Reise & Bericht
Bis zum letzten Fahrplanwechsel gab es noch eine Direktverbindung von Berlin nach Bydgoszcz, dem ehemaligen Bromberg in Pommern bzw. Westpreußen. Mittlerweile enden alle Regionalbahnen in dem polnischen Kostrzyn, nur wenige Kilometer hinter dem Bahnhof Küstrin-Kietz. Dennoch lohnt sich eine Fahrt dorthin. Denn: Der Weg ist das Ziel!
1. Dez 1999
Wie nennt man es, wenn jemand freiwillig fünfeinhalb Stunden im Zug verbringt, um dann etwas mehr als drei Stunden Zeit für seinen eigentlichen Zielpunkt zu haben? Verrückt? Idiotisch?
So einfach die Antwort auf den ersten Blick auch zu sein scheint, jeder wird der scheinbar sehr langen Fahrzeit eine andere Bedeutung beimessen. Warum kann denn nicht schon die Reise an sich das Ziel darstellen, das mit dem Erreichen des gewünschten Ortes nur noch gekrönt werden kann? Wer neugierig seine Blicke aus dem Zugfenster streifen läßt, begibt sich unbewußt auf eine kleine Reise durch Raum und Zeit.
Liebe Mitreisende, finden Sie sich jetzt also gedanklich auf dem Bahnhof Lichtenberg ein, denn schließlich wird unser Zug gegen halb Acht seine Motoren aufheulen lassen und dann mit uns in Richtung Osten entschwinden. Hinter Strausberg nach zwanzigminütiger Fahrzeit verlassen wir den Moloch Berlin endgültig. Die Gleise unserer geliebten S-Bahn begleiten uns noch ein kurzes Stück, um dann in einem Einschnitt „Ade" zu sagen. Doppel-Telegrafenmasten aus Opas Zeit werden nun beim Heraussehen sichtbar.
Die alten Empfangsgebäude in Müncheberg und Gusow grüßen uns, während wir sie ohne Halt hinter uns lassen. Wer genau hinsieht, kann noch den Rest der Kilometerangabe bis Küstrin erkennen, wobei diese Zahl nicht den heutigen deutschen Teil Kietz meint, sondern sich auf den Neustädter Bahnhof bezog, der uns jetzt unter dem Namen Kostrzyn besser bekannt ist.
Die vorbeieilende, sehr friedlich dreinblickende Landschaft zwischen Seelower Höhen und der Oder erlangte 1945 traurige Bekanntheit. Das Oderbruch, einst der „Gemüsegarten" Berlins, wurde zu einem der größten Schlachtfelder des Zweiten Weltkrieges. Auch die nächste Station unseres Zuges, nämlich die Stadt Kostrzyn, wurde durch das Militär geprägt. Unter dem Markgrafen Johann von Brandenburg entstand am Zusammenfluß von Oder und Warthe zwischen 1535 und 1568 eine große Festungsanlage, die unter dem großen Kurfürsten weiter ausgebaut wurde. Teile der alten Verteidigungsanlagen wurden in der Weimarer Republik an die Stadt verkauft und geschleift. Während der NS-Zeit entstanden weitere Kasernenbauten. Doch nach dem Ende der NS-Terrorherrschaft folgte auch das Ende der alten Stadt Küstrin. Die bis dahin noch völlig unzerstörte Stadt wurde Ende Januar 1945 zur Festung erklärt und aufgrund der Kampfhandlungen zwischen Wehrmacht und Roter Armee bis zum März dem Boden gleichgemacht. Nach dem Krieg kam das Gebiet des Stadtzentrums mit der Alt- und Neustadt zu Polen, während die Vorstädte westlich der Oder in Deutschland verblieben. Die frühere Altstadt wurde zum „Steinbruch" degradiert und geriet anschließend in Vergessenheit. Mittlerweile wurden alle Straßen und viele Gebäudereste freigelegt. Das Gelände zwischen Berliner und Kietzer Tor wurde so zum „Freilichtmahnmal" gegen den Krieg.
Unsere Reise geht weiter: Nach vierzig Minuten Fahrzeit erreichen wir Gorzow, das frühere Landsberg/Warthe. Der dortige Straßenbahnbetrieb feierte im Juli seinen hundertsten Geburtstag. Ursprünglich war hier die komplette Umstellung auf den O-Bus vorgesehen, konnte aber wegen Mangelwirtschaft Anfang der vierziger Jahre nicht mehr vollständig realisiert werden. Der O-Bus-Betrieb wurde nach Kriegsende wieder aufgenommen, aber später zugunsten des Straßenbahn-Ausbaus eingestellt.
Kurz nachdem unser Zug den Bahnhof wieder verlassen hat, können wir auf der linken Seite noch einen Blick auf das Stadtzentrum mit dem Dom zur Allerheiligsten Jungfrau Maria werfen. Bis zur Ortschaft Santok verläuft die Bahnstrecke parallel zur Warta (Warthe).
Nach einiger Fahrzeit erreichen wir den Bahnknoten Krzyz. Hier trifft sich die alte Ostbahn mit der Hauptstrecke Poznan-Szczecin, die das Oberschlesische Industriegebiet mit der Ostsee verbindet. Mit etwas Glück sieht man hier noch den Schornstein einer Dampflok rauchen.
Während des etwa zehnminütigen Aufenthalts für den Lokwechsel besteht Gelegenheit, sich das alte Empfangsgebäude anzusehen, das seine preußische Vergangenheit nicht leugnen kann. Auf dem Bahnsteig befindet sich sogar noch ein Gullydeckel aus der Zeit von Wilhelm Zwo!
