Berlin
Der gute Ruf der S-Bahn ist angeschlagen
1. Mai 2003
Die Klagen über die Berliner S-Bahn häufen sich in letzter Zeit. Die Erfolge beim Wiederaufbau des Streckennetzes und der Erneuerung des Fahrzeugparks können die Mängel im täglichen Betrieb nicht überdecken.
Seit neun Monaten hat Berlin wieder einen richtigen S-Bahn-Ring - und die S-Bahn Berlin GmbH viele betriebliche Probleme. Trauriger Höhepunkt der Störungsbilanz waren zwei Totalausfälle des Vollringbetriebes innerhalb von nur vier Wochen. Im Dezember 2002 sorgte ein in der nächtlichen Betriebspause entgleister Zug im Bahnhof Neukölln für ein Chaos bis in die Mittagszeit.
Im Januar 2003 zeigte ein Stromausfall im Stellwerk Westkreuz, dass keine Rückfallebene verfügbar ist. Der komplette Ring stand still. Der regelmäßige S-Bahn-Fahrgast weiß, dass es sich hierbei nur um die spektakuläre Spitze des Eisberges handelt. Besonders auf dem Ring und der betrieblich zugehörigen Görlitzer Bahn nach Schöneweide sind Verspätungen und Zugausfälle an der Tagesordnung. Grundlegende schnelle Änderungen sind nicht in Sicht, da der Ring zahlreiche Infrastrukturmängel aufweist. So fehlen Bahnhöfe mit einer dritten Bahnsteigkante und aus beiden Richtungen anfahrbare Kehrgleise, um auf Störungen besser reagieren zu können.
Dauerärgernis auf dem Südring ist der ungerade Takt von Neukölln nach Ostkreuz. Fahrplanmäßige Abstände von 14 Minuten zwischen den Zügen sind sehr ärgerlich. Wartezeiten von mehr als zehn Minuten sind auf der wichtigen Ringbahn nicht zumutbar.
Der lange und zeitweise harte Winter bereitete unerwartet viele Probleme. Zugverspätungen und unbeheizte Züge ließen so manchen Fahrgast frieren. Dafür brachten Türstörungen die Fahrgäste ins Schwitzen. In der Kundenzeitschrift der S-Bahn entschuldigt man sich: „Leider reagiert das Material bei Extremverhältnissen von unter minus 10 Grad anders als normal." Offensichtlich bleibt den Fahrgästen nur die Hoffnung, dass die nächsten Winter nicht wieder so kalt werden.
Demgegenüber hat der Fahrgast bei gutem Wetter den Eindruck, dass die Züge bummeln, wo sie nur können. Geringe Geschwindigkeiten zwischen den Stationen und unendlich scheinende Bahnhofsaufenthalte strapazieren die Nerven des eiligen Fahrgastes. Doch ein Blick in den Fahrplan zeigt: alles nach Plan. Ohne Betriebsstörung ist viel „Luft" im Fahrplan. Aber während einer Störung ist es zu wenig.
Unabhängig vom Wetter ist die Sicht aus den Fahrzeugen getrübt. Die meisten Fensterscheiben sind durch Vandalismus derart zerkratzt, dass ein ungestörter Blick auf die Umgebung nicht mehr möglich ist. Nicht besser ist es bei der U-Bahn. So bleibt derzeit offensichtlich nur die Hoffnung, dass Fahrzeughersteller und Verkehrsbetriebe intensiv an Gegenmaßnahmen arbeiten. Aus Fahrgastsicht sind Lösungen hier wichtiger als der Einbau einer Klimaanlage, der immer wieder diskutiert wird. Aber kurzfristig bleibt offensichtlich nur die Freude, dass die S-Bahn den Ausblick künftig nicht mehr zusätzlich durch großflächige Werbung auf den Fensterscheiben beeinträchtigen will.
Ein anderes Ärgernis: Auf der Stadtbahn herrscht am frühen Abend in einigen Zügen drangvolle Enge, weil die S-Bahn bereits vor Ladenschluss die Halfte der Wagen abhängt.
