Berlin
Bus- und Bahnfahren wird immer lustiger
1. Mai 2003
Angesichts der paradiesischen Zustände, in denen wir bisher schon lebten und reisten, möchte man es kaum für möglich halten, doch: Das Bahnfahren wird noch schöner, und das nicht nur, weil Bahnchef Mehdorns Anwälte jetzt festgestellt haben, wie wunderbar, leicht verständlich, kundenfreundlich und vor allem unglaublich günstig (doch, doch, gemeint ist tatsächlich: günstig für die Kunden) das neue Tarifsystem der DB AG ist.
Auch die Drohung, demnächst bei ungünstiger Wetterprognose den Bahnverkehr womöglich ganz einzustellen, wenn die Beförderungsfälle und die Presse weiter herummaulen, bloß weil mal ein paar Dutzend Züge liegen bleiben und unter anderem wegen der weitgehenden Wegrationalisierung der Dieselloks auch nicht mehr weggeschleppt werden können, beruht natürlich nur auf einem Kommunikationsproblem. Das undankbare Volk braucht nur zu lernen: Dies alles ist Teil des Vorhabens, das Bahnfahren noch attraktiver und aufregender zu machen - neudeutsches Stichwort: adventure travelling. Kommt der Zug? Wann? Wer möchte da nicht mitraten!
Doch auch die BVG ist in letzter Zeit wieder eifrig um unsere Unterhaltung bemüht gewesen. Zum Beispiel indem sie auf dem U-Bahnhof Kurfürsten dämm erst schönen neuen, teuren Steinfußboden verlegen ließ - und dann später mal, womöglich irgendwann, die schmuddelige, von Spachtelspuren übersäte Decke streichen wird. Auch keinen geringen Schabernackfaktor besitzt der Dauerbrenner „Zweite Ausgänge", die am allerdringendsten natürlich auf der unglaublich stark frequentierten U 4 gebaut werden müssen. Wobei dort dank des neuen zweiten Ausgangs am Rathaus Schöneberg ohnehin nur noch höchstens vier Wagen lange Züge fahren können. Mehr Fluchtwege bei verminderter Kapazität - eine echte BVG-Idee!
Allerdings kann man diese auch der Macht der Presse zuschreiben, welche seit dem Brand an der Deutschen Oper unbestechlich ihren Finger immer wieder in diese offene Wunde legt - und glücklicherweise nicht darüber schreibt, wie das Problem möglicherweise verqualmter Ausgänge sich auch auf jenen Stationen stellt, bei denen alle Treppen in ein gemeinsames Zwischengeschoß führen - woraus sich die schlappe Anzahl von rund vierzig „nachzurüstenden" Bahnhöfen ergäbe. Glücklicherweise ruft keiner der kritischen Journalisten mal bei der Feuerwehr an, um sich dies bestätigen zu lassen, sie sind schon mit den Häppchen, welche ihnen die BVG hinwirft - pressewirksames Buddeln am Viktoria-Luise-Platz, ein neuer Ausgang am Innsbrucker Platz, irgendwann kommt vielleicht auch noch Deutsche Oper dran oder gar Jungfernheide (was ist eigentlich mit dem untersten Bahnsteig am Nollendorfplatz?) - vollauf zufrieden.
Ebenso brav plapperte ja auch schon knapp zwei Wochen nach dem genialen Namenswechsel manch sich unabhängig und kritisch wähnendes Blatt nur noch vom „Hauptbahnhof". Dabei ist diese Umbenennung des Lehrter Bahnhofs nur der erste Schritt in einem brillanten Plan: Erst erklären Mehdorn und Strieder eine Station in the middle of nowhere zum Hauptbahnhof. Dann wird Schritt für Schritt dessen Anbindung an das Nahverkehrsnetz auf das absolute Mindestmaß reduziert: U 5 gestrichen, Pläne für neue Straßenbahn-Strecken gekippt, Verbindung mit den südlichen Vorortstrecken der S-Bahn sowieso, und nun soll womöglich nicht mal mehr der Nordast der fabulösen S 21, der den direkten Weg zum und vom Ring und den nördlichen Vorortstrecken gebracht hätte, gebaut werden. Doch wer glaubt, damit gäben sich die Strategen bei der Bahn AG schon zufrieden, kennt diese schlecht. Nun kommt erst noch die Vollendung dieses Streichs: Ist der „Hauptbahnhof" von Berlin - Hauptstadt der BRD erst einmal fertig, werden kaum mehr Fernzüge auf dem bisherigen, sehr viel besser angebundenen Quasi-Hauptbahnhof zumindest der westlichen Bezirke halten - schließlich soll der „größte Kreuzungsbahnhof Europas" ja auch von irgend jemandem benutzt werden. Und erst recht gilt dies für den milliardenschweren Tunnel, von dem manche der Meinung waren, Berlin hätte auch ganz gut ohne ihn weiterleben können. Also adieu Bahnhof Zoo, mit Deinem schillernden Image, adieu Du einziger Berliner Fernbahnhalt, der von seiner Einbindung ins Nah Verkehrsnetz und seiner Umgebung her die Erwartungen an einen Hauptbahnhof erfüllt. Künftig schleppen wir gern unsere Koffer bis zur Invalidenstraße, um dann dort in der Ödnis nahe dem Leichenschauhaus auf jenen einzigen, speisewagenlosen Nichtraucherzug zu warten, den wir mit unserer Fahrkarte benutzen dürfen - Donnerwetter, wird es da auf den Autobahnen von und nach Berlin leer werden, denn welcher Kfz-Fetischist würde bei solchen Aussichten nicht begeistert seinen Wagen stehen lassen?
