Berlin
Streit um den Bahnhof Charlottenburg
1. Mai 2003
Zwischen den Bahnhöfen Zoologischer Garten und Charlottenburg fahren seit 24. Februar 2003 bis mindestens 13. Dezember 2003 keine S-Bahn-Züge. Es handelt sich hier um den letzten Abschnitt der Stadtbahn, der noch nicht saniert ist. Der nicht zur klassischen Stadtbahn gehörende Abschnitt Ostbahnhof - Ostkreuz ist ab 2004 dran.
Die Sperrung hat weitreichende Auswirkungen auf das S-Bahn-Angebot. Von Osten kommend fährt die S 3 nur noch bis Ostbahnhof, die S5 endet in Friedrichstraße (abends Zoo), die S 7, S 75 und S 9 enden im Bahnhof Zoologischer Garten. Somit besteht bis Bahnhof Zoo immer noch ein 5-Minuten-Takt. Von Westen fahren die S-Bahnen bis Charlottenburg (alle zehn Minuten von Wannsee und alle zehn Minuten von Spandau). Um den Verkehr bis Charlottenburg während der Bauarbeiten aufrecht erhalten zu können, wurde ein drittes S-Bahn-Gleis zwischen Charlottenburg und Westkreuz gebaut, denn die Sanierung schließt die Strecke bis inklusive Westkreuz (unten) ein.
Für die Umfahrung der Baustelle wurde die BVG-Expressbus-Linie X 49 auf der Kantstraße zum Bahnhof Zoo verlängert. Dieses geht auf einen Vorschlag der IGEB zurück. Außerdem stehen die regulären Buslinien X 34 und 149 zur Verfügung, die zudem auch den Bahnhof Heerstraße anbinden. Den Einsatz einer weiteren Buslinie im Schienen-Ersatzverkehr (SEV), die direkt vor dem Bahnhofsgebäude am Bahnhof Charlottenburg abfährt, hat sich die S-Bahn aber nicht nehmen lassen.
Vom ersten Tag an zeigte sich, dass die weiträumigen Umfahrungsempfehlungen der S-Bahn gefruchtet haben. Es sind jedenfalls weniger Fahrgäste im SEV anzutreffen als erwartet. Von den fünf über die Stadbahn verkehrenden Regionalexpresslinien - sie sind von der Sperrung nicht betroffen - halten RE 1 und RE 3 während der Bauarbeiten am Bahnhof Charlottenburg und machen so die „dichte Umfahrung" möglich. Es wäre sicher sinnvoll gewesen, alle fünf RE-Linien in Charlottenburg halten zu lassen, aber der Kompromiss mit zwei Linien muss als Erfolg gewertet werden.
Zusätzlich fährt montags bis freitags in der Hauptverkehrszeit jeder zweite Zug der RB 10 (Nauen - Spandau - Charlottenburg) bis nach Friedrichstraße. Hier fährt der Zug bereits drei Minuten später wieder zurück (DB-Regio-Chef Friedrich: „Press-Technologie"). Verspätungen können so nicht aufgefangen werden. In den ersten Wochen erwies sich diese gut gedachte Idee leider als äußerst instabil. Die RB 10 ist fast immer verspätet. Wenn sich die Lage nicht stabilisiert, ist zu befürchten, dass DB Regio die Züge wieder in Charlottenburg oder gar in Spandau enden lässt (siehe Artikel auf Seite 14 in diesem Heft). Das wäre für die von der Stadtbahn abgehängten Fahrgäste aus Brieselang, Finkenkrug, Seegefeld und Albrechtshof besonders bitter. Nach IGEB-Beobachtungen werden die RB 10-Verspätungen nur selten in Berlin „eingefahren" werden, sondern hauptsächlich im Havelland, wo in Falkensee gebaut wird.