Kaum ein Tag vergeht, an dem der Regelfahrplan nicht durch Baumaßnahmen massiv beeinträchtigt wird. Pendel-, Schienenersatzverkehre und langfristige Streckensperrungen machten jede spontane S-Bahn-Fahrt zum Roulettespiel. Mit den (unentbehrlichen) regelmäßigen Bauinfos könnte man schon nach kurzer Zeit ein ganzes Zimmer tapezieren. Unvorhergesehene Weichen- und Signalstörungen verschärfen die Situation zusätzlich.
Der Berliner Fahrgastverband IGEB forderte als Alternative zu monatelangen Pendelverkehren eine Verkürzung der Bauzeiten durch Komplettsperrungen. S-Bahn und DB Netz AG griffen den Gedanken auf, verkürzten die Bauzeiten aber nicht in allen Fällen auf ein kundenverträgliches Maß. Jüngstes Beispiel war die Sperrung der Wannseebahn zwischen Zehlendorf und Wannsee. Bei einer so langen und so langfristig vorbereiteten Baumaßnahme hat kein Fahrgast Verständnis, wenn die Sperrung plötzlich um zwei Monate verlängert wird und damit außerdem ein mit den anderen Verkehrsbetrieben abgestimmter gemeinsamer Fahrplanwechsel-Termin „platzt". Allein im Berliner Stadtgebiet gab es somit von Mitte Dezember bis Ende Februar drei Fahrplanwechsel.
Zum „Knüller" scheint sich der Nord-Süd-S-Tunnel zu entwickeln: Nach zwei Vollsperrungen über mehrere Monate sind immer noch nicht alle Bauarbeiten erledigt und für 2004 ist die dritte Vollsperrung bereits angedroht. Geregelte Anschlussbeziehungen zu anderen Verkehrsmitteln lassen sich unter solchen Bedingungen nicht aufbauen.
Im Gegensatz dazu kommt der Ausbau der Bahnhofsinfrastruktur langsam voran. Das Anfang 2002 von der DB angekündigte Programm zum Einbau neuer Zugänge und Aufzüge an Bahnhöfen für das Jahr 2002 war offenbar zu ehrgeizig. Nur ein Bruchteil dessen wurde verwirklicht. Und auf neue (alte) Bahnhöfe zu hoffen, hat der Fahrgast fast schon aufgegeben, zum Beispiel Kolonnenstraße und Buch Süd. Auch die bereits modernisierten Bahnhöfe zeigen Mängel: Am Hackeschen Markt müssen Fahrgäste durch Pfützen waten, die sich am Fuß der Treppe bilden und im Bahnhof Jannowitzbrücke tropft es von der Decke. Defekte Fahrtreppen und unzuverlässige Aufzüge tun ein Übriges.
Von immer mehr S-Bahnsteigen wird das dort stationierte Personal abgezogen. Auch wenn die eingesparten Mitarbeiter den Fahrgästen in neueröffneten Fahrkartenausgaben und Kundenzentren zur Verfügung stehen, so können sie doch eine Bahnsteigaufsicht nicht ersetzen. Wo bekommt man im Bedarfsfall persönliche Hilfe und Beratung?
Doch auch die auf den meisten Bahnhöfen (noch) vorhandenen Aufsichten und die Triebfahrzeugführer in den Zügen wissen bei Störungen manchmal nicht, wie es weitergeht, weil der Fahrdienstleiter keine Zeit oder Möglichkeit hat, die Mitarbeiter und die Kunden zu informieren. Hier wäre ein guter Informationsmanager im Störungsfall hilfreich. Es kann nicht sein, dass Fahrgäste in einem Zug eine halbe Stunde ohne Informationen eingeschlossen sind.
Aber nicht nur bei Betriebsstörungen muss die Kundeninformation verbessert werden. Die Fahrtzielanzeigen für Züge auf dem Ring sind oft verwirrend und nicht eindeutig. Überall im Netz wird an Startbahnhöfen die sinnvolle Anzeige „Zug fährt zuerst" viel zu selten benutzt. Manchmal sind Anzeiger auch über Monate außer Betrieb und der Fahrgast muss den halben Bahnsteig entlang laufen, um den anderen Anzeiger lesen zu können. Aber auch wenn die Technik nicht versagt, ist die Beschilderung der Züge interpretationsfähig. Gerade auf dem Ring erschließt sich dem Gelegenheitsfahrgast nicht, wohin die Züge fahren. Ist „Gesundbrunnen/Ring" ein Bahnhofsname wie „Wittenau (Nordbahn)"? Komme ich mit einem Zug „Richtung Neukölln" auch bis Westkreuz?