Inzwischen hat sich der Zug mit Fahrgästen deutlich gefüllt und setzt seine Fahrt fort. Links biegt die erst seit 1873 komplett befahrbare Strecke nach Tczew (ehemals Dirschau) ab. Dieser Streckenabschnitt ist heute noch zu großen Teilen eingleisig.
Hinter der Stadt Wyrzysk erreichen wir nun die Woiwodschaft Bydgoskie. Von hier sind es noch vierzig Kilometer bis zu unserem Ziel. In Naklo wird noch ein Zwischenstop eingelegt. Eisenbahnfreunden ist vielleicht das frühere Schmalspurbahn-Netz mit seiner 600 mm Spurweite ein Begriff, das sich hier verzweigte und noch teilweise bis 1992 betrieben wurde.
Nach über dreihundert Kilometern und fünfeinhalb Stunden Reisezeit wird der Hauptbahnhof von Bydgoszcz erreicht. Ein kleiner Blick in die Geschichte: Die Stadt wurde im Jahr 1346 unter der Herrschaft von König Kasimir dem Großen gegründet. Aufgrund der Lage an wichtigen Handelsstraßen wuchs ihre Bedeutung. Den Niedergang erlebte die Stadt durch starke Zerstörungen während des Krieges gegen die Schweden (1655 bis 1660) und die dadurch begünstigte Ausbreitung der Pest. 1772 erfolgte die Eroberung durch preußische Truppen. Ein erneuter wirtschaftlicher Aufschwung erfolgte durch den bis 1774 vollendeten Bromberger Kanal (heutiger Kanal Bydgoski), der es ermöglichte, Waren und Rohstoffe von der Weichsel bis zur Oder und auch darüber hinaus zu transportieren. Noch heute hat diese Wasserstraße für den nationalen und internationalen Verkehr eine große Bedeutung. Wiederum hundert Jahre später war die Stadt zu einem bedeutenden Eisenbahnknoten geworden.
Zu großen Veränderungen kam es nach dem Ersten Weltkrieg, als viele Grenzen in Europa neu gezogen wurden. Bydgoszcz, wie es fortan hieß, gehört seit 1920 zur Republik Polen und wurde als Folge des Hitler-Stalin-Paktes zwischen 1939 und 1945 von deutschen Truppen besetzt.
Nach dem Krieg wurde Bydgoszcz Hauptstadt einer gleichnamigen Woiwod schaft. Mit dem Fall des „Eisernen Vorhangs" wurde die Stadt zu einem wichtigen Wirtschafts- und Handelsstandort. Zahlreiche Bankhäuser und Messen künden von dieser neuen Zeit. Zu den wichtigsten Arbeitgebern gehört das Eisenbahn-Ausbesserungswerk, die Kabelwerke und die Chemische Industrie. Nach diesem Einblick verlassen wir das Empfangsgebäude.
Gleich gegenüber des Bahnhofs befindet sich die Stadtinformation („iT"), in der man sich nach Hotels und den örtlichen Sehenswürdigkeiten erkundigen kann. Des weiteren gibt es hier eine große Auswahl von diversen Broschüren, Büchern und Postkarten. Wer noch etwas Probleme mit der polnischen Sprache haben sollte, kann sich bei Bedarf hier auch in Englisch verständigen.
Wir folgen nun der ulica Dworcowa (Bahnhofstraße) in das Stadtzentrum. Die Straßenbahn fährt den Hauptbahnhof leider nicht mehr an. Nach ein paar Minuten Fußweg sehen wir auf der rechten Seite ein imposantes rotes Backsteingebäude. Hier war einst der Sitz der Eisenbahndirektion. Noch heute ist hier die PKP vertreten.
Nach ungefähr zehn Minuten Fußweg ist mit der ulica Gdanska die Haupteinkaufsstraße im Stadtzentrum erreicht. Wir halten uns links und erreichen den plac Wolnosci mit seinem im Jugendstil errichteten Gebäuden. Interessant ist ein Spaziergang entlang der ulica Gdanska in Richtung Altstadt.
Besondere Beachtung verdient das Haus mit der Nummer 14, das Hotel „Pod Odern" (Zum Adler), das inzwischen auf die am Ende des letzten Jahrhunderts entstanden sind. Hier befindet sich auch die im gotisch-renaissancistischen Stil errichtete Klarissenkirche (entstanden 1592 bis 1602).
Jetzt ist es nur noch ein Katzensprung zur Keimzelle der Stadt, dem Stary Rynek (Alter Markt) mit den angrenzenden, überwiegend aus Altbauten bestehenden Seitenstraßen. Hier erinnert ein Denkmal an die Ereignisse im September 1939, dem berüchtigten „Bromberger Blutsonntag". Während des Rückzuges der polnischen Armee kam es unter bis heute noch nicht ganz geklärten Umständen zu Übergriffen auf die deutschstämmige Bevölkerung, denen etliche Menschen zum Opfer fielen. Nach dem Einmarsch der faschistischen Wehrmacht wurde dies zum Anlaß genommen, nun unter den polnischen Bewohnern der Stadt ein Blutbad anzurichten, die nach der grausamen NS-Idologie Untermenschen waren.
Gerade der deutsche Überfall auf unser östliches Nachbarland vor sechzig Jahren sollte für uns ein Anlaß sein, hinter solchen „schönen Worten" wie „Blitzkrieg" oder „chirurgischer Eingriff" stets das Leid der beteiligten Bevölkerung zu sehen.
Sind Sie neugierg auf das Land östlich der Oder geworden? Weitere Informationen erhalten Sie beispielsweise beim Polnischen Fremdenverkehrsamt am Wittenbergplatz (Tel. 030/2 10 09 20).
Frank Lammers, Magdeburg
aus SIGNAL 8-09/1999 (Dezember 1999), Seite 29-31