Akte Y

Der Wahnsinn Einzelner oder Wie der Berliner Haushalt saniert wurde


IGEB

1. Jul 2000

Wütend knallte Mully einen Packen Faxe auf den Tisch. „Was haben Sie sich denn dabei gedacht ?!" fauchte sie.

Sculder setzte sein unschuldigstes Gesicht auf, und blickte sie an. „WOBEI habe ich mir WAS gedacht ?" Das war natürlich nur gespielt, denn ein kurzer Blick auf den Papierstapel hatte ihm gezeigt, worum es ging. Es war seine Presseerklärung von heute morgen und die Interviewanfragen der Presse.

„Sind Sie möglicherweise krank ? Überarbeitet ?" - „Oder ein Genie ?", ergänzte Sculder die Fragen seiner Partnerin und ein selbstgefälliges Grinsen erschien auf seinem Gesicht. „Ich glaube, ich bin letzteres. Ja, ich bin genial."

Mully blieb der Mund offen stehen. Sie mußte sich hinsetzen. „Also das erklären Sie mir mal bitte. Ich wüßte nicht, was genial daran ist, eine Presseerklärung mit dem Titel 'U-Bahnbau saniert Berliner Landeshaushalt — 500 km-Netz muß sofort realisiert werden !' herauszugeben. - Und dann noch blöde zu grinsen.", setzte sie hinzu.

„Also, das ist doch ganz einfach. Sie wissen doch," Sculder senkte bedeutungsvoll die Stimme, „EXPERTEN haben herausgefunden, daß Berlin mit dem Bau der Kanzler-U-Bahn Geld verdienen kann." „Ich wußte es, Sie sind krank. Wo habe ich denn nur die Aspirin ... ?"

Sculder ließ sich davon nicht beeindrucken. „Bei der U5 haben die genannten Experten ermittelt, daß jede ausgegebene Mark 1,70 Nutzen ergibt. Das heißt für jede Mark, die in diesem Champignon-Tunnel vergraben wird, bekomme ich 1,70 zurück. Also habe ich einen Gewinn von 70 Pfennig gemacht."

„Oder ob bei diesen Beschwerden Neo-Angin hilft ?" Mully kramte angestrengt in ihrer Handtasche, holte Pillenschächtelchen hervor und studierte eifrig Bei Packzettel. Als sie bemerkte, daß Sculder schwieg, meinte sie nur: „Aber sprechen sie doch weiter, sehr interessant, ja genau ..."

Sculder nickte. „Ja, ich finde das auch faszinierend. Also, ich habe mir überlegt: Berlin erwartet im Haushalt 2001 ein Defizit von sieben Milliarden Mark. Wie oft passen 70 Pfennige in sieben Milliarden, Mully ? Mully !"

Mully unterbrach ihre Medikamentensuche und sah Sculder an: „Hier ist Imodium akut, das hilft zumindest bei Verdauungsstörungen. 3 mal 1 Tablette, und es geht ihnen vielleicht besser. Was? Ach so, ich glaube 10 Milliarden mal."

„Genau, also wenn ich 2001 10 Milliarden Mark in den U-Bahnbau investiere, dann bekomme ich 17 Milliarden zurück. Damit sind die Baukosten und das gesamte Haushaltsdefizit Berlins gedeckt."

Mully wurde bleich, und begann wieder in ihrer Tasche zu kramen. Dabei murmelte sie unverständlich vor sich hin. „Total verrückt", „Nervenzusammenbruch", „Ob Gummibärchen helfen?" und „Braucht Urlaub" war das einzige, was Sculder verstehen konnte.

Unbeirrt sprach er weiter. „Wenn wir das fortschreiben, dann hat Berlin seine eigene Gelddruckmaschine in Form von Schildvortriebsmaschinen und Spundwänden entdeckt. Nie wieder soziale Einrichtungen schließen, begreifen Sie? Wenn Geld gebraucht wird, bauen wir einfach eine neue U-Bahn! - Also, ich hab' da schon ein paar Pläne gezeichnet..."

Mit einem Wisch fegte er den ausgebreiteten Inhalt von Mullys Handtasche vom Tisch und entrollte eine Berlin-Karte. Das heißt: es war mal eine Berlin-Karte. Aber der Stadtgrundriß war unter einem Gewirr bunter Linien verschwunden, die - einem Schnittmuster gleich - kreuz und quer über die Karte liefen.

„Um zehn Milliarden zu verbauen, brauchen wir jährlich etwa 30 km Neubaustrecke. Also, neben U3, U10, U11 - die sind ja alt - habe ich da einige gute neue Ideen. Zunächst die U72 von Zwickauer Damm nach Rummelsburg, Wilhelmstrand. Dann die U53 von Frankfurter Tor nach Rathaus Weißensee. Die U87 von Lübars nach Gatow, Luftwaffenmuseum ..."

Sculder redete sich völlig in Rage. Er bekam nicht mehr mit, daß Mully den Notruf wählte. Auch als die sehr, sehr freundlichen Männer kamen und Mulder eine weiße Jacke mit sehr, sehr langen Ärmeln anzogen, die sie anschließend auf dem Rücken zusammenknoteten, hörte er nicht auf zu reden. „Und 2002 lassen wir uns dann was neues einfallen. Zum Beispiel die Wannsee-U-Bahn U71 Gatow-Strandbad Wannsee-Thielplatz. Und ebenfalls wichtig: Die U118 Malchow, Dorfstraße nach Lindauer Allee (West) mit direkter Anbindung an die U64." Er hörte auch nicht auf zu sprechen, als die Sanitäter ihn heraustrugen. „Eine wie ich finde ganz besonders wichtige Verbindung für den ÖPNV im Herzen unserer Stadt..."

Durch die geschlossene Tür klangen Stimme und Tonfall sehr nach Diepgen. Mully weinte.

IGEB

aus SIGNAL 4-05/2000 (Juni/Juli 2000), Seite 11