Die S 1 steht seit der Wiederinbetriebnahme der Wannseebahn am 17. Februar 2003 auch wieder als Umfahrung zur Verfügung und verkehrt statt der S 7 nach Potsdam - ursprünglich auch ein IGEB-Vorschlag. Aufgrund der bei der Wannseebahn aufgetretenen Bauverzögerung war der Baubeginn für die Stadtbahn um eineinhalb Monate verschoben worden, damit die Betriebswerkstatt Wannsee nicht vom Netz abgehängt wird.
Mit Informationen zum „Großereignis Stadtbahnsperrung hat die S-Bahn richtigerweise nicht gespart. Ein neues kostenloses Fahrplanheft, angepasste Netzspinnen, Info-Broschüren, ausführliche Berichte in der Kundenzeitschrift Punkt 3 sowie Berichte in Tageszeitungen, im Radio und Fernsehen haben sicher viele Fahrgäste erreicht. Rote Hinweistafeln neben den Zugzielanzeigern auf den Stadtbahnhöfen fallen sofort ins Auge. Ansagen in den Zügen, zum Beispiel vor dem Erreichen der Bahnhöfe Westkreuz oder Baumschulenweg weisen auf die Umfahrungsmöglichkeit über die Ringbahn bzw. Wannseebahn hin. Selbst im ICE werden die in Berlin eintreffenden Reisenden „vorgewarnt".
Der Fußweg vom S-Bahnsteig Zoo zur Ersatzbus-Haltestelle auf dem Hardenbergplatz wurde mit grünen aufgeklebten Fußstapfen auf dem Fußboden markiert und sogar in Deutsch und Englisch beschriftet. Die sonst eher als muffelig und wortkarg bekannten Busfahrer der SEV-Linie sagen persönlich die Haltestellen an! Und sie halten auch an den Haltestellen der regulären Expressbusse. Auch dieses geht auf eine IGEB-Anregung zurück.
Es wurden am Bahnhof Zoologischer Garten Busabfahrtsstellen der BVG-Linien verschoben, um eine gemeinsame Haltestelle für alle Linien und den SEV Richtung Charlottenburg einzurichten. Die BVG-Busse sind mit Aufklebern neben der Tür versehen, die sie als geeignet für den S-Bahn-Ersatzverkehr kennzeichnen. In Bussen aus Spandau kommt vor dem Erreichen des Bahnhofes Heerstraße eine automatische Ansage, die die Fahrgaste an den unterbrochenen S-Bahn-Verkehr erinnert. Auf den Daisy-Anzeigern der U-Bahn wird auf die Sperrung hingewiesen. Die Information ist erfreulicherweise also „betreiberübergreifend".
Der Fahrgast merkt, dass die Verkehrsunternehmen versuchen, bestmöglich über die Sperrung zu informieren. Diese Richtung muss auch in Zukunft weiter verfolgt werden!
Leider gibt es Kritikpunkte: Die Anzeige „Zug fährt zuerst" wird in Charlottenburg, Zoologischer Garten und Friedrichstraße nicht bedient, wenn zwei Züge in dieselbe Richtung am Bahnsteig stehen. Die Empfangshalle der S-Bahn im Bahnhof Zoo ist von den SEV-Infos komplett ausgespart worden. Nicht ein Schild weist auf die Sperrung und die Bushaltestellen hin. Hier gibt es nach Erfahrungen der IGEB immer verwirrte Fahrgäste (insbesondere Touristen). Deshalb sollten unbedingt auffällige Schilder angebracht und Service-Personal stationiert werden. Am Bahnhof Charlottenburg gibt es zwei unterschiedliche Abfahrt-Haltestellen für die Busse zum Zoo. Der SEV fährt am Stuttgarter Platz direkt vor dem Empfangsgebäude ab, die BVG-Linien halten in der Kantstraße, weil die regulären Linien keinen Umweg über den Stuttgarter Platz fahren sollen.