Zumal ja jetzt, dank des neuen Tarifsystems, das Bahnfahren so unglaublich billig geworden ist, insbesondere für Stammkunden und Vielfahrer. Weshalb das Konzept, nach seinem überwältigenden Erfolg bei der „großen" Bahn, auf den Nahverkehr übertragen gehört, schließlich hat auch die BVG auf eine möglichst gleichmäßige Auslastung ihrer Kapazitäten zu achten - bekanntlich stehen am Vor- und frühen Nachmittag sowie abends viele ihrer teuren Wagen ungenutzt herum, derweil sich zu anderen Zeiten die Kunden drängeln. Also: Hinfort mit jener unzeitgemäßen Flexibilität, wo einfach jeder fahren konnte, wann er wollte und sich dafür auch noch kurzfristig entscheiden durfte! Künftig sollte auch die BVG nur noch Fahrkarten verkaufen, die ausschließlich für bestimmte Züge und Busse gelten.
Zumal es wie bei der DB AG nicht allzu viel macht, wenn man nicht zur angekündigten Abfahrtszeit zur Stelle ist - mit der Pünktlichkeit ist es ja bei der BVG ganz ähnlich bestellt wie bei der „großen" Bahn. Und mancher Bus kommt, dank des neuen, wiederum genialen Systems des Fahrereinsatzes, gar nicht mehr. Auch auf stark frequentierten Linien. Oder gleich allen Linien, die über einen großen Straßenzug verkehren. Zur Hauptverkehrszeit am Freitagnachmittag.
Anspruch auf einen Ersatz, wenn der Zug oder der Wagen, für den der Fahrschein einzig und allein galt, wegen höherer Gewalt (und es steckt immer höhere Gewalt dahinter) ausgefallen ist, kann aber natürlich nicht gewährt werden. Doch sicher dürfte es sehr kulante Regelungen geben - hätten Sie beispielsweise Interesse an einer Unterhose?
Ein wenig Anpassungsbereitschaft werden die Verkehrsunternehmen ja wohl von ihren Kunden erwarten dürfte. Sie möchten gern weiterhin kurz nach sieben losfahren, weil Sie um acht zu arbeiten beginnen? Jaja, aber zu diesem Zeitpunkt wollen natürlich viele fahren. Kaufen Sie doch einfach ein Billet für einen Zug oder einen Bus um fünf Uhr und machen Sie sich noch zwei gemütliche Stunden an ihrem Arbeitsplatz, bevor der Streß losgeht. Denn wenn Sie den Fahrkarten kauf 273 Tage im voraus tätigen, geschieden sind, drei Kinder besitzen und im Laufe des letzten halben Jahres keine Erkältung hatten, nun dann könnte ihnen die BVG einen Rabatt von bis zu 32,4 Prozent gewähren - allerdings nur, wenn Sie bei der Benutzung des Zuges keinen Hut tragen, nicht mehr als eine Tasche dabei haben und eine Körpergröße von maximal 1,80 Meter aufweisen. Und wenn Sie dann noch mindestens drei Mitfahrer finden, die wenigstens drei Viertel der Strecke mit Ihnen gemeinsam zurücklegen, vergrößert sich der Rabatt um zwei Sechstel. Sie sehen: Auch bei der BVG wäre das neue Preissystem ganz auf Ihre individuellen Bedürfnisse abgestimmt und dennoch sooo einfach zu verstehen und nachzuvollziehen. So wird der Berliner Nahverkehr unglaublich effizient und vor allem kundenfreundlich und preiswert werden. Und sollten irgendwelche unverbesserlichen Miesmacher nicht dieser Meinung sein, dann gibt es ja immer noch die Anwälte von Hartmut Mehdorn.
Jan Gympel
aus SIGNAL 2/2003 (April/Mai 2003), Seite 15-16