. Für ausgewählte Strecken wurden zudem Analysen des bisherigen Busplatzangebots anhand der aktuellen Kursbuchtabellen durchgeführt. Sie bildeten die einzig zuverlässige Datenquelle, da andere Zahlen nicht zugänglich waren. Weitere Zwangspunkte ergaben die vorhandenen U-Bahn-Strecken sowie städtebauliche Gegebenheiten, die dazu führten, in bestimmten Fällen auf die Anlage von Strecken zu verzichten. Parallelverkehre erklären sich im wesentlichen aus der übergeordneten Bedeutung der Straßenzüge (z.B. Handel), die über bestimmte Abschnitte notwendig sind, um die Attraktivität des Gesamtstraßenbahnnetzes (umsteigefreie Verbindungen, Kurzstreckenrelationen) zu gewährleisten.
Insbesondere im Innenstadtbereich finden die meisten Fahrten im Bereich unter sechs Kilometern statt, so daß sie mit der U-Bahn oftmals nur unzulänglich zu bewältigen sind. Trotz niedrigerer Durchschnittsgeschwindigkeit kann die Straßenbahn dort mit gut erreichbaren Haltestellen und umsteigefreien Verbindungen schnellere Gesamtfahrzeiten garantieren und das subjektive Fahrgefühl erheblich steigern. Die Kriterien waren also meist qualitativer Art, da nur diese oftmals gesichert abzuleiten waren.
Für die städtebauliche Gestaltung wurden Grundsätze aus der Forschungsarbeit abgeleitet und in jeweils auf den Ort bezogenen Entwürfen in die Stadtkarte 1:1000 eingearbeitet. Die Einführung der Straßenbahn und die Gestaltung des öffentlichen Raumes bieten die Chance, den vom Autoverkehr zernagten Straßenräumen wieder ein allen Nutzern gerechtwerdendes Erscheinungsbild zu geben. Dazu gehören eine übersichtliche und langlebige Straßenraumgestaltung und die Umverteilung der Autoverkehrsflächen zugunsten von Fußgängern, Radfahrern und öffentlichem Nahverkehr. Dennoch hat sich auch die Straßenbahn den städtebaulichen Gegebenheiten anzupassen. Straßenbündige Anlagen sind deshalb selbstverständlicher Bestandteil des neuen Netzes. Im Endzustand, nach einem Zeithorizont von ca. 35 Jahren, könnte das Netz 60 Straßenbahnlinien haben. Von den heute etwa 160 Buslinien könnten ca. 60 entfallen.
Von der weit entfernten Vision lassen sich dennoch konkrete, schon in naher Zukunft zu realisierende, Stufen ableiten, sieben sind insgesamt vorgesehen. Für die aktuelle Diskussion sind die ersten drei Stufen von großer Bedeutung. Oberste Priorität sollte der Bau der Ost-West-Verbindung über Französische Straße - Tiergartenstraße zum Zoo haben. Ebenso wichtig ist die Erschließung des Regierungsviertels, also die Schließung des kleinen Rings über Lehrter Bahnhof - Potsdamer Platz - Hallesches Tor - Hermannplatz. Diese Strecken könnten bis 2003 realisiert sein. Bis 2005 sollte dann die Strecke nach Moabit sowie die Verlängerung vom Virchow-Klinikum zum Zoo folgen. Bis zur Stufe 2 wird die Innenstadt fast flächendeckend erschlossen, in Stufe 3 folgt dann der Aufbau und die Anbindung des Spandauer Netzes. Alternativ wäre auch die Einrichtung eines Spandauer Inselnetzes schon ab der 1. Stufe möglich, der jedoch zunächst auf Kosten des Innenstadtnetzes ginge (Netzverbindung in Stufe 3).
Die gesamte erste Stufe umfaßt eine Streckenlänge von ca. 50km, die für ca. 1 Mrd DM zu realisieren wäre. Zum Vergleich: die geplante U5 wird ca. 1,8 Mrd DM kosten.
Von der Durchsetzung dieser Strecken hängt nicht zuletzt auch die weitere Entwicklung des Netzes ab. Die Straßenbahn durch das Regierungsviertel, am südlichen Tiergartenrand oder durch den Görlitzer Park zu führen bedeutet zunächst, vorhandene Widerstände abzubauen, um die „Knackpunkte" zu lösen. Sollte dies gelingen, dann wird die „Straßenbahn für ganz Berlin" zum Selbstläufer werden.
Nun gilt es, eine breite öffentliche Diskussion ins Leben zu rufen. Mit der Wiederbelebung der „AG Straßenbahn" unter Beteiligung des BUND, der IGEB, der BIW, des Moabiter Ratschlags und des VCD soll das Thema Straßenbahn für ganz Berlin wieder auf die Tagesordnung gesetzt werden. Dazu sind vor den Wahlen Ausstellungen und Diskussionen in den Innenstadtbezirken geplant. Im Frühsommer wird dazu eine umfassende Dokumentation erscheinen, um allen Interessierten den Einblick in die Konzeption zu ermöglichen.
Kontakt über den BUND, Tel. 78790017 bzw. e-mail StraBerlin@aol.com.
Holger Orb, Tilo Schütz,
TU-Berlin, Institut für Stadt- und Regionalplanung
aus SIGNAL 2-03/1999 (April/Mai 1999), Seite 12-13