Die ganze Baustelle soll bis 2006 abgeschlossen sein. Die für die Fahrgäste wichtigste Maßnahme ist die Verlegung der beiden S-Bahnsteige in Charlottenburg. Sie rücken bedeutend näher an die U-Bahnhof Wilmersdorfer Straße heran und somit verkürzt sich der Umsteigeweg von 270 auf 80 Meter. Das ist natürlich auch für das Erreichen der Einkaufsstraße Wilmersdorfer Straße günstig. Durch die Verschiebung besteht außerdem die Möglichkeit, die alten Bahnsteige bis zur Inbetriebnahme der neuen anzufahren. Andernfalls hätten die alten Bahnsteige mit Einschränkungen für den Betrieb aufwändig saniert werden müssen. Dennoch sperrten sich Anwohner des Stuttgarter Platzes lange gegen die Baumaßnahmen. Zuletzt wurde allerdings fast nur noch um die Größe des Neubaus gestritten. Die S-Bahn Berlin GmbH hat aufgrund ihres Betriebskonzeptes darauf bestanden, dass auch der verschobene S-Bahnhof vier Bahnsteigkanten hat. Die Bürgerinitiative verwies auf den Vorteil, dass ein Neubau mit nur zwei Bahnsteigkanten näher an den U-Bahnhof Wilmersdorfer Straße hätte herangerückt werden können.
Der heutige Hauptzugang am Empfangsgebäude bleibt bestehen und bekommt Treppen in Richtung Osten. Diese münden jeweils auf einen Steg zwischen den Gleisen und dieser auf den Bahnsteig, der über der Lewishamstraße beginnt (siehe Zeichnung links). Am östlichen Ende des neuen Bahnsteiges gibt es einen Tunnel, von dem man aus einem Rondell per fester Treppe, Fahrtreppe und Aufzug zu den beiden Bahnsteigen gelangt. Leider wird der Tunnel nicht nach Süden zur Gervinusstraße verlängert, obwohl die IGEB dieses im Planfeststellungsverfahren zugunsten kürzerer Zugangswege gefordert hatte. Im Zugang sind auch keine Räume für eine Fahrkartenausgabe berücksichtigt.
Der heutige westliche Zugang an der Windscheidstraße wird unter der S-Bahn-Trasse leider abgebrochen und bleibt voraussichtlich nur zwischen den beiden Regionalbahnsteigen, die nicht verändert werden, als Verbindung bestehen. Der Fortfall ist ein Verlust, da nach Angaben der Senatsverkehrsverwaltung bisher etwa 500 Fahrgäste täglich den Regionalbahnsteig über den Zugang Windscheidstraße betreten.
Die neuen Bahnsteige mit vier Kanten haben eine Nutzlänge von 152,5 Metern und eine Breite von etwa 10 Metern. Bahnsteig D (nördlicher Bahnsteig, Fahrtrichtung Westen) bekommt ein Aufsichtshäuschen. Beide Bahnsteige werden vom östlichen Zugang her 87 Meter überdacht. Somit sind 65 Meter ohne Dach. Hier hatte die IGEB im Planfeststellungsverfahren eine Komplettüberdachung gefordert, die abgelehnt wurde. Damit müssen zum Beispiel die Umsteiger vom Regionalverkehr und vom Flughafenbus 109 vermeidbare Wege durch den Regen laufen. Einen neuen Bahnhof mit etwa 48.000 Fahrgästen pro Tag nicht vollständig zu überdachen, ist Fahrgastpolitik von vorgestern.
Nach dem Ende der Totalsperrung wird der S-Bahn-Verkehr eingleisig zwischen Charlottenburg und Zoo aufgenommen (bis voraussichtlich April 2004). Die Inbetriebnahme des neuen Bahnsteiges D (nördlich) ist Ende 2004 geplant, am neuen Bahnsteig C (südlich) soll Ende 2005 der erste Zug halten. Die alten S-Bahnsteige werden dann abgebrochen.