Möchte man sich am Automaten auf dem Bahnsteig eine Fahrkarte kaufen, so gibt es wieder einige Fallstricke zu umgehen. Welche Fahrkarte ist die richtige? Innerhalb Berlins ist das zum Glück noch recht einfach. Aber wenn es ins Brandenburgische gehen soll, wird es schon kompliziert.
Gibt der Automat Wechselgeld oder nimmt er heute keine Banknoten? Ist die Anzeige kaum lesbar, weil die Sonne direkt auf den Bildschirm scheint oder liest man nur „Automat wird heruntergefahren"? Ist der ganze Automat defekt, wenn im Kartenleser-Display „Spanungsabfall - Außer Betrieb" leuchtet? Und wieso kann man an dem einen Automatentyp nur Zeitkarten aber keine Einzelkarten kaufen? Hoffentlich ist in diesem Fall eine geöffnete Fahrkartenausgabe in der Nähe.
Wartet man nun auf dem Bahnsteig auf den Zug, so ist die Windrichtung zu beachten, denn es wird viel geraucht. Deshalb sollte das Rauchverbot für unterirdische S-Bahnhöfe bzw. für alle U-Bahnhöfe der BVG auch auf alle S-Bahnhöfe ausgeweitet werden. Allerdings sollten auf den oberirdischen S-Bahnhöfen - um die rauchende Kundschaft nicht völlig zu verschrecken - kleine „Raucherinseln" eingerichtet werden. Für bessere Luft und weniger Dreck auf dem Bahnsteig.
Das gute Image der Berliner S-Bahn droht angeschlagen zu werden, auch wenn die S-Bahn Berlin GmbH nicht für alle Mängel verantwortlich ist. Aber dem „normalen" Fahrgast ist die DB-interne Zuständigkeitenregelung herzlich egal. Ihn interessiert nicht, dass die Gleise zu DB Netz AG gehören, für die Beschilderung auf den Bahnsteigen meist DB Station & Service AG, manchmal aber auch die S-Bahn GmbH selber zuständig ist.
Dass die schmalbrüstige Infrastruktur auf dem Ring auf verfehltes Sparen von DB Netz AG, Eisenbahn-Bundesamt und Bundesverkehrsministerium zurückgeht. Dass für die häufigen Stellwerksprobleme DB Netz AG und ein großer Elektrokonzern verantwortlich sind. Dass die S-Bahn GmbH für ungeheizte Wagen und defekte Türen verantwortlich zeichnet. Dass das unzureichende und manchmal sogar fehlerhafte Wegeleitsystem auf den Bahnhöfen DB Station & Service zu verantworten hat. Dass die langen Fahrzeugstandzeiten auf den Bahnhöfen vom luftig gestrickten Fahrplan der S-Bahn GmbH kommen. Dass Baumaßnahmen zu lange dauern, weil DB Netz bei der Planung icht kundenfreundlich gedacht hat. Dass die Kundeninformation immer noch gravierende Mängel aufweist, weil die Bediensteten der S-Bahn im Störungsfall mit betrieblichen Dingen ausgelastet sind und keine Zeit (oder Lust?) für eine Lautsprecherdurchsage haben. Dass verspätete Züge vorzeitig enden, weil die S-Bahn GmbH am Endbahnhof keine Pufferzeit vorgesehen hat.
Die Prügel und den Ärger bezieht immer das Unternehmen mit dem direkten Kundenkontakt, nämlich die S-Bahn Berlin GmbH. So verschlechtertsich ihr in den letzten Jahren erfolgreich aufpolierter Ruf.
Die merklichen Verbesserungen und Bemühungen seit den 90er Jahren sind auf jeden Fall zu würdigen, und im Vergleich zu anderen S-Bahn-Systemen - zum Beispiel in München - haben die Berliner ein recht gutes System mit einem relativ verlässlichen Betrieb. Aber es ist noch nicht gut genug. Hier sind alle Verantwortlichen gemeinsam gefordert - zum Nutzen der Fahrgäste.
IGEB S-Bahn und Regionalverkehr
aus SIGNAL 2/2003 (April/Mai 2003), Seite 23-25