Die Sanierung umfasst auch den Bahnhof Westkreuz (unten). Hier werden beide Bahnsteige wegen schlechter Gründung abgerissen und erneuert (unter „rollendem Rad"). Die Dachstützen werden aus Denkmalschutzgründen wiederverwendet. Das Dach erstreckt sich dann 53 Meter östlich und 34 Meter westlich der Ringbahn-Brücke.
Die Bahnhöfe Savignyplatz und Zoologischer Garten werden baulich nicht verändert, ebenso alle Anlagen der Fern-/Regionalbahn.
Zum Einsatz kommen Betonschwellen im Schotterbett für eine Höchstgeschwindigkeit von 80 Kilometer pro Stunde und Zugsicherungstechnik für eine Folgezeit von 90 Sekunden. Das östliche Kehrgleis in Charlottenburg entfällt. Dafür gibt es eine zweigleisige Kehranlage westlich von Charlottenburg, eine eingleisige östlich von Westkreuz und eine dreigleisige westlich von Westkreuz. Hier bleibt das Mittelgleis ohne Bahnsteig erhalten. Die Eisenbahn-Brücken über Wilmersdorfer und Holtzendorffstraße werden neugebaut, die Brücke Wielandstraße wird saniert.
Das Kreuzungsbauwerk der Strecke nach Westkreuz über der alten Halenseekurve wird abgerissen und durch eine Dammschüttung ersetzt. Damit ist der Wiederaufbau des zweiten Gleises der Verbindung Charlottenburg - Halensee unmöglich geworden. Die eingleisige Verbindung bleibt wenigstens bestehen.
Künftig werden zwei Meter hohe (hässliche) Lärmschutzwände den Blick aus dem S-Bahn-Fenster aufhalten. An der nördlichen Seite erstrecken sich die Lärmschutzwände von westlich der Leibnitzstraße 1690 Meter lang bis 100 Meter westlich der Suarezstraße, an der südlichen Seite von westlich der Leibnitzstraße 1140 Meter bis westlich der Holtzendorffstraße; sicher kein schöner Anblick, weder aus dem Zug heraus noch von der Straße auf den Bahndamm hinauf. Auf die Stadtverschandelung hätte verzichtet werden können, wenn die DB sich auf ein „besonders überwachtes Gleis" eingelassen hätte. Dieses hat die DB leider aufgrund höherer laufender Pflegekosten abgelehnt.
Zwischen Bahn und Senat schwelt derzeit ein Streit, der sich als „Gau" für die ganze Bahnhofsverschiebung erweisen könnte. Als Ausgleich für die am Bahndamm bereits gefällten Bäume muss die Bahn Ersatzmaßnahmen finanzieren. Hierfür hatten sich Senat, Bezirk und Bahn auf die Neugestaltung des Stuttgarter Platzes am Empfangsgebäude geeinigt (siehe Skizze). Es soll eine gestaltete Grünanlage entstehen, ähnlich dem historischen Vorbild von vor etwa hundert Jahren. Heute befinden sich auf dem 4.300 Quadratmeter großen Bahngelände unansehnliche Lagerplätze und Baracken. Der Senat will die Fläche für 49 Euro pro Quadratmeter als Grünfläche kaufen, die Bahn verlangt einen Preis von 581 Euro als potenzielles Bauland in bester Innenstadtlage. Die Bahn hat angedroht, ohne eine Einigung über den Preis den Neubau der Bahnsteige scheitern zu lassen, denn die Umklappung wird auf Wunsch des Landes Berlin von der Bahn ausgeführt. Berlin trägt auch die Kosten anteilig dafür. Ein Scheitern wäre skandalös, denn alle Negativauswirkungen wären in Beton gegossen, während die geplanten Vorteile für die Fahrgäste entfallen. Wie hoffen sehr auf eine tragfähige und sinnvolle Einigung.
IGEB Abt. S-Bahn und Regionalverkehr
aus SIGNAL 2/2003 (April/Mai 2003), Seite 